Efeu - Die Kulturrundschau

Die Belästigung Victorias

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.04.2018. Die Welt blickt ungläubig nach Stockholm, wo die Schwedische Akademie nach neuen Vorwürfen weiter zerfällt. Bitter nötig hatte Berlin das African Book Festival, erklärt die Berliner Zeitung. Wunderschön findet die SZ, wie das Theaterkollektiv Forced Entertainment vom Unsinn des Lebens erzählt.  Stephan Kimmigs Berliner Version von Elfriede Jelineks Trump-Stück "Am Königsweg" teilt die Kritik in zwei  Lager.  Und der Tagesspiegel feiert die Musikerin Janelle Monáe als würdige Prince-Nachfolgerin.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.04.2018 finden Sie hier

Film


Emily Atefs "Drei Tage in Quiberon"

Mit dem Lola-Regen für Emily Atefs Romy-Schneider-Film "3 Tage in Quiberon" können soweit alle gut leben - nur macht die Auszeichnung auch allen schmerzhaft bewusst, dass sich zwischen Publikums- und Jurygeschmack eine breite Kluft auftut: "Quiberon" hatte bis zur Preisverleihung keine 100.000 Zuschauer vorzuweisen, auch die anderen Favoritenfilme waren keine Kassenreißer - lediglich Fatih Akins "Aus dem Nichts" kann mit 600.000 Zuschauern Publikumsnähe suggerieren. "Warum, zum Kuckuck, ist das deutsche Publikum so wenig neugierig auf einen intelligent gemachten Film über ein populäres Thema", fragt sich Hanns-Georg Rodek in der Welt angesichts der enttäuschenden Kassen-Performance von Atefs Film. Und Andreas Kilb konstatiert in der FAZ: Der Deutsche Filmpreis ist wieder "in die Randzone des Kinogeschäfts" geraten (aber "trotzdem war es ein schöner Abend").

Den dritten Teil der "Fack Ju Göhte"-Reihe haben derweil stolze 6 Millionen gesehen: Dafür gab es eine Trost-, beziehungsweise Ehren-Lola. "Ein Kompromiss, um das Bild einer geschlossenen Filmbranche aufrechtzuerhalten", meint dazu Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche: Wenn auch die Kasse zu wünschen übrig lässt, stimmt immerhin die künstlerische Seite: Die vier deutschen "Berlinale-Beiträge in diesem Jahr zeugten, jeder auf seine Weise, von einer besonderen Qualität. Die Präsenz auf internationalen Festivals hat wieder zugenommen." Für die taz resümiert Jenni Zylka den Abend, die sich nebenbei fragt, ob denn immer alle Filmakademie-Mitglieder auch tatsächlich alle nominierten Filme gesehen haben.

Weiteres: In der NZZ schreibt Claudia Schwartz mit kaum verhohlener Bewunderung über den bahnbrechenden Erfolg von Netflix: 2018 legt die Online-Videothek offensichtlich den Turbo-Boost ein: Acht Milliarden sollen in diesem Jahr in Eigenproduktionen investiert werden. "Netflix hat mit 25 eigenen Projekten allein im ersten Quartal 2018 bereits so viele Produktionen herausgebracht wie im letzten Jahr insgesamt. Arno Widmann ärgert sich in der FR sehr über die zwei Karl-Marx-Filme, die arte und ZDF zum Marx-Jubiläumsjahr bestellt haben: Dass der 87-jährige Mario Adorf den 64-jährigen Marx spielt, sei "schon lächerlich genug", darüber hinaus kriegt man auch noch wenig geboten: "Für Sendungen wie diese sollten die Zuschauer vom Sender Schmerzensgeld bekommen. ...  140 Minuten irrsinnig überteuert produzierte Volksverblödung." Über Marx' Werk erfährt man an diesem Fernsehabend sehr wenig, bedauert Tom Strohschneider auf ZeitOnline und liefert ein marxistisches Kurz-Referat nach.

Besprochen werden Ina Weisses auf DVD erschienener Dokumentarfilm "Die Neue Nationalgalerie" (SZ), Markus Imhoofs Dokumentarfilm "Eldorado" (Zeit), Nick Parks Animationsfilm "Early Man" (FAZ) und Oskar Roehlers Thor-Kunkel-Verfilmung "HERRliche Zeiten" (SZ).

Archiv: Film

Literatur

Die Schwedische Akademie zerlegt sich weiter: Nachdem ans Tageslicht gekommen ist, dass Jean-Claude Arnault, der Ehemann des Akademie-Mitglieds Katarina Frostenson, im Jahr 2006 auch Prinzessin Victoria sexuell belästigt haben soll, ist mit Sara Stridsberg ein weiteres Mitglied aus der Akademie zurückgetreten. Offen zutage tritt bei dieser Enthüllung nun auch das innerakademische "Schweigekartell", das Arnault gedeckt hat, schreibt Wieland Freund in der Welt. Zu diesem Kartell zählt auch Horace Engdahl, damals noch im Amt des Ständigen Sekretäts der Akademie, der Sara Danius im Zuge der Enthüllungen der letzten Wochen für ihre Versuche, Frostenson aus der Akademie zu entlassen, scharf in der Öffentlichkeit kritisiert hatte: Er hatte "die Belästigung Victorias den Medienberichten zufolge miterlebt und wurde vom Königshaus beauftragt, weitere potenziell gefährliche Begegnungen zwischen Prinzessin und 'Direktor' zu unterbinden. Ob seine Obstruktionspolitik der letzten Wochen sich auch seinem Wissen um das ganze Ausmaß des Skandals verdankt, ist zu diesem Zeitpunkt nicht zu sagen." Ohnehin stecken die großen Kulturpreise derzeit in "einer veritablen Glaubwürdigkeitskrise", kommentiert Gerrit Bartels im Tagesspiegel.

Begeistert ziehen die Feuilleton Bilanz nach der ersten Ausgabe des African Book Festivals in Berlin: "Die Stadt hat dieses Festival bitter nötig", meint Anna Gyapjas in der Berliner Zeitung - denn der deutsche Literaturbetrieb habe Nachholbedarf, was die Literaturen des afrikanischen Kontinents angeht: "Während Namen wie Chris Abani, Ayòbámi Adébáyò oder Sarah Ladipo Manyika in Großbritannien für wissende Vorfreude sorgten, traf die deutsch-nigerianische Schriftstellerin Popoola hierzulande im Vorfeld auf fragende Ratlosigkeit." Bei dem Festival ging es auch "um Frauen in der Literatur, um Gender", schreiben Eva Berger und Edith Kresta in der taz, die sich überrascht zeigen, "auf den Podien in der Mehrzahl Frauen zu sehen, von gängigen Festivals hierzulande ist man das weniger gewohnt. ... Die Veranstalter Popoola, Kutzner und Hirsmeier haben einen aufregenden Lesehorizont in eine genuin transkontinentale und kosmopolitische, afrikanisch-diasporische Welt der Literatur eröffnet." In der FR berichtet Marie-Sophie Adeoso von den Debatten, die auf dem Festival geführt wurden.

Die in Krasnojarsk geborene, seit 1991 in Deutschland lebende Schriftstellerin Olga Martynova berichtet in der FAZ von ihrer Lesereise quer durch Russland, bei der sie "manchmal das Gefühl hat, mich in zwei symmetrischen Situationen zu befinden: In Deutschland versuche ich, die medialen Verzerrungen über Russland zu korrigieren und vice versa in Russland die über Deutschland."

Weiteres: In der NZZ denkt die in Deutschland lebende Schweizer Autorin Monika Schwitters über Idenität nach. Besprochen werden unter anderem Serhij Zhadans "Internat" (Freitag), Ion Luca Caragiales "Humbug und Variationen" (Tagesspiegel), Timo Bluncks "Hatten wir nicht mal Sex in den 80ern?" (Tagesspiegel), Daniel Galeras "So enden wir" (FR) und Simon Schwartz' Comic "Ikon" (Tagesspiegel).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Ursula Renner über Friedrich Hebbels "An meinen Freund Gurlitt":

"Ich dachte dein, als ich die Herrlichkeiten
Der Steiermark vom Berg herab erblickte
..."
Archiv: Literatur

Bühne


Forced Entertainment völlig "Out of Order" am Schauspiel Frankfurt. Foto: Hugo Glendinning

Wunderschön und sehr komisch findet Mounia Meiborg in der SZ das Stück "Out of Order", mit dem das britische Theaterkollektiv Forced Enterteinment am Frankfurter Schauspiel dem guten alten Clown zum großen Auftritt verhilft: "Sechs Menschen in Clownskostümen schlurfen auf die Bühne. Müde und abgekämpft sehen sie aus, ein bisschen widerwillig auch. Die Karoanzüge sind derangiert; die Schminke dagegen - weißer Grund, schwarzer vertikaler Kajalstrich, dick rot übermalter Mund - noch ganz gut intakt. In sechs Bildern unter sechs Neonröhren zeigen sie eine stumme Abhandlung über Sinn und Unsinn des Theaters und des Lebens. Über das Älterwerden und die Vergeblichkeit. Und nebenbei zeigen sie mal wieder, dass es nichts Schöneres gibt, als tollen Schauspielern beim Nichtstun zuzusehen." Weitere Besprechungen in FR und Nachtkritik.

Nach Falk Richter in Hamburg hat jetzt auch Stephan Kimmig am Deutschen Theater in Berlin Elfriede Jelineks Trump-Stück "Am Königsweg" inszeniert. In der taz ist Barbara Behrendt entsetzt, wie wenig der Regisseur mit Elfriede Jelineks Stück in "genialischer Schnellschreiber-Manier" anzufangen weiß: "Als wolle der 59-jährige Kimmig auf Teufel komm raus die Mätzchen einer gerade angesagten jungen Regiegeneration kopieren - dabei sind doch die zynische Coolness und der Kindergeburtstagshumor eines Christopher Rüping oder Martin Laberenz überhaupt nicht sein Ding. Beinahe tragisch, wie ein ernsthafter Menschenerkunder wie Kimmig, dem zuletzt am Deutschen Theater eine hochkonzentrierte 'Phädra' gelungen ist, hier auf pures Allotria und alberne Dekonstruktion abfährt." Ähnlich sehen das Tagesspiegel und Nachtkritik. In der Welt ist Tilman Krause ganz anderer Auffassung. Je weniger von Jelinek übrig bleibe, desto besser: "Denn der Kerngedanke dieses Stücks, das Stephan Kimmig so stimmig als Slapstick-Abfolge inszeniert, ist die totale Orientierungslosigkeit."

Weiteres: Die Nachtkritik resümiert einen Artikel der Zeitschrift American Theater, in dem David Cotes bereits im Dezember vom Niedergang der Theaterkritik in den USA berichtete: "Verleger und Redakteure sind sich vollkommen bewusst, dass die Kritik stirbt. Aber es scheint niemanden zu kümmern. Nach Cotes Schätzung gibt es noch etwa zwei Dutzend fest angestellte Kritiker*innen im gesamten Land, genau weiß das niemand."

Besprochen werden Johan Simons Abend über die erzkapitalistische Ikone Ayn Rand am Hamburger Thalia-Theater (dem Nachtkritiker Stefan Schmidt einige großartige Momente bescheinigt), José María Sánchez-Verdús mystische Oper "Argo" in Schwetzingen (SZ), die Uraufführung von Edward Clugs Ballett "Faust" am Opernhaus Zürich (das Martina Wohlthat in der NZZ als "luftig getanztes Spektakel" beschreibt), Jan-Christoph Gockels Inszenierung von Hebbels "Nibelungen" am Staatstheater Main (Nachtkritik), Abdel Maksouds ideologiekritisches Stück "Café Populaire" am Theater Neumarkt (NZZ, Nachtkritik), das Stück "Kluge Gefühle" der Autorin und Schauspielerin Maryam Zaree auf dem Heidelberger Stückemarkt (FR), Rolando Villazóns  "Fledermaus"-Inszenierung an Berlins Deutscher Oper (Tagesspiegel, Berliner Zeitung, FAZ) und Gabriel Garcia Lorcas träumerisch-trauriges Stück "Yerma" (das Andreas Kriegenburg in Dresden nach Ansicht von FAZ-Kritiker Simon Strauß als "verschwitzte Männerphantasie" inszeniert).

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Kunst


Shanty Megastructure. Bild: Olalekan Jeyifous

Sehr nüchtern, unemotional und darum umso überzeugender erscheint Luise Glum in der taz die Ausstellung "African Mobilities" in der Münchner Pinakothek, die dem postkoloniale Erbe in Vergangenheit und Gegenwart nachspürt. Ein Beispiel: "Mücken können höchstens 500 Meter zurücklegen, dachte man damals. 500 Meter, das war der Abstand, der 'Cordon sanitaire', mit dem die Viertel für die Bewohner schwarzer und weißer Hautfarbe der Stadt Lubumbashi errichtet wurden. Sammy Baloji verarbeitet die Geschichte und Gegenwart seiner Heimatstadt im Kongo in der Arbeit 'Essay on Urban Planning': Bis zur Decke reichen seine schachbrettförmig angeordneten Fotografien, die die rassistische Raumaufteilung der Segregation materialisieren. Verschiedene Luftansichten der Stadt wechseln sich mit akkurat angeordneten Insektenleichen ab, Sinnbilder für die dazwischenliegenden 'kontaktfreien Zonen'."

Kai Strittmatter porträtiert den chinesischen Bildhauer Wu Weishan, gegen dessen monumentale Karl-Marx-Statue sich die Stadt Trier offenbar nicht zu helfen wusste. Richtig warm geworden ist der SZ-Reporter nicht mit dem Auftragskünstler: "Wu ist 56 Jahre alt. Seine Mähne und seine Züge lassen ihn jünger erscheinen, aber der Funktionärsduktus seiner Rede macht das schnell wieder wett. Sein Marx - im wehenden Gehrock entschlossen nach vorne marschierend - symbolisiere 'das Vertrauen Chinas in die eigene Theorie, in den eigenen Weg, in das eigene System und in die eigene Kultur', sagt Wu."

Archiv: Kunst

Musik

Ein beeindruckter Christian Wildhagen war für die NZZ dabei, als Simon Rattle in Zürich ein Konzert gab mit seinem neuen Orchester, dem London Symphony Orchestra. Gespielt wurde Mahlers Neunte: "Im Bewusstsein, dass dem auskomponierten Verstummen am Schluss der Neunten sehr wohl noch etwas folgt, nämlich das in den fünf Sätzen der Zehnten zutiefst autobiografisch ausformulierte Drama der gescheiterten Ehe mit Alma Mahler, bricht Rattle mit der todestrunkenen Melancholie und dem leicht ins Larmoyante kippenden Weltschmerzton, der in vielen Aufführungen vorherrscht. Rattle setzt dem - namentlich in den Mittelsätzen - einen Tonfall der Wut, des Aufbegehrens, der bitteren Ironie, ja des Lebensekels entgegen." In Frankfurt saß FR-Kritikerin Judith von Sternburg im Publikum.

Die Popkritik hat auch weiterhin viel Freude an Janelle Monáes neuem Album "Dirty Computer", mit dem sich die Schauspielerin und Musikerin als Prince-Nachfolgerin empfiehlt, meint Tagesspiegel-Kritikerin Nadine Lange: "Immer wieder zitiert sie ihn mit funky Gitarrenlicks oder Synthesizern, die fiepsen wie zu seinen größten Zeiten", während sie zu ihren "Vagina-Monologen" anhebt: "In dem Song 'Pynk' feiert sie zu sparsamen Plucker-Beats und Fingerschnipsen mit einer Reihe von Vergleichen das weibliche Genital." SZ-Kritiker Jan Kedves hörte ein "ein großartig durchkomponiertes Pop-Album, auf dem die Sängerin Elemente aus der modernen düsteren Trap-Musik der Südstaaten Hand in Hand gehen lässt mit Funk, Soul und Zitaten aus dem Achtzigerjahre-Softrock à la Toto. Trotz des Reichtums an Referenzen klingen die Songs frisch, und hört man genauer auf die Texte, entpuppen sie sich als scharfe Kritik an den Verhältnissen in den USA."



Weitere Artikel: Für die Zeit porträtiert Hannah Schmidt das Stegreif-Orchester. Mit Grausen erinnert sich Karl Fluch in der Textreihe über österreichische Popmusik im Standard an den Erfolg, der dem Kirmes-Techno von DJ Ötzi beschieden war.

Besprochen werden eine Neuauflage von Captain Beefhearts "Trout Mask Replica" (Pitchfork), Philipp Jedickes beim "Crossing Europe"-Festival in Linz gezeigte Dokumentation "Shut Up and Play the Piano" über Chilly Gonzales (Standard), ein Konzert der Pianistin Yuja Wang (Standard), ein Auftritt von Moses Pelham (FR) und ein Konzert des brasilianischen Sängers Ivan Lins mit der hr-Big-Band (FR).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Jan Wiele über John Hartfords "Gentle on my Mind".

Archiv: Musik