Efeu - Die Kulturrundschau

Antike würde ich machen

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18.04.2018. In der Berliner Zeitung erinnert Volksbühnen-Interimschef Klaus Doerr daran, dass außer Chris Dercon keiner die Castorf-Nachfolge hatte antreten wollen. Regisseur Ersan Montag hat sich jetzt gemeldet: Volksbühne wär ok für ihn, oder sonst die Schaubühne? Die Welt betrachtet Claude Monets "effets". Und der Zivilcourage-Tsunami schwillt an mit weiteren Echo-Rückgaben und Protest-Notizen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.04.2018 finden Sie hier

Bühne

Klaus Dörr, Interimschef an der Volksbühne, macht im Interview mit der Berliner Zeitung noch mal klar, dass er Chris Dercon für eine Fehlbesetzung hielt, erinnert aber auch daran, dass kein anderer die Volksbühne wollte: "Die Theaterleute, die für den Posten als Castorf-Nachfolger theoretisch in Frage kamen, sind ja alle gefragt worden. Die Antwort war immer: Gebt mir gern das BE, aber nicht die Volksbühne."

Auch der Theaterregisseur Ersan Montag ist froh, dass die Dercon-Ära so kurz war, meldet die Berliner Zeitung: "Für den 31-Jährigen in Berlin geborenen Theatermann, der bei der Suche nach einer neuen Leitung zur besonderen Berücksichtigung osteuropäischer und weiblicher Kandidaten rät, ist der Rücktritt von Dercon 'der logische Schritt nach einer Fehlgeburt. Man kann das tote Kind nicht im Leibe lassen, sonst zerstört es den ganzen Körper.'" Montag würde die Volksbühne aber auch gern selbst, ähm, neu befruchten, um im Bild zu bleiben. Er stünde als Dercon-Nachfolger "selbstverständlich" zur Verfügung.

Im Interview mit dem Tagesspiegel erklärt Montag allerdings noch, er "würde ja voll gern die Schaubühne übernehmen". Aber egal, welches Theater, seine Pläne wären etwa diese: "Ich hätte keinen Ibsen auf dem Spielplan, keinen Schiller, keinen Hebbel, keinen Shakespeare. Antike würde ich machen, so an die Peter-Stein-Tradition anknüpfend. Aber in Überschreibungen: Dass man die Theatergeschichte als Grundlage verwendet, um neue Autorenschaften zu entwickeln. Elfriede Jelinek arbeitet ja zum Beispiel so, die finde ich großartig! Ich würde ein Ensemble bauen. So ein richtig großes, tolles Ensemble mit möglichst jungen Leuten."

Astrid Kaminski unterhält sich für die taz mit dem taiwanesischen Choreografen Lin Hwai-min, der zum Movimentos-Festival in Wolfsburg angereist ist und demnächst die Leitung seiner Compagnie, des Cloud Gate Dance Theatre, abgeben wird. Er sieht das ganz entspannt: "Was mir wichtig ist: Dass ich die Kompanie zu einem Zeitpunkt übergebe, zu dem ich noch in der Lage bin, den gesamten Übertragungsprozess zu übersehen. Wenn ich noch drei Jahre warte, werde ich vielleicht falsche Entscheidungen treffen."

Besprochen werden Ayad Akhtars "Junk" und "Hänsel und Gretel" in Hamburg (NZZ), David Pountneys Inszenierung von Riccardo Zandonais Oper "Francesca da Rimini" an der Scala (NZZ), Andrea Breths Inszenierung von Eugene O'Neills "Eines langen Tages Reise in die Nacht" am Wiener Burgtheater (SZ) und Toshiki Okadas Stück "No Sex" in den Münchner Kammerspielen (FAZ).
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Kunst

Claude Monet, Le cathedrale de Rouen (Morgeneffekt), 1894. Foto: Museum of Fine Arts, Boston
Stefanie Bolzen lernt in Londons National Gallery, was Claude Monet eigentlich gemalt hat: keine Bäume, Häuser, Blumen, sondern die Luft drumherum, das Licht, das sich ständig veränderte, schreibt sie in der Welt. Zum Beispiel um die Kathedrale von Rouen, die er unzählige Male vom ersten Stock eines Damenschneidergeschäfts aus malte: "Meistens begann der damals bereits über 50-Jährige aber ohnehin in den allerersten Morgenstunden mit seiner Arbeit und wartete auf 'l'effet': den Effekt, den das erste Licht auf die ein halbes Jahrtausend alte Fassade haben würde. 'Er malte zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt, für ganz kurze Zeiträume, mitunter nur ein paar Minuten. Dann ließ er die eine Leinwand stehen und griff nach der nächsten', erklärt Kurator Thomson. Zu studieren ist das an zwei nebeneinandergehängten Bildern, auf denen das Morgenlicht unterschiedlich tief die Fassade heruntergeklettert ist."

Weiteres: Michael Pilz besucht für die Welt Lucas Cranachs "Heiligen Hieronymus" in Innsbruck. Besprochen werden eine Ausstellung der kanadischen Künstlerin Ydessa Hendeles in der Kunsthalle Wien (Standard), die Retrospektive "Astrid Klein. Transcendental Homeless Centralnervous" in den Hamburger Deichtorhallen (SZ) und eine Ausstellung zum Werk von Taryn Simon im Kunstmuseum Luzern (FAZ).
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Film

Mit "The 15:17 to Paris", seiner (mit den Originalprotagonisten besetzte) Verfilmung der Umstände eines durch beherztes Anpacken vereitelten Terroranschlags, macht sich Clint Eastwood wenig Freunde: Der eigentliche Vorfall dauerte nur wenige Minuten, doch Eastwood hat zum Verdruss von Welt-Kritikerin Martina Meister darüber hinaus ausgiebig in den Leben der Beteiligten herum- und dabei viel "gähnende Leere" gefilmt. Barbara Schweizerhof äußert auf ZeitOnline wenig Verständnis dafür, dass Eastwood, wenngleich bekennender Republikaner mit kernigem Weltbild, von der Filmkritik stets nur mit Samthandschuhen angefasst wird: In diesem Film komme "unverfälscht, standhaft und direkt vor allem eine Botschaft herüber, die unmittelbar an die Parolen der Waffenlobby anschließt: dass ein böser Mann mit Waffe eben nur von einem guten Mann mit Waffe in die Schranken gewiesen werden könne".

Weitere Artikel: Patrick Schlereth berichtet in der FR von seiner Serienmüdigkeit.

Besprochen werden Greta Gerwigs "Lady Bird" (Berliner Zeitung, FAZ), Boris Khlebnikovs "Arrhythmia" (taz), Mijke de Jongs "Layla M." über den Radikalisierungsprozess einer jungen Muslimin (SZ) und Mathias Haentjes' Arte-Doku "Frühjahr 1948" (Berliner Zeitung).

Außerdem: Das Videodrom, unbestritten die beste und wertvollste Videothek in Berlin, sendet dramatische SOS-Signale. Das Videodrom muss gerettet werden!
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Literatur

Große Freude bei Johanna Roth in der taz über den Pulitzer-Preis für den Schriftsteller Andrew Sean Greer und dessen Roman "Mister Weniger", schließlich saß Roth vor wenigen Jahren in einem Poetikseminar des preisgekrönten Autors: Er "druckte uns Szenen aus 'Lolita' aus, die wir zerschneiden und neu zusammenpuzzeln sollten. Er zwang uns, solange denselben Satz von Proust zu lesen, bis wir darüber lachen mussten. Als wir irgendwann unsere ersten Kurzgeschichten schrieben, über Mütterzorn, Gespenster und Liebeskummer, fühlten wir uns wie kleine Nabokovs. ... Wir lasen anders."

Weiteres: Für die SZ spricht Karin Janker mit der mexikanischen Schriftstellerin Guadalupe Nettel über das Verhältnis zwischen den USA und ihrem Heimatland. Jana Volkmann porträtiert im Freitag Zoe Becks CulturBooks-Verlag.

Besprochen werden Monika Marons "Munin oder Chaos im Kopf" (Standard), Nadja Spiegelmans "Was nie geschehen ist" (Freitag), Sayaka Muratas "Die Ladenhüterin" (FR), Éric Vuillards "Die Tagesordnung" (SZ), zwei neue Übersetzungen von Giorgos Seferis' Gedichten (FAZ) und neue Comics, darunter Héctor G. Oesterhelds und Alberto Breccias "Eternauta 1969" (SZ).
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Musik

Erst sich vornehm zurückziehen, dann mit umso größerer Wucht dabei gewesen sein wollen: Der Zivilcourage-Tsunami nimmt mit weiteren Echo-Rückgaben und Protest-Notizen volle Fahrt auf. Sehr verwunderlich findet Tomasz Kurianowicz es allerdings auf ZeitOnline, "dass erst jetzt die Einsicht kommt, dass man zwei umstrittenen Künstlern kommentarlos eine Bühne gegeben hat, damit sich diese für ein mittelmäßiges Musikalbum mit sexistischen, tendenziell antisemitischen Inhalten feiern lassen können." In der FR wünscht sich Daniel Dillmann insbesondere vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk mehr Haltung in Sachen Airplay.

"Erschreckend" findet es der Pianist Igor Levit im ZeitOnline-Interview, "dass die Verantwortlichen des Echo offenbar nicht Willens waren, diese Preisvergabe zu verhindern. ... Die Verantwortlichen müssen sich selbst darüber klar werden, was ihr System vergangene Woche angerichtet hat. Wenn sie sich damit nicht glaubwürdig auseinandersetzen, verlieren sie ihre Legitimation."

Deutschland hat den Echo und Kollegah, die USA den Pulitzer-Preis und Kendrick Lamar, letzterer der erste Rapper, der je mit dem Pulitzer ausgezeichnet wurde: "Ein Künstler von höchstem Rang", der insbesondere vor dem Hintergrund des gesellschaftspolitischen Klimas in den USA wertvolle Arbeit leistet, meint Dietmar Dath dazu in der FAZ. Der im Fitnesstudio schwitzende Angeber Kollegah dagegen müsse "Fragen nach der sozialen Legitimität seiner drohbrünstigen Gettogestik und der künstlerischen Qualität seiner verhauenen Reime mit dem überzüchteten Bizeps wegdrücken". Und in der taz porträtiert Jan Feddersen den in Deutschland viel zu wenig gewürdigten Weltbürger und Beatles-Freund Klaus Voormann, der den Stein ins Rollen brachte.

Sehr dankbar, dass sich im Rap nicht nur Schreihälse wie Kollegah & Co tummeln, ist im übrigen auch Bernhard Haysinger, der sich auf ZeitOnline freut, dass ausgerechnet der früher so laute, derbe Fler mittlerweile zum ruhigen Trap gefunden und damit einen Hauch des Weltgeists zu fassen gekriegt hat: "Viele wollen lässige Musik hören, lässig leben und sich nicht mehr anschreien lassen: nicht im Privaten, nicht im Berufsleben, nicht von den Medien, nicht im Rap und auch bitte, bitte nicht von Politikern. ... Das ist der Sound, mit dem es weitergehen kann." Hier einige Auszüge aus Flers neuem Album:



Und eine gute Nachricht aus den USA vermeldet Felix Zwinzscher in der Welt anlässlich des neuen Album von Cardi B: In den Staaten entdecke man die weiblichen Wurzeln des Gangsta-Rap.

Ein wenig Auszeit von der Debattenlage gönnt sich die in Würde graumelierte Poplinke der 90er unterdessen beim Berliner Abschlusskonzert von Tocotronic. "Ist es nicht eine Wohltat, dass es jenseits des Echo-Gruselpops von Rap über Schlager bis Rock noch gute deutschsprachige Popmusik gibt", fragt sich ein dahin schmelzender Gerrit Bartels im Tagesspiegel. Enthusiastisch von diesem Abend nach Hause gegangen ist auch tazler Jens Uthoff: Kein Wunder, schließlich hat man gemeinsam in der Columbiahalle "einige Déjà-vus durchgemacht, rekapituliert, woher man kommt, wer man war, wer man ist, als hätte man noch mal eine kleine Evolution durchlaufen."

Weitere Artikel: Für den Tagesspiegel porträtiert Gunda Bartels den Chansonnier Vladimir Korneev. Frederik Hanssen wirft für den Tagesspiegel einen Blick ins Programm des Musikfests Berlin 2018. Mit größter Freude erinnert Karl Fluch im "Unknown Pleasures"-Blog des Standard an den neuseeländischen Punk-Exzentriker Chris Knox. Wir hören gerne rein:



Besprochen werden Lana del Reys Berliner Konzert (Welt, Berliner Zeitung, Tagesspiegel), ein von Michael Sanderling dirigiertes Konzert der Dresdner Philharmoniker (Tagesspiegel), Lars Vogts Konzert in Frankfurt (FR), ein Auftritt des Rappers Curse (FR) und neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album von Die Nerven, das SZ-Kritiker Julian Dörr als Antidot zum Echo-Generve empfiehlt. Mehr dazu auch bei Byte.FM und hier das aktuelle Video:

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