Efeu - Die Kulturrundschau

Ohne irgendeinen Bombastschnickschnack

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.05.2018. Die SZ berichtet über den heiklen Fall Junot Diaz, der offenbar Opfer, Täter und PR-Stratege zugleich ist. taz und SZ diskutieren über Wes Andersons "Isle of Dogs": Spricht aus ihm die Liebe des Regisseurs zu Japan oder die Überheblichkeit der Siegermacht? Die Zeit erlebt in Brüssel, wie Milo Rau den Mord an einem schwulen Araber rekonstruiert und dabei sogar den Regen jener Nacht verhört. Im Tagesspiegel empört sich Claus Peymann über die Ticketpreise am Berliner Ensemble unter seinem Nachfolger. Die FAZ jubiliert über die Rekonstruktion der Frankfurter Altstadt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.05.2018 finden Sie hier

Literatur

Bitter: Gerade noch schrieb der gefeierte Schriftsteller Junot Diaz im New Yorker davon, sexuell missbraucht worden zu sein - nun erheben die Autorin Zinzi Clemmons und einige andere Frauen ihrerseits Vorwürfe gegen den dominikanisch-amerikanischen Autor, berichtet Hannes Stein in der Welt. "Der Text war mutig und brillant, sein Autor wurde ausführlich gelobt", schreibt dazu Felix Stephan in der SZ. Doch nun "steht der begründete Verdacht im Raum, dass dieser Text nicht aus einer inneren Notwendigkeit heraus geschrieben wurde, sondern dass es sich vielmehr um eine Art proaktiver Krisen-PR handelt, dass Díaz die Anschuldigungen antizipiert hat und ihnen zuvorkommen wollte".

Weitere Artikel: Iris Radisch fordert in Zeit eine komplette Neugründung der Schwedischen Akademie, um den Literaturnobelpreis nicht für immer verloren zu geben: "Die Zeiten der wunderbar anachronistischen Selbstherrlichkeit der Akademie sind vorbei." Judith von Sternburg berichtet in der FR von der Verleihung des Ovid-Preises an Schriftstellerin Herta Müller. Denis Scheck ergänzt seinen Welt-Literaturkanon um die Werke Voltaires. In der FAZ gratuliert Paul Ingendaay dem Schriftsteller Charles Simic zum Achtzigsten.

Besprochen werden unter anderem Nadja Spiegelmans Debüt "Was nie geschehen ist" (NZZ), Johann Gottfried Seumes erstmals vollständig vorliegende Autobiografie (FR), Naomi Aldermans "Die Gabe" (SZ) und Jan Böttchers "Das Kaff" (FAZ).
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Film



Mit Asghar Farhadis "Everybody Knows" wurden gestern Abend die Filmfestspiele in Cannes eröffnet. Warum die Feuilletons nicht voll sind mit Besprechungen, erklärt Tim Caspar Boehme in der taz: "Statt des üblichen Termins am Vormittag gibt es jetzt parallel zur abendlichen Eröffnungsgala eine Vorführung in einem separaten Kino. Mit der Folge, dass die Presse, die nicht rein digital unterwegs ist, sondern noch auf Papier druckt, ihre Leser mit der Rezension einen zusätzlichen Tag warten lassen muss. In diesem Fall - himmelfahrtsbedingt - sogar zwei weitere Tage." Auch die Online-Filmkritiker haben im übrigen kaum Nachtschichten eingelegt. Verena Luekens FAZ-Festivalblog entnehmen wir immerhin die Notiz, dass der Film zu lang und arg vorhersehbar war und dass es sich um Farhadis bislang schwächsten Film handelt. Bei critic.de finden wir einen Podcast, in dem sich Frédéric Jaeger, Hannah Pilarczyk, Lukas Stern und Philipp Schwarz über den Film unterhalten.



In Deutschland kommt mit Wes Andersons Stoptrick-Animationsfilm "Isle of Dogs" immerhin der Eröffnungsfilm der diesjährigen Berlinale in die Kinos (hier unsere Festivalkritik). In den USA gab es über den Film, der in einem fiktiven Japan spielt und vollgestopft ist mit Japaniana, eine kleinere Debatte über kulturelle Aneignung, erklärt Barbara Schweizerhof in der taz und lässt die Vorwürfe nur halb gelten: "Nicht in allen Beschreibungen dessen, was Anderson hier als 'kulturelle Aneignung' betreibe, erkennt man den Film wirklich wieder. Ist doch 'Isle of Dogs' gerade in seiner Idiosynkrasie und seinem Detailreichtum auch ein Beleg dafür, dass ein Popkultur-Produkt mehr ist als die Absicht seiner Schöpfer. ... Wer mit japanischer Popkultur wirklich vertraut ist, so schrieb Moeko Fujii im New Yorker, wird mit vielen Seiten-Gags belohnt, die sich im unübersetzten Teil des Films verbergen." Tobias Kniebe hält dem in der SZ entgegen, dass "Anderson so tief in seinen eigenen Fantasien lebt, dass er die Privilegien seiner Position in der Welt nicht sehen kann. In diesem Fall ist es die Tatsache, dass er als Angehöriger einer Siegermacht die Kultur eines Landes, auf das seine Väter noch Atombomben geworfen haben, als eine Art Lego-Baukasten aus Klischees benutzt." Außerdem hat David Steinitz mit dem Regisseur gesprochen.

Weitere Artikel: Carolin Weidner war für den Standard bei den Kurzfilmtagen in Oberhausen. In der taz empfiehlt Fabian Tietke eine Filmreihe im Berliner Zeughauskino über 70 Jahre Israel. Katrin Doerksen hat für Kino-Zeit nachgesehen, mit welchen Filmen das Kino ins besiegte Nachkriegsdeutschland zurückkehrte. Das Österreichische Filmmuseum zeigt Filme von Maurice und Jacques Tourneur, berichtet Karl Gedlicka im Standard. Andreas Kilb gratuliert der Schauspielerin Marina Vlady zum achzigsten Geburtstag.

Besprochen werden Niels Bolbrinkers und Thomas Tielschs Kino-Dokumentarfilm "Vom Bauen der Zukunft" über 100 Jahre Bauhaus (Tagesspiegel), die Komödie "I Feel Pretty" mit Amy Schumer (Kino-Zeit, FAZ) und die Netflix-Serie "The Rain" (NZZ).
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Bühne


Milo Raus "Wiederholung" am Théatre National in Brüssel. Foto: Hubert Amiel

Peter Kümmel ist für die Zeit nach Brüssel gereist, wo Milo Rau in seinem neuen Theaterstück "Die Wiederholung" den Mord an einem schwulen Araber rekonstruiert, den vier Männer 2011 in einer verregneten Nacht in Lüttich in ihrem Auto totschlugen. Aus purem Hass auf Homosexuelle: "Die Rekonstruktion ist grandios und porentief. Wenn man poetisch sein wollte, könnte man sagen: Der Regen wird zum Verhör vorgeladen, die Nacht selbst muss im Theater ihre Aussage machen. So wie Hollywood die Gewalt, den Exzess als Belohnung für dialogstarke, handlungsarme Szene offeriert und den Zuschauer mit Blut für seine Geduld entschädigt, so macht es auch Rau. Zwar problematisiert er diese Ästhetik, aber er feiert sie auch, er badet in ihr. Denn nun geht es los." 

Diffamierend findet Claus Peymann die Vorwürfe seines Nachfolgers Oliver Reese, er habe ihm das Berliner Ensemble als leeren Kühlschrank hinterlassen (unser Resümee). An der einen Million Euro Defizit sei Reese selber schuld, er gebe zu wenig Vorstellungen mit zu wenig Besuchern, schreibt Peymann im Tagesspiegel: "Was macht man, um mehr Geld in der Kasse zu haben? Man erhöht die Kartenpreise. Genau das habe ich in den letzten 18 Jahren immer wieder gegen massive Angriffe vom Senat abgewehrt. Trotz chronischer Unterfinanzierung des BE kostete die teuerste Karte zu unserer Zeit 35 Euro. Dieser niedrige Eintrittspreis war ein Kampfpreis, wie an Castorfs Volksbühne. Die massive Preiserhöhung von Reese auf 53 Euro pro Karte halte ich für unmoralisch."

Weiteres: Bisher waren schwarze SängerInnen wie Jessye Norman, Grace Bumbry oder Wilhemina Wiggins Fernandez in der Oper Ausnahmeerscheinungen, meint Christine Lemke-Matwey in der Zeit und hofft vor allem mit der Sopranistin Jeanine De Bique auf mehr Repräsentation. In der NZZ mokiert sich Daniele Muscionico über das Berliner Theatertreffen, über piefige Berliner und ihre Nölereien und Frank Castorf: "Wer die kapitalistischen Verhältnisse kritisiert und 500.000 Euro braucht, um seine Kritik glaubhaft zu machen und sich treu zu bleiben, der denkt in einer Kategorie, die das gemeine Volk 'inkonsequent' nennt. Sandra Luzina resümiert im Tagesspiegel das Wolfsburger Tanzfestival Movimentos.
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Kunst

Nein, Joseph Beuys wurde nach seinem Abschuss über der Krim nicht von Tataren in Filz und Fett gewärmt, sein Schwiegervater war ein übler Nazi und er selbst hing Rudolf Steiner und der Anthroposophie an. Auch im SZ-Gespräch mit Catrin Lorch wird Beuys-Biografie  Hans Peter Riegel nicht müde, die obskuren Seiten der Künstlerlegende ins Licht zu ziehen: "Es geht mir nicht darum, Beuys anzuklagen. Er war ein großartiger Künstler, der jedoch eine gestrige Weltanschauung hatte. Soll man das unter den Teppich kehren? So ist heute nicht bekannt, dass es schon in den Sechzigerjahren an der Akademie vehemente Proteste gegen Beuys wegen dessen 'Germanenkult' und gegen dessen Aggression gab."

Besprochen werden die Fotografie-Schau "Shape of Light" in der Tate Modern (der Laura Cummings im Guardian unter anderem einen ziemlich unscharfen Abstraktionsbegriff vorwirft), die Ausstellung "Wallrafs Erbe" über Kölns verehrten Museumsstifter im Wallraf-Richartz-Museum (FAZ), die Ausstellung "Ein Künstlermuseum für Berlin", mit der das Brücke-Musseum an seine Gründerväter Karl Schmidt-Rottluff, Leopold Reidemeister und Werner Düttmann erinnert (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst

Architektur

Mit bebendem Herzen blickt Matthias Alexander in der FAZ der Eröffnung der Frankfurter Altstadt entgegen, die allen Widerständen zum Trotz zwischen Römer und Dom wiederaufgebaut wurde. Und er triumphiert: "Die erschütternde Mitteilung geht dieses Mal an die zeitgenössischen Architekten, deren Verbände erbitterten Widerstand gegen die Idee geleistet hatten, an das mittelalterliche Frankfurt anzuknüpfen. Erschütternd deshalb, weil das Werk gelungen ist."

Archiv: Architektur

Musik

Einigermaßen lächerlich macht sich die antisemitische BDS-Bewegung in ihren Versuchen, die israelische Eurovision-Kandidatin Netta zu mobben, erklärt Ulrich Gutmair in der taz: Nettas Musik ist ein berauschendes Plädoyer für Diversität, Feminismus und Queer Rights - zum Groll der BDSler: "Warum man einer Gesellschaft zum Vorwurf macht, dass sie ihre Minderheiten nicht unterdrückt, bleibt das Geheimnis der Kritiker ...  Die absurdeste Begründung des Boykottaufrufs lautete, Nettas Botschaft der Selbstermächtigung richte sich nicht an die Frauen in Gaza, als sei die fehlende Ermächtigung von Frauen im Gazastreifen nicht Folge der Politik der dort regierenden islamistischen Hamas. Israelische Popexporte wie die Frauenband A-Wa sind häufig Anlass für begeisterte Kommentare arabischer Hörer, die sich von der Propaganda in ihren Ländern anscheinend wenig beeindrucken lassen." Wir hören - mit freundlichem Gruß an BDS - sehr gerne rein:



In der SZ-Popkolumne begeistert sich Juliane Liebert für Donald Glover alias Childish Gambinos in den Sozialen Medien gerade ziemlich steil gehendes Video "This is America", das sich mit der Waffenvernarrtheit der USA befasst: Es "zeigt den harschen Konstrast von akzeptierter schwarzer Kultur in der Populärmusik und der gesellschaftlichen Realität schwarzer Bürger plakativ, aber sehr fokussiert, ohne irgendeinen Bombastschnickschnack." Daniel Gerhardt staunt auf ZeitOnline über die Zitat- und Referenz-Frequenz des Videos: "Die vollständige Motivanalyse wird wohl Stoff für Universitätsseminare sein. ... Im Angesicht der permanent drohenden Auslöschung afroamerikanischen Lebens erklärt Glover die Ablenkung zur Überlebensstrategie und das Weitertanzen zur obersten Bürgerpflicht.



Weitere Artikel: Thomas Schacher wirft in der NZZ einen Blick ins nächste Saison-Programm des Tonhalle-Orchesters. Als "endlos düster" und "endlos karg" gab sich die Gegenwart beim Donaufestival in Krems zu erkennen, berichtet Christoph Benkeser auf Skug.

Besprochen werden Joe Hagans Biografie über Rolling-Stone-Gründer Jann Wenner (NZZ), ein Konzert der Pianistin Khatia Buniatishvili (Standard), ein Auftritt von Yo La Tengo (Tagesspiegel), der Berliner Konzertzyklus "Edward W. Said Days" (Freitag), das neue Album "Sauvage Formes" des Orchestres Tout Puissant Marcel Duchamp (Jungle World), Elina Dunis Album "Partir" (NZZ) sowie ein Konzert von Renaud Capuçon und Kit Armstrong (Tagesspiegel).

Archiv: Musik