Efeu - Die Kulturrundschau

Küken stehen für den falschen Frieden

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28.04.2018. In der Welt sieht Georges-Arthur Goldschmidt das innere Nazitum in Deutschland auf dem Vormarsch. Mit den sieben Lolas für Emily Atefs Romy-Schneider-Film sind die Kritiker weitgehend zufrieden. Wo bleibt die Anlaufstelle für Opfer sexueller Übergriffe bei Filmproduktionen, fragt Zeit Online verärgert. Nach vielen Querelen hat die Schau "Gewalt und Geschlecht" am Militärhistorischen Museum Dresden doch noch eröffnet: Surreal und opulent, finden FAZ und taz. Und: ABBA ist zurück.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.04.2018 finden Sie hier

Film

Sieben Lolas hat Emily Atefs Romy-Schneider-Film "3 Tage in Quiberon" bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises erhalten, darunter in den wichtigsten Kategorien "beste Regie" und "bester Film". Weitere Auszeichnungen in der letzten Kategorie gingen an "Western" von Valeska Griesebach und Fatih Akins "Aus dem Nichts" - hier alle Auszeichnungen im Überblick. Der Erfolg für Atefs Film kam keineswegs "unerwartet", kommentiert Frank Junghänel in der Berliner Zeitung und ist darüber ziemlich guter Dinge. "wenn man überhaupt etwas zu bedauern hat, dann, dass nicht doch er eine oder andere gewagtere Film wie etwa Robert Schwentkes Nazi-Farce 'Der Hauptmann' bei den Preisen besser weggekommen ist."

Rüdiger Suchsland kann auf Artechock indessen nur mit den Augen rollen über Atefs Film - gerade weil er Romy Schneider liebt und obwohl er Emily Atef für eine gute Regisseurin hält. Doch stellt sich ihm "die Frage, ob und warum eigentlich alles verfilmt werden muss. ... Möchten wir uns denn ein deutsches Kino vorstellen, dass nur noch Geschichten aus dritter, vierter Hand erzählt? Die in der Vergangenheit spielen, die Mythen der Vergangenheit reproduzieren, aus Mangel an gegenwärtigen? Die Verfilmung eines Buches, in dem zwei Männer über eine Begegnung vor bald vierzig Jahren schreiben, die seinerzeit auch schon ihre Karriere hinter sich hatte? Welches deutsche Schauspielerinnenschicksal wird man in vierzig Jahren verfilmen? Heike Makatsch? Veronika Ferres? Geh, bitte!"

Auf ZeitOnline tadelt Dirk Peitz unterdessen die deutsche Filmbranche dafür, die unter den Eindrücken der Causa Wedel versprochene Anlaufstelle für Opfer sexueller Übergriffe bei Filmproduktionen noch immer nicht eingerichtet zu haben: Die beteiligten Verbände und Institutionen wurden sich bislang nicht einig, die Verhandlungen laufen "seit Monaten. ... Eine Deadline, die Kulturstaatsministerin Grütters dem Vernehmen nach den Verhandlungspartnern für Donnerstagmittag gesetzt hatte, um beim Filmpreis ein gemeinsames Ergebnis verkünden zu können, ist ohne Einigung verstrichen."

Weitere Artikel: Simone Dede Ayivis schlüsselt im Freitag den weltweit überragenden Erfolg von Ryan Cooglers Marvel-Blockbusters "Black Panther" auf: "Hollywood ist widerlegt: Dass sich Filme mit Schwarzen Hauptfiguren nicht rentierten, lässt sich nun nicht mehr behaupten." Amin Farzanefar spricht im Filmdienst mit Semih Kaplanoğlu über dessen neuen Film "Grain - Weizen", der Freitag-Kritiker Ekkehard Knörer allerdings eher enttäuscht hat. Irene Genhart hat sich für den Filmdienst mit Markus Imhoof zum Gespräch über dessen Flüchtlingsdokumentarfilm "Eldorado" getroffen. Katrin Doerksen hat sich für Kino-Zeit mit Regisseuren beschäftigt, die in ihrer Heimatstädten Filme drehen. Louis Lewitan plaudert im ZeitMagazin mit Mario Adorf über dessen Kindheit. Auf Artechock erzählt Dunja Bialas die 111 Jahre umfassende Geschichte des Münchner Gabriel-Kinos. Im Filmdienst schreibt Patrick Holzapfel einen Liebesbrief an den Waschbär aus Robert Flahertys "Louisiana Story".

Besprochen werden die Kiff-Serie "High Maintenance" (Freitag), Nick Parks Animationsfilm "Early Man" (SZ) und Mika Gustafsons, Olivia Kastelbrings und Christine Tsiobanelis' beim "Crossing Europe"-Festival in Linz gezeigter Film "Silvana" (Standard).
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Literatur

Voller Bewunderung berichtet Tilman Krause in der Welt von seiner Begegnung mit dem französischen Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt, doch nicht nur das prächtige Pariser Ambiente beeindruckt ihn, sondern auch Goldschmidts Klarsicht: Das innere Nazitum sieht Goldschmidt allerdings in Deutschland ohnehin auf dem Vormarsch. 'Denken Sie doch nur an die Kolbenheyer-Sprache Alexander Gaulands! Gucken Sie sich diese gleichgeschalteten Mienen, diese unisono klatschenden Hände der AfDFraktion im Bundestag an! Da feiert doch das alte Zack-zack-Deutschland fröhliche Urstände.' Erwin Guido Kolbenheyer ('Knechte dich selbst, dann wirst Du ein Herr sein'), der meistdekorierte Dichter des Dritten Reiches als Sprachgeber einer neuen Rechten: Darauf muss man erst mal kommen. Das erkennt nur jemand, der auch mit den antidemokratischen deutschen Traditionsbeständen vertraut ist.

"Der Fortführer" - ernsthaft? Michael Angele jedenfalls ärgert sich im Freitag ziemlich über Botho Strauß' schon im Titel seines neuen Buches anklingende Selbstinszenierung als Renegat wider den Zeitgeist. Er fragt sich: "Gibt es einen nicht-dominierenden Zeitgeist? Und besteht der Zeitgeist im literarischen Feld nicht zuletzt aus Prosa, die diesem Zeitgeist widersprechen will? Besteht, in anderen Worten, der Zeitgeist nicht gerade darin, ihm zu widersprechen?" Immerhin liege Strauß ja nun voll im Trend: "Die Lust an der Provokation, irgendwie ein bisschen rechts, aber natürlich gar nicht so gemeint."

Weitere Artikel: Im taz-Gespräch gibt Mathieu Sapin Auskunft über die Entstehung seines dokumentarischen Comics "Gérard", der fünf Jahre an der Seite von Gérard Depardieu schildert. Oleg Jurjew freut sich in einem FR-Essay über die Wiederentdeckung des jiddisch-sprachigen Lyrikers und Romanciers Moyshe Kulbak, dessen Werke in den vergangenen Monaten von verschiedenen Verlagen neuaufgelegt wurden. In Berlin hat Bazon Brock Gisela Stelly Augsteins neues Buch "Keitumer Gespräche" präsentiert, berichtet Arno Widmann in der FR. Angela Schader liest für die NZZ Bücher über das Sterben, darunter Steven Amsterdams Roman "einfach gehen". Denis Scheck ergänzt seinen Welt-Literaturkanon um Italo Calvinos "Wenn ein Reisender in einer Winternacht". Lasha Bakradze vom Georgischen Literaturmuseum in Tiflis ruft im literarischen Wochenendessay der FAZ die von Stalin erst gegängelte und schließlich ermordete literarische Gruppe rund um Paolo Iaschwili in Erinnerung.

Besprochen werden unter anderem Claudia Rankines Langgedicht "Citizen" (taz), Emily Wilsons englische Odyssee-Übersetzung (Freitag), Claire-Louise Bennetts Debüt "Teich" (Welt), Galsan Tschinags "Kennst du das Land - Leipziger Lehrjahre" (Freitag), Anja Kampmanns "Wie hoch die Wasser steigen" (Tagesspiegel), Fanny Wobmanns "Am Meer dieses Licht" (NZZ), Éric Vuillards Erzählung "Die Tagesordnung" (FR, FAZ),  neue Krimis von Anton Hunger und Petra Reski (NZZ), neue Hörspiele, darunter William Faulkners "Licht im August" (taz) und Frank Schätzings "Die Tyrannei des Schmetterlings" (SZ).
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Kunst

Bild: Jan Banning. Trostfrauen (Comfort Women) - Wainem Panos Pictures/VISUM
Nach den Querelen am Militärhistorischen Museum Dresden (Unser Resümee) findet die kurzerhand abgesagte Ausstellung "Gewalt und Geschlecht" mit einem halben Jahr Verspätung nun doch statt. In der taz lobt Michael Bartsch die ein wenig unübersichtliche, aber Klischees von männlicher Dominanz und weiblicher Opferrolle relativierende Schau: "Neben der Männerherrschaft ermächtigten sich auch Frauen selbst, nutzten Lücken in Dynastien, wurden zu Anführerinnen oder Terroristinnen. Ein eigenes Kapitel widmet sich der Frauenrolle in der Nazizeit. Nahe an der Gender-Debatte heute und an der Psychologie bewegen sich die brisanten Kapitel vier bis sechs. Weibliche Schönheit kann ebenso Machtwirkung entfalten wie männliche Stärke."

Ebenfalls überwältigt und zugleich erschlagen von der "inhaltlichen Elefantiasis" der zweitausend Quadratmeter umfassenden Ausstellung kehrt auch FAZ-Kritiker Andreas Kilb zurück: "Manchmal ist die von Begrifflichkeiten ('Nähe und Nahkämpfe', 'Selbstobjektifizierung') diktierte Zusammenstellung nachgerade surreal. Eine Kinderrettungsweste, auf Lesbos gefunden, eine amerikanische Wahlstatistik und ein 'Kükenmuser' zur Vernichtung von männlichen Küken stehen für den 'falschen Frieden' der Gegenwart. Ein Büstenhalter, den die KZ-Überlebende Lina Beresin genäht hat, liegt neben einem Kleid von Jackie Kennedy."

Auf Einladung des Goethe-Instituts ist Elisabeth Wellersdorf zur Bauhausstiftung nach Rabat gereist. Auf Zeit Online berichtet sie darüber, was das Leben zwischen Europa und dem Magreb für marokkanische Künstler bedeutet: "Es gibt kaum Plattformen, auf denen sie sich abseits staatlicher Kulturinstitutionen und ohne Angst vor Zensur darüber verständigen könnten, warum es so viele ins Ausland zieht und dann doch wieder zurück. Darüber, wie europäische Abschottungspolitik auf der einen und reformresistente Monarchieapparate auf der anderen Seite dafür sorgen, dass eine Generation, die den Kolonialismus gar nicht mehr miterlebt hat, noch immer im Dazwischen festhängt."

Weiteres: Respekt, "was an Qualität, auch an künstlerischen Botschaften mit Tiefgang, an Überraschendem geboten wird", schreiben Ingeborg Ruthe und Irmgard Berner in der Berliner Zeitung nach ihrem Besuch des 14. Berliner Gallery Weekends. Weitere Besprechungen in taz, Monopolmagazin und FAZ. Für die Weltkunst hat Sebastian Preuss das Performance-Paar Eva und Adele porträtiert, denen der Berliner MeCollectors Room aktuell eine Werkschau widmet. Wahnsinn und Exzess erlebt Philipp Meier in der NZZ in der großen Gegenüberstellung von Alberto Giacometti und Francis Bacon in der Fondation Beyeler.
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Design

Für die NZZ hat Antje Stahl die Ausstellung "Fashion Drive" im Kunstmuseum Zürich besucht und gelernt, dass die Aufgabe der Schamkapsel, die die "phallische Stärke zwischen den Beinen der Träger zur Schau stellen sollte", heute vom Schlips übernommen wird.
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Stichwörter: Fashion

Bühne

Über die ausbleibenden Proteste und die Verdruckstheit in der Politik nach Matthias Lilienthals Vertragsende an den Münchner Kammerspielen kann Bernd Noack in der NZZ nur den Kopf schütteln: "Dem Intendanten, der engagiert politisches, unbequemes Theater machen wollte in einer Stadt, die sich gerne mit mokanter Arroganz hinter ihrem biederen Hochkulturanspruch verbarrikadiert, sind die Zuschauer, dann die Schauspieler, schließlich die politischen Unterstützer davongelaufen. So etwas geht hier nicht so einfach: Experimente, Fokus auf Randgruppen, Spielarten abseits der staubenden Klassikerpflege - München rümpfte, Lilienthal fiel auf die Nase."

Weiteres: Für die nachtkritik hat Sophie Diesselhorst bei dem SPD-Bundestagsabgeordneten Dirk Heidenblut nachgefragt, was er nach dem Zusammentreffen mit der die Interessen von Theaterleuten vertretenden Initiative "40.000 Theatermitarbeiter*innen treffen ihre Abgeordneten" ändern möchte. Subventionen wie Schulpakte für Städte schweben ihm auch für Theater vor.
Archiv: Bühne
Stichwörter: Lilienthal, Matthias

Musik

Niklas Fuchs macht sich in der Spex Gedanken zum Plattensammeln: Einerseits herrsche ein ungeheurer Hi-Tech- und Erstauflagen-Snobismus, andererseits wächst gerade eine junge Generation Vinyl-Sammler nach, die erfrischend unbekümmert ihre Sammelgebiete absteckt: Diese, "zumindest peripher informiert über Feminismus und Post-koloniale Theorie, schert sich einfach nicht mehr besonders um die hegemonielle Musikgeschichte. Sie vergisst den pompösen Progrock ihrer Väter, den pseudo-intellektuellen Anspruch halb-virtuoser Stoner aus britischen Kleinstädten und sogar die Top 100 der ödesten Top-100-Listen, an denen sich weite Teile des Musikjournalismus inzwischen festklammern." Stattdessen stehen bei diesen jungen Sammlern "venezolanischer New Wave und verstecke Juwelen in der Diskografie von Perez Prado" hoch im Kurs.

Unterdessen haben sich ABBA reformiert, vielleicht wohl auch, um dem kürzlichen Twitter-Gag von Klangforscher Holger Schulze Taten folgen zu lassen (für den er sich prompt entschuldigt hat). Zwei neue Songs soll es geben und Hologram-Auftritte, erklärt Christian Schröder im Tagesspiegel. In der SZ referiert Thomas Steinfeld unter anderem ABBAs musikalische Quellen, die "weniger im Blues als vielmehr in der skandinavischen Volksmusik liegen."

Reinhard J. Brembeck hat sich für die SZ zum Gespräch mit Igor Levit getroffen, der sich auf Twitter und auch andernorts stets sehr offen von seiner linken Seite zeigt: Eine solche politische Parteinahme ist ungewöhnlich im Klassikbetrieb, sagt Brembeck. Im Falle Levits spiegelt sich auch in dessen "Repertoire. Levit (...) spielt Stücke, die die meisten seiner Kollegen nie öffentlich aufführen würden. So ist es unvorstellbar, dass Daniil Trifonov, Hélène Grimaud, Murray Perahia oder Grigorij Sokolov mit Frederic Rzewskis grandios einstündigen Variationen über das chilenische Revolutionslied 'The People United Will Never Be Defeated!' auftreten würden. Aber Levit macht das. Dieses überschäumende Virtuosenstück des von ihm verehrten US-Pianisten und Komponisten Rzewski, ironischerweise für die 200-Jahr-Feiern der Vereinigten Staaten komponiert, ist zu seinem Markenzeichen geworden." Hier ein Auszug daraus:



Weitere Artikel: Für den Filmdienst schreibt Jörg Gerle über Jonny Greenwood von Radiohead als Filmkomponist. Im Tagesspiegel berichtet Gregor Dotzauer vom Auftakt des "100 Jahre Beat"-Festivals in Berlin. Die österreichische Band Bilderbuch wurde mit dem Amadeus Award für das beste Album ausgezeichnet, erfahren wir von Kai Müller im Tagesspiegel. Die Berliner Philharmoniker präsentierten das Programm ihrer kommenden Interims-Saison, mit der sie die Lücke zwischen Simon Rattle und Kirill Petrenko überbrücken, berichtet Frederik Hanssen im Tagesspiegel. Das Van Magazine hat auf Twitter eine kritische Anmerkung zum Programm:




Besprochen werden Janelle Monáes Album "Dirty Computer" (Standard, mehr dazu hier), Pastor Leumunds neues Album "Konzentriert euch" (taz), ein Konzert der Wiener Philharmoniker unter Andrés Orozco-Estrada (FR) sowie die neuen, offenbar sehr unterwältigenden Alben von Kylie Minogue und Lisa Stansfield (FR). Außerdem meldet der Standard den Tod von Charles Neville:

Archiv: Musik