Efeu - Die Kulturrundschau

Was Neues, mit Tradition

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.04.2018. Der Standard staunt über den Jazz von Andrea Breths Eugene-O'Neill-Inszenierung "Eines langen Tages Reise in die Nacht" an der Burg. Die Berliner Kritiker streiten noch ein bisschen über die Volksbühne. Wie man Prozesse neu denken kann, lernt die taz in Paris von dem japanischen Architekten Junya Ishigami. Die Welt verteidigt die viel kritisierten Deutschrapper Kollegah und Farid Bang: Ist doch alles nicht so gemeint mit dem Antisemitismus und der Misogynie. Die Rechten können jetzt auch Ironie im Design, erkennt der Standard. Die Filmkritiker trauern um Milos Forman.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.04.2018 finden Sie hier

Bühne


August Diehl (Edmund Tyrone) und Alexander Fehling (James Tyrone Junior) in O'Neills "Eines langen Tages Reise in die Nacht" am Wiener Burgtheater. Foto: Bernd Uhlig

Diese Inszenierung wird Ronald Pohl nicht so schnell vergessen: An der Wiener Burg brachte Andrea Breth Eugene O'Neills "Eines langen Tages Reise in die Nacht" heraus: "Jeder hier ist Sisyphos und schleppt während der vier Akte schwer an der Familienlast", schreibt Pohl im Standard. "Theater als naturkundliche Einrichtung, irgendwo draußen am Meer. Es ist noch Zeit für den letzten 'Schuss'. Und weil die große Andrea Breth im Hochsommer ihrer Kunst der angelsächsischen Dramatik in tiefer Liebe verfallen ist, darf jeder Schauspieler die tausend Facetten seiner Figur wie im Jazz erproben. Der Tag schreitet fort, kein Konflikt sieht einer Lösung entgegen." (Weitere Besprechungen in der nachtkritik und der FAZ)

Das leitet elegant über zur Volksbühne, über die noch ein bisschen gestritten wird. Georg Diez blickt auf Spon immer noch fassungslos auf den "Scherbenhaufen", den Berliner Politiker, Kritiker und die "Götzenverehrer" Castorfs hinterlassen haben: "Es war eine nationalistische und kunstfeindliche Stimmung, die in der Stadt gegen Dercon aufgebaut wurde, genau zu der Zeit, als sich die Gesellschaft auch an anderen Stellen abschottete ... viele merkten gar nicht, wie sehr sie die falschen, weil feindbildenden Worte dieser Zeit wiederholten: Man spricht Deutsch im deutschen Theater! Man spielt Theater im deutschen Theater! Weltkulturerbe!"

In der Berliner Zeitung wünscht sich Ulrich Seidler, einer der schärfsten Kritiker Dercons, jetzt einen "konstruktiven Dialog" über den Neubeginn: "Vielleicht drehen wir das jetzt einfach mal um und fragen uns erst einmal, was wir für ein Theater haben wollen, dann, welche Bedingungen ein solches Theater benötigt und ob man hierfür an die Strukturen heran muss. Diese Debatte muss geduldig, mutig und offen geführt werden. Es wäre nicht schlecht, wenn sich Experten einmischen, aber auch Stimmen von außen. Erst ganz am Schluss wird Fingerspitzengefühl und Diskretion nötig sein, dann nämlich, wenn es um die konkrete Personalie geht."

Klaus Dörr, Interimschef der Berliner Volksbühne, findet im Interview mit der SZ kein freundliches Wort für Chris Dercon und gibt dann einen Ausblick auf die Zukunft: zusätzliche Mittel brauche die Volksbühne sowie Solidarität von befreundeten Bühnen. "Das Ziel kann sicher nicht sein, zu versuchen, die Castorf-Volksbühne zu reanimieren. Das würde nicht funktionieren. Man muss etwas Neues entwickeln. Dafür braucht man Künstler, die an die Tradition der Volksbühne anknüpfen." Kurz: Man möchte etwas Neues, aber alles soll beim Alten bleiben. Ein weiteres Gespräch mit Dörr bringen die Stuttgarter Nachrichten.


Szene aus Richard Wherlocks Choreografie "Tod in Venedig". Foto: Werner Tschan

In Basel hat Choreograf Richard Wherlock Thomas Manns Novelle "Tod in Venedig" in ein modernes "psychologisches Tanzdrama" übersetzt, freut sich in der NZZ Martina Wohlthat: "Aschenbach und sein Schattenmann tanzen raumgreifende Duette, in denen sich die anfängliche körperliche Erstarrung in pure Bewegungslust auflöst. Wenn Aschenbach zu Boden geht, fängt ihn sein Begleiter auf, hebt ihn in die Luft, lässt ihn um die eigene Achse kreisen. 'Tod in Venedig' ist eine Hymne an den männlichen Tanz und ein großer Abend für diese beiden Tänzer."

Besprochen werden außerdem Ernst Kreneks Einakter "Diktator" und Viktor Ullmanns "Zerbrochener Krug" im Münchner Cuvilliéstheater (nmz), Lucia Bihlers Inszenierung von Horvaths "Zur schönen Aussicht" in Oldenburg (nachtkritik), ein Doppel-Premierenabend mit Yael Ronens "A Walk on the Dark Side" und Daniil Charms' Elizaveta Bam am Berliner Gorki Theater (Berliner Zeitung, nachtkritik), Dieudonné Niangounas "Phantom" an der Berliner Schaubühne (nachtkritik, Berliner Zeitung), Tanzstücke der Komponistin Sivan Cohen Elias und dem Tänzer Ramon John in Darmstadt (FR), die letzte Premiere an der Volksbühne unter Chris Dercon, "Was wäre, wenn Frauen die Welt regierten?" (Tagesspiegel), Toshiki Okadas "No Sex" an den Kammerspielen in München (SZ), die Uraufführung von Olga Bachs Stück "Kaspar Hauser und Söhne" in der Inszenierung von Ersan Mondtag am Theater Basel (FAZ) und George Enescus Oper "Oedipe" in Gera (MDR, FAZ).
Archiv: Bühne

Architektur


Ausstellungsansicht "Junya Ishigami" in der Fondation Cartier. Foto: Jean Picon

Fasziniert geht taz-Redakteurin Brigitte Werneburg durch die erste Einzelausstellung der Fondation Cartier zur zeitgenössischen Architektur: Der Japaner Junya Ishigami zeigt hier, wie man mit der Natur baut, Licht in Erdlöcher bringt und beim Beten nass wird. Nachhaltig? Das, meint Werneburg, "verfehlt seine Idee einer befreiten Architektur, in der seine japanische Sozialisation deutlich wird: JapanerInnen kennen und schätzen keine im westlichen Sinne 'echte' Natur. Sie betrachten sie als immer schon artifiziell, selbst Wälder und Landschaften sind künstlich angelegt. Denn zur Natur in Japan gehören Erdbeben, die das vermeintlich Solide stets aufs Neue erschüttern. Hier greift unsere Vorstellung von Dauer nicht. Junya Ishigamis Vorstellung von Nachhaltigkeit liegt in der Frage, wie man Prozesse neu denken und verändern kann, während wir im Westen sie über unsere Nachhaltigkeitskonzepte regeln und verstetigen wollen." Vielleicht sollte man ihn für die Volksbühne engagieren?
Archiv: Architektur

Film


Miloš Forman, 2009 (Bild: Petr Novák, Wikipedia, CC BY-SA 3.0)


Große Trauer um Miloš Forman: Der Filmemacher "war ein begnadeter Meister der dezenten filmischen Provokation", schreibt Claus Löser in der Berliner Zeitung und erklärt im weiteren, dass dies mit Formans "Wurzeln (...) in seinen künstlerischen Anfängen in der realsozialistischen Tschechoslowakei" zu tun habe. Angesichts dessen, dass Formans Eltern von den Nazis ermordet wurden, staunt Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche darüber, dass dem Regisseur "einige der komischsten Filme der tschechoslowakischen Neuen Welle" gelungen sind und dies zudem in einem kulturpolitisch repressiven Klima: "Der Jungfilmer bekam so früh eine gesunde Skepsis gegenüber Dogmen und Konformismus eingeimpft." Wohl auch deshalb habe sich Forman auch in seinen späteren, im Westen gedrehten Werken mit Vorliebe mit Außenseitern befasst, hält Daniel Kothenschulte in der FR fest. Alan Posener blickt in der Welt auf seine eigene Jugend um 1968 zurück: Für ihn und seine Generation war der Filmemacher damals "mindestens so wichtig wie die Franzosen François Truffaut oder Jean-Luc Godard oder der Pole Roman Polanski. ... Das Lebensgefühl der Entfremdung einte damals die Jugend in Ost und West." Bert Rebhandl referiert im Standard Formans Leben und Schaffen. Weitere Nachrufe schreiben Tobias Kniebe (SZ) und Andreas Kilb (FAZ).

Außerdem: Bei Cargo empfiehlt Bert Rebhandl mit Nachdruck Sabine Michels Dokumentarfilm "Montags in Dresden" über drei Pegida-Anhänger, der derzeit beim Festival "Achtung Berlin" zu sehen ist (mehr zum Film hier). Für die Welt hat sich Barbara Möller zum Gespräch mit Schauspielerin Marie Bäumer über Emily Atefs Romy-Schneider-Film "3 Tage in Quiberon" getroffen. Frederik Hanssen (Tagesspiegel) und Anne Katrin Fessler (Standard) schreiben zum Tod von Vittorio Taviani.

Besprochen werden ein Sammelband über die Schauspielerin Ida Lupino (Freitag), John Krasinskis Horrorfilm "A Quiet Place" (critic.de), Silvana Santamarias und Bilal Athimnis beim "Achtung Berlin"-Festival gezeigter Film "A Part Of Me" (taz) sowie diverse neue Serien (ZeitOnline).
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Design

Radikale rechte Gruppen verabschieden sich von martialisch konnotierter Mode, schreibt Stefan Weiss im Standard. Vielmehr setzen sie heute ästhetisch auf Anschluss an den Zeitgeist sowie "Ironie und historische Bezüge auf völkisch Interpretierbares vor der NS-Zeit". Dass man auf die früher beliebte Marke Lonsdale mittlerweile verzichtet, hat auch handfeste monetäre Gründe: "Man macht sich die Mode einfach selbst. Als Identifikationsmerkmal und als wichtige Finanzierungsquelle für die Gruppe."
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Stichwörter: Rechtsextremismus

Kunst

Besprochen werden eine Fotoausstellung über das Leben im Pott im Berliner Willy-Brandt-Haus (Tagesspiegel) und zwei Pariser Delacroix-Ausstellungen, im Louvre und im Musée Eugène Delacroix (SZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Paul Ingendaay berichtet in der FAZ von einem Berliner Symposium zu Ehren von Imre Kertész. Deutschlandfunk Kultur bringt eine Lange Nacht von Christoph David Piorkowski über Jean-Paul Sartre und Albert Camus.

Besprochen werden Kazuaki Takanos Kriminalroman "13 Stufen" (taz), Balestrini Nannis "Sandokan - Eine Camorra-Geschichte" (Freitag), Helmut Lethens "Die Staatsräte" (Standard), Milena Michiko Flašars "Herr Katō spielt Familie" (SZ) und neue Hörbücher, darunter Sandra Hüllers Interpretation von Wolfgang Herrndorfs "Bilder deiner großen Liebe" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Nico Bleutge über Gunnar Ekelöfs "Das schwarze Bild":

"Das schwarze Bild
unter Silber zerküßt
..."
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Musik

Nach den Protesten gegen die Echo-Auszeichnung für Kollegah und Farid Bang, die wegen antisemitischer Textzeilen in die Kritik geraten waren, kündigt Florian Drücke, der Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes Musikindustrie, ein Umdenken an, meldet die taz mit der dpa: Man beabsichtige eine "umfassende Analyse und die Erneuerung der mit der Nominierung und Preisvergabe zusammenhängenden Mechanismen."

Im Welt-Kommentar verteidigt Dennis Sand indessen die ästhetischen Codes des Battle-Rap, dem das inkriminierte Stück von Kollegah und Farid Bang zuzurechnen ist: Höhnische Textzeilen über KZ-Insassen seien ja gar nicht ernst gemeint und sollten vor dem Hintergrund des Genres verstanden werden - schlimm sei nur Kollegahs Auftreten jenseits solcher Zeilen: Da vertritt er eben tatsächlich Verschwörungstheorien vor großem Publikum. Hier sollte man ansetzen, meint er. "Rap hat keine Agenda. Rap ist ein Spiegel unserer Gesellschaft. Einer Gesellschaft, in der es Parallelgesellschaften, Clanstrukturen, Homophobie, Misogynie und Antisemitismus gibt. Rap reflektiert das. Kritik an Teilen der HipHop-Kultur durch die Mainstream-Medien sind deswegen richtig und notwendig. Die HipHop-internen Medien sind dazu größtenteils nicht in der Lage. Aber die Kritik muss sich auf wirklich kritikwürdige Punkte beziehen."

Weitere Artikel: Für die FR schlendert Thomas Stillbauer über die internationale Musikmesse in Frankfurt, auf der sich die Produzenten klassischer Musikinstrumente zusehends gegen die digitale Musikproduktion behaupten müssen. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Julia Bähr über Frank Zappas "Bobby Brown":



Besprochen werden Martin Jaggis neue Komposition "Uxul" in einer Aufführung durch das Collegium Novum Zürich (NZZ), ein Bob-Dylan-Auftritt in Salzburg (Standard), Jeffrey Lewis' neues Album, auf dem er Arbeiten von Tuli Kupferberg interpretiert (Jungle World), das Album "Vergifte dich" von Isolation Berlin (Standard), das neue Album von The Weeknd (SZ), ein Konzert von Andreas Spechtl (taz), ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko (SZ), Kylie Minogues neues Album "Golden" (Standard) und ein neues Album von Sasha (Zeit).
Archiv: Musik