Efeu - Die Kulturrundschau

Nie stolpern. Nie niesen

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12.04.2018. In der New York Review of Books schreibt Ian Buruma über das Werk des japanischen Fotografen Daidō Moriyama. Die Filmkritiker feiern John Krasinskis "A Quiet Place" als Horrorfilm der Stunde. In der Berliner Zeitung erklärt Monika Maron, warum sie nicht rechts ist, aber trotzdem über Positionen Gaulands reden möchte. Die taz möchte weniger über den Antisemitismus der Deutschrap-Szene reden und mehr über den der Deutschen allgemein.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.04.2018 finden Sie hier

Kunst


Daidō Moriyama: Foto von 2014 aus dem Band Daidō Moriyama, Records

In der New York Review of Books nimmt Ian Buruma in einem schönen Essay einige Fotobücher zum Anlass, über die japanische Fotografie der Nachkriegszeit zu schreiben, insbesondere über den Fotografen Daidō Moriyama. Moriyama war stark von den Fotos William Kleins beeinflusst, dessen raue, ungeschönte Straßenfotografie ihn enorm beeindruckte. Aber es gab auch wesentliche Unterschiede, so Buruma: "Klein interessierte sich für Gesichter und Menschenmengen und die Art, wie die Leute ihre Körper bewegen. Moriyama - und hier war auch Warhol ein Einfluss - interessierte sich mehr für die Träume, die die Städte verkaufen: Poster, Neonschilder, Zeitungen, Kleider, Pornomagazine. Er beschrieb [die Stadt] Shinjuku 'als gigantische Bühnenkulisse, manchmal als ausgedehnte gekiga [illustrierte Geschichte, in einer ewigen Barackenstadt…. Mysteriöserweise gibt es kein Gefühl für Zeit: Vom Vergehen der Zeit, der Zeit, die jede Stadt für sich erfährt, findet man hier fast keine Spuren.' Es gab nur einen Moment, als sich laut Moriyama eine historische Zeit in Shinjuku manifestierte, und das war als 'Shinjuku strahlend radikal war, Ende der Sechziger, bei einer einzigen Gelegenheit, die dafür sorgte, dass der 21. Oktober 1968 sich in die Geschichte einschrieb. Die Zeit vor und nach diesem Datum ist vollkommen aus der Geschichte verschwunden.'"

Almuth Spiegler erzählt in der Presse wieviel Hintergrundwissen zu Egon Schiele wir der Texanerin Alessandra Comini verdanken. Die Aufnahmen ihrer Gespräche mit Schieles Schwestern auf Tonband, ihre Videos und Schilderungen der Schauplätze seines Lebens speisen die Schau "Egon Schiele privat", die derzeit in seiner Geburtstadt Tulln zu sehen ist. Einmal, so Spiegler, habe sich Comini sogar in Schieles Gefängnis in Neulengbach eingeschlichen: "Mit der Kamera um den Hals lief sie in den Keller hinunter. Und stand plötzlich in dem Gang vor den Zellen, den sie von Schieles Zeichnungen kannte, sogar Besen und Kübel standen an derselben Stelle. Auch die Zelle konnte sie anhand eingeritzter Initialen in der Tür erkennen. 'Das war der aufregendste Moment in meinem Leben', ist Comini sich bewusst. In dieser Aufregung schnappte sie sich den Klingelknopf aus der Zelle als Souvenir. Heute ist er wieder dort, wo er hingehört, mittlerweile ist auch hier eine Gedenkstätte eingerichtet."

Weiteres: Im Tagesspiegel denkt Bernhard Schulz darüber nach, welche Aufgaben den designierten Chef des Metropolitan Museums Max Hollein in New York erwarten. Im Interview mit dem Standard macht Hollein einen recht munteren Eindruck. In der NZZ sagt Manfred Clemenz schon mal voraus, dass Gustav Klimts Gemälde wegen Frauenfeindlichkeit demnächst von Museumswänden abgehängt wird. Besprochen wird die Ausstellung von William Kentridge im Frankfurter Liebighaus (Zeit).
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Bühne

50 Jahre nach 1968 erinnern Warschauer Bühnen an die antisemitische polnische Kampagne, die damals viele Juden, darunter viele Holocaustüberlebende, aus dem Land trieb. Vorwand war die Behauptung, die Juden hätten zu den Studentenprotesten aufgestachelt, erzählt Iwona Uberman in ihrem Theaterbrief aus Polen für die nachtkritik. "Für viele jüngere Polen bedeutet das eine erschütternde Aufklärung, da sie vom 'März 1968' zwar vage gehörten haben, sich aber häufig nur wenig darunter vorstellen können. Nicht nur zu sozialistischen Zeiten, auch nach Wende hatte man über dieses Kapitel der jüngsten Vergangenheit geschwiegen."

Weiteres: Der Standard porträtiert die Schauspielerin Corinna Kirchhoff, die ab Samstag an der Wiener Burg unter der Regie von Andrea Breth in Eugene O'Neills "Eines langen Tages Reise in die Nacht" spielt. Besprochen wird Vanessa Sterns "Die Umschülerinnen oder Die Komödie der unbegabten Kinder" in den Berliner Sophiensaelen (nachtkritik).
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Film


Klappe halten! In "A Quiet Place" wird selbst Popcornrascheln tödlich bestraft (Bild: Paramount)

Der US-Horrorfilm hat derzeit einen großartigen Lauf, freut sich Andreas Busche im Tagesspiegel: Letztes Jahr "Get Out", dieses Jahr "A Quiet Place" von John Krasinski, der eine fulminante postapokalyptische Prämisse mitbringt: Aliens suchen die Erde heim - doch da ihr Primärsinn der akustische ist, müssen die Menschen sich äußerst leise verhalten. "Wenn die Nation kriselt", so Busche, "ist der Horror zum Greifen nah." Auch Welt-Kritiker Hanns-Georg Rodek ist sehr angetan: Der Film "braucht seine Monster eigentlich kaum, es trieft auch so vor Angst. Nicht reden. Nichts fallen lassen. Nie stolpern. Nie niesen." Kurz: "Einer der originellsten und effektivsten Schreckensfilme seit langer Zeit, und seit Langem hat man kein so ruhiges Kino mehr erlebt." Der Regisseur schafft es "eine umgestoßene Laterne oder einen herausstehenden Nagel so bedrohlich werden zu lassen wie die lauernden Monster selbst", schließt sich Nicolas Freund in der SZ der allgemeinen Begeisterung an. Auch FAZ-Kritiker Bert Rebhandl findet den Film "großartig".

Außerdem begeistert sich die Filmkritik weiterhin für Emily Atefs "3 Tage in Quiberon" über die Entstehung des Interviews, das Romy Schneider 1981 dem Stern gegeben hat: Jenni Zylka (taz) und Martin Schwickert (ZeitOnline) haben sich mit der Regisseurin zum Gespräch getroffen. Daniel Kothenschulte (FR) und Philipp Haibach (Welt) besprechen den Film. Für die SZ hat Anke Sterneborg Hauptdarstellerin Marie Bäumer interviewt. Weiteres zum Film in unserer Kulturrundschau von gestern.

Zu sehen war Romy Schneider auch an der Seite von Horst Buchholz in "Monpti" von 1957. Dessen Regisseur Helmut Käutner widmet das Berliner Zeughaus in den kommenden Monaten eine große Retrospektive, auf die sich Peter Nau in der taz ganz besonders freut: Schließlich gilt der Filmemacher "als deutscher Flügelmann der von ihm bewunderten französischen Schule des poetischen Realismus. Die depressiven Stimmungen jener Filme, ihre Fatalitäten und Ambivalenzen steckten ihn an. Käutner erkannte sich in seinen französischen Vorbildern, indem er sie sah und dem träumerisch-halluzinativen Gang dieser Filme folgte. ... Die Osmose zwischen Gefühl und Bewusstheit, zwischen den Sondierungen überhaupt (Poesie/Realismus), tritt in den besten Filmen von Käutner lebhaft hervor." Hier Käutners "Monpti", in eher mäßiger Qualität, aber man bekommt einen Eindruck:



Weitere Artikel: In der Textreihe "10 nach 8" auf ZeitOnline begeistert sich Janne Knödler für die kontrafaktische Empowerment-Strategie, die Ryan Coogler mit seinem Blockbuster "Black Panther" verfolgt. Andreas Busche spricht im Tagesspiegel mit der Schauspielerin Rosanna Arquette über Hollywood und ihren neuen Film "Das etruskische Lächeln". Für den Tagesspiegel wirft Muhamad Abdi einen Blick ins Programm des Arabischen Filmfestivals in Berlin. Thomas Groh empfiehlt in der taz einen Berliner Kinoabend zum Thema "Menschenjagd". Hanns-Georg Rodek plaudert in der Welt mit dem Schauspieler Rupert Everett über dessen neuen Film "The Happy Prince." Andreas Conrad (Tagesspiegel), Fritz Göttler (SZ) und Claudius Seidl (FAZ) gratulieren Hardy Krüger zum 90. Geburtstag. Besprochen wird Mijke de Jongs Film "Layla M." über eine junge, sich radikalisierende Muslima (taz).
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Literatur

Die Schriftstellerin Monika Maron stellt im Gespräch mit Cornelia Geißler (Berliner Zeitung) noch einmal glasklar fest, dass sie nicht in der rechten Ecke steht: "Ich finde den Höcke furchtbar, ich finde den Poggenburg furchtbar. Aber ich finde vieles, was der Gauland im Bundestag gesagt hat, nicht falsch. Wenn er sagt, Merkels Politik habe dazu geführt, dass wir mit den Osteuropäern im Clinch liegen, weil die wegen anderer Erfahrungen auf manches anderes reagieren, dann hat er recht. Ich muss doch Grenzen ziehen zwischen Positionen, die ich absolut nicht will, und anderen, über die man reden kann."
Wenn er sagt, Merkels Politik habe dazu geführt, dass wir mit den Osteuropäern im Clinch liegen, weil die wegen anderer Erfahrungen auf manches anderes reagieren, dann hat er recht. Ich muss doch Grenzen ziehen zwischen Positionen, die ich absolut nicht will, und anderen, über die man reden kann. - Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/29996104 ©2018"

Weitere Artikel: In der FAZ bringt Andreas Platthaus Hintergründe zu dem nunmehr aufgetauchten, dritten Fragebogen mit persönlichen Geständnissen, den Marcel Proust im Alter von 15 Jahren ausgefüllt hat und der morgen in Paris versteigert werden soll. Mehr dazu auch bei Paris Match und im Fine Books Magazine.

Besprochen werden eine Neuauflage von Irene Disches "Zwischen zwei Scheiben Glück" (Tagesspiegel), Olga Martynovas Essayband "Über die Dummheit der Stunde" (SZ), Alexander Schimmelbuschs Satire "Hochdeutschland" (FAZ), Denise Minas "Blut, Salz, Wasser" (Freitag) und weitere neue Krimis, darunter Fuminori Nakamuras "Die Maske" (Freitag).
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Musik

Wer in der aktuellen Kontroverse um den Echo-Preis den Antisemitismus in den Stücken von Kollegah und Farid Bang skandalisiert, muss auch generell über Antisemitismus sprechen, mahnt Christian Werthschulte in der taz: "Von Deutschlandfunk bis Tagesspiegel herrscht Einigkeit darüber, dass die Deutschrap-Szene ein Antisemitismusproblem habe. Dabei vertreten rund 20 Prozent der Deutschen antisemitische Ansichten - der eine oder die andere DeutschrapperIn wird darunter sein. ... In der Debatte über Kollegah tritt ein Aspekt hervor, der den Diskurs über muslimischen Antisemitismus dominiert: Er gilt als Sache einer Minderheit, damit man nicht über den Antisemitismus im eigenen Umfeld reden muss." Als reine Branchenveranstaltung, bei der die Musikindustrie auf schmerzlich ununterhaltsame Weise ihre Bestseller prämiert, ist der Echo ohnehin so fade wie irrelevant, ärgert sich Jens-Christian Rabe in der SZ und erneuert Forderungen nach einer unabhängigen Jury "ohne Musikmanager".

Für die taz unterhält sich Andreas Hartmann mit Thomas Meinecke über dessen Reihe "Plattenspieler", die er seit nunmehr zehn Jahren im Berliner HAU bestreitet und für die er mit wechselnden Gästen Platten auflegt, um darüber vor Publikum zu sprechen: Im Mittelpunkt der Veranstaltung steht "die Relation zwischen Musik, Ästhetik, Mode und die darin sich zeigenden Lebensentwürfe. Mal ist das politischer, mal theorielastiger, mal ästhetischer angelegt oder vielleicht auch mal auf einer Trash-Ebene. Aber natürlich geht es schon die ganze Zeit um die Verweishölle, durch die man sich als Popist bewegt."

Weitere Artikel: Laura Oehl resümiert in der FR den Deutschen Pianistenpreis in Frankfurt. Sehr gelungen findet SZ-Kritiker Harald Eggebrecht die musikalische Untermalung, die sich Philippe Schœller für die rekonstruierte Fassung des Stummfilms "Das alte Gesetz" hat einfallen lassen.

Besprochen werden Charly Hübners Kino-Dokumentarfilm "Wildes Herz" über die Punkband Feine Sahne Fischfilet (taz), das Debüt "Invasion Of Privacy" der Rapperin Cardi B (Tagesspiegel), ein Auftritt von Elina Garanca (Standard), ein Konzert von Joan As A Woman (Tagesspiegel), Johannes Brahms' "Deutsches Requiem" unter Paavo Järvis Dirigat (FAZ, eine Aufzeichnung sendet 3sat am 22. April) und Kreiskys Comeback-Album "Blitz" (Standard). Daraus ein Video, in dem die Bandmitglieder amtlich herumpferden:

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