Efeu - Die Kulturrundschau

Gespenstersonate Berliner Art

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11.05.2018. Immerhin Kirill Serebrennikovs Schwarz-Weiß-Musical "Leto" über Punk- und Rockmusik in der Sowjetunion steht in Russland nicht unter Arrest, atmen die Kritiker in Cannes auf. Viel Lob gibt es auch für Sergei Loznitsas Film "Donbass". Die NZZ muss sich nach einer Diskussion über die Zukunft der Volksbühne erstmal die Kante geben. Tagesspiegel und FR werden in der Alten Nationalgalerie von der Wanderlust gepackt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.05.2018 finden Sie hier

Film



Feiertagsbedingt und wegen der neuen Presseregeln trudeln die ersten Besprechungen zu Asghar Farhadis Cannes-Eröffnungsfilm "Everybody Knows" erst jetzt ein. Die Tendenz der ersten Online-Kritiken bestätigt sich allerdings: Das mit Penélope Cruz und Javier Bardem besetzte, in Spanien gedrehte Familiendrama des iranischen Regisseurs hinterlässt bei den meisten Kritikern einen allenfalls lauen Eindruck - wobei SZ-Kritiker Tobias Kniebe den Film immerhin für "wieder packend und brillant inszeniert" hält.



Weitaus mehr Interesse rufen Sergei Loznitsas in der Nebenreihe "Un Certain Regard" gezeigert Film "Donbass" und Kirill Serebrennikovs Wettbewerbsfilm "Leto" hervor. "Donbass" schildert in seinem fragmentierten Film Episoden aus den Auseinandersetzungen zwischen prorussischen Separatisten und der ukrainischen Armee - gerahmt von Meta-Reflexionen, in denen Loznitsa sein eigenes Vorgehen transparent macht, wie Tim Caspar Boehme in der taz erklärt, der davon spricht, dass der Film "die Realität womöglich in ungefilterter Drastik zeigt." Dominik Kamalzadeh würdigt den Regisseur im Standard als "hellsichtigen Geschichtspessimisten": Loznitsa "sieht einer Gesellschaft dabei zu, wie sie in Stammesformationen zerfällt." Daniel Kothenschulte dämpft die Ergriffenheit in der Berliner Zeitung allerdings ein wenig: Ihn stört Loznitsas Neutralität. Dabei wäre es dem Filmemacher gut möglich gewesen, "das Thema da anzupacken, wo es wehtut. Auf beiden Seiten gibt es genug tabuisierte Verbrechen, um hier in die Tiefe zu gehen; seine Neutralität hätte Lotznitsa dafür nicht einmal aufgeben müssen. Stattdessen entsteht der Eindruck der Konfliktvermeidung."



In seinem Schwarzweiß-Musical "Leto" widmet sich der - in Russland derzeit unter Hausarrest stehende - Filmemacher Kirill Serebrennikov indessen der Rolle von Punk- und Rockmusik in der Sowjetunion der frühen 80er. Im Mittelpunkt steht der in der Sowjetunion damals verehrte, koreanisch-stämmige Musiker Viktor Tsoi, der 1990 bei einem Autounfall ums Leben kam. Von "euphorischer" Stimmung im Saal berichtet Andreas Busche im Tagesspiegel: Dem Film eigne "trotz der aktuellen politischen Bürde eine Leichtigkeit, in der eine unterschwellige Sentimentalität genauso mitschwingt wie die ungestüme Energie des Punk." Dass der Film sein Schwarzweiß immer wieder für eingestreute Super8-Aufnahmen und Videoclip-Sequenzen fallen lässt, ist laut NZZ-Kritikerin Susanne Oswald "formal zwar keine Revolution, aber doch sinnfällig und unterhaltsam." Dass lediglich Serebrennikov, nicht aber der Film unter Arrest steht, erklärt Hanns-Georg Rodek in der Welt: "Es ist nichts Kontroverses in Serebrennikows Film, im Gegenteil, Putins Russland könnte sich freuen, wird hier doch einem eigenen Idol der Populärkultur ein Denkmal gesetzt."



Ziemlich begeistert ist Beatrice Behn von Kino-Zeit von Wanuri Kahius in "Un Certain Regard" gezeigtem Film "Rafiki": In Kenia ist die Regisseurin bereits "eine der treibenden Kräfte in Sachen Film und Politik" und legt mit "Rafiki" einen "poppigen, bunten und modernen" Film vor, der "sich als eindeutig feministisches Werk positioniert, das kritisch auf die Männergesellschaft Kenias schaut, aber auch auf die Selbstregulation der Frauen, die sich entweder von Haus aus selbst oder gegenseitig in Schach halten." Auf critic.de zeigt sich Frédéric Jaeger fasziniert von der "völlig ungenierten Freiheit, manifest unsubtil und lustvoll überdeutlich zu sein, in Farben, Blicken und der Inszenierung schwarzer Haut für die große Leinwand." In Kenia ist der Film über eine lesbische Liebesgeschichte im übrigen schon verboten.

Abseits von Cannes: Esther Buss (Jungle World) und Bert Rebhandl (FAZ) berichten von den Kurzfilmtagen in Oberhausen. In der taz schreibt Toby Ashraf über die zornigen Filme von Peter Watkins, die im Berliner Kino Wolf zu sehen sind. Susanne Ostwald widmet sich der NZZ dem Stau im Kino. Gary Vanisian gratuliert im Freitag der Schauspielerin Marina Vlady zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Wes Andersons "Isle of Dogs" (FR, Standard, Tagesspiegel, unsere Kritik hier), John Woos bei Netflix veröffentlichter Film "Manhunt" (Perlentaucher), die neue Amy-Schumer-Komödie "I Feel Pretty" (ZeitOnline), die zwar hervorragend besprochene, von Arte aber weder im Livestream, noch in der Mediathek gezeigte Serie "Sieben Seiten der Wahrheit" (NZZ, FAZ, FR) und Alice Agneskirchners Dokumentarfilm "Auf der Jagd. Wem gehört die Natur?" (SZ).
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Literatur

Das Logbuch Suhrkamp liefert Martin Heckmanns' ersten Reisebericht von seinem halbjährigem Aufenthalt in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens: "In der verwalteten Natur ließ sich auf dieser Reise erkennen, wie die Länder der ehemaligen Volksrepublik sich voneinander entfernten. Die Felder in Slowenien waren gemäht wie zuvor in Österreich und die Kühe posierten vor Geranien auf Balkonen an beschaulichen Bauernhäusern. Unter der Franzenbrücke in Ljubljana verlief schon der Fluss in die nächste Zeit. Durch Kroatien streunten herrenlose Hunde und Katzen, die Plattenbauten von Zagreb standen trotzig zu ihrer sozialistischen Vergangenheit. Aber erst an der Grenze zu Bosnien begann ein offensichtlich anderes Europa."

Weitere Artikel: Im Hundertvierzehn-Blog des S.Fischer-Verlags sendet der Schriftsteller Henning Kober Notizen von seiner Reise nach Nicaragua im Jahr 2016. Claus-Jürgen Göpfert schreibt in der FR über Georgien, das Gastland der Frankfurter Buchmesse. Paul Jandl fasst in der NZZ die wütenden politischen Reden der Schriftsteller Josef Winkler (in Klagenfurt) und Michael Köhlheimer (in Wien zum Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus) zusammen, die damit in Österreich für einige Wallungen sorgen.

Besprochen werden unter anderem Khaled Khalifas "Der Tod ist ein mühseliges Geschäft" (NZZ) ,James Carlos Blakes "Red Grass River" (Tagesspiegel). Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Bühne

Über die Zukunft der Volksbühne als "Medium zwischen Sprechtheater und Performance" und noch über einiges mehr wurde bei einer Publikumsdiskussion unter dem Motto "Dazwischen" an der Volksbühne gesprochen, nur über die politischen Konsequenzen nach Chris Dercon wurde leider geschwiegen, schreibt Daniele Muscionico in der NZZ und seufzt: "Berlin ist, wo man im Theater in Flip-Flops über den Begriff 'Immersion' debattiert und den anderen mit der Verachtung straft, die man möglicherweise für sich selber empfindet. Wieso eigentlich hört hier keiner keinem zu? Für Außenstehende sind harte Spirituosen notwendig, um diese Gespenstersonate Berliner Art zu bestehen: eine Gesellschaft der Geister, gefangen in ihren erfundenen Geschichten und Erinnerungen."

Enttäuscht berichtet Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung vom 40. Stückemarkt beim Berliner Theatertreffen: "Eigenartig abgeklärt, kantenlos, ganz im Theoriesprecheinerlei der Vermarktungsrhetorik eingehüllt, mit der die fünfköpfige Jury ihre Auswahl bei der Eröffnung und in Autorengesprächen anpreist, plätschern die drei Lesungen und drei Performances dahin." Bemerkenswert scheint ihr immerhin das Stück "Amsterdam" der Israelin Maya Arad Yasur über eine jüdische Violinistin, "die nicht nur gegen eingebildeten und wahrgenommenen Alltagsrassismus kämpft, sondern plötzlich eine gespenstische Gasrechnung zugeschickt bekommt, von 1944. Langsam entrollt sich daraus die jüdische Vertreibungs- und Widerstandsgeschichte Amsterdams."
 
Weiteres: In der Welt porträtiert Eva Biringer Christopher Rüping, der Brechts "Trommeln in der Nacht" beim Berliner Theatertreffen inszeniert und in dem sie einen neuen Typus von Theaterregisseuren erkennt: "frei von Allüren, entschieden politisch, mit einem Herz für flache Hierarchien, sensibel für Themen wie Gleichberechtigung und Sexismus und flexibel in ihrer Ausdrucksform."
 
Besprochen werden Tatjana Gürbacas Inszenierung von Mozarts Oper "La finta giardiniera" in Winterthur (SZ), Olivia Wenzels "1 yottabyte leben" beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens (taz), ein Abend mit jiddischen Operettenliedern an der Komischen Oper Berlin (Mehr davon, ruft Susanne Lenz in der Berliner Zeitung Intendant Barrie Kosky entgegen), Stephan Rottkamps Inszenierung von Oliver Bukowskis "Verzicht auf zusätzliche Beleuchtung" bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen.
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Musik

Tobi Müller konnte für die NZZ bereits ins neue, für Ende Juni erwartete Album von Kamasi Washington reinhören: Es gebe nun "mehr Grooves, welche die zwei Schlagzeuger antreiben und ständig durchbrechen; und durchlaufende Basslinien reduzieren die Komplexität. ... Während 'The Epic' noch eine Reihe von Möglichkeiten anklingen ließ, als müsse man dem Publikum zuerst die ganze Bandbreite des Jazz aufzeigen, gewinnt Washingtons Projekt so auf 'Heaven and Earth' mehr Kontur. Sein verblüffender Weg über die Genregrenzen hinweg erschließt sich jetzt auch musikalisch besser." Ein kleinen Appetizer gibt es auf Youtube:



Weitere Artikel: Roman Gerold plaudert für den Standard mit der Musikerin Susanne Kirchmayr alias Electric Indigo, die gerade ihr Debütalbum veröffentlicht hat. Philipp Weichenrieder porträtiert in der taz die sozial engagierte Rapperin Little Simz. Und  DJ Koze erklärt im Jungle-World-Gespräch: "Ich suche in jeglicher Musik nach einem Schmerz und einer Seele und einem Mysterium."  (mehr zu seinem neuem Album hier).

Besprochen werden neue Alben von Mouse on Mars (Freitag), Jon Hopkins (Pitchfork) und Beach House (Pitchfork), ein Konzertabend mit Jan Böhmermann und dem Rundfunk-Tanzorchester Ehrenfeld (SZ, im Freitag gibt es ein Porträt des Orchesters), Sam Smiths Auftritt in Zürich (NZZ), ein Konzert von Bobby McFarin (Standard), ein Konzert von Daniel Barenboims Staatskapelle in Wien mit der Pianistin Martha Argerich (Standard) und weitere neue Popveröffentlichungen, darunter Lauren Ruth Wards "Well, Hell" (ZeitOnline).
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Architektur

Ein wenig spät, aber immer noch fassungslos antwortet Gerhard Matzig in der SZ dem Architekturtheoretiker Stephan Trüby, der in der FAS das Projekt "Neue Frankfurter Altstadt" im Besonderen und die deutsche Rekonstruktionsarchitektur im Allgemeinen als "Schlüsselmedium der autoritären, völkischen, geschichtsrevisionistischen Rechten" bezeichnete. (Unser Resümee) "Verstörend hysterisch" erscheint Matzig die Debatte: "Es ist verrückt: Wenn man das Bewahren oder Wiederherstellen tradierter Stadtstrukturen richtig findet, ist man plötzlich im Verdacht, dem Faschismus nahezustehen. Wenn man aber die Zeitgenossenschaft im Bauen und auch die Veränderung als das akzeptiert, was sie sind, notwendige Teile einer auch stadträumlichen Evolution, die immer schon ein Miteinander und Austarieren von Bewahren und Verändern, von Anpassen und Weiterentwickeln war, dann ist man offenbar ebenso kriminell."
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Kunst

Bild: Gustave Courbet. Die Begegnung oder Bonjour Monsieur Courbet, 1854. Öl auf Leinwand, 132 x 150,5 cm. © Musée Fabre de Montpellier Méditerranée / Frédéric Jaulmes
Von der Wanderlust gepackt wird Simone Reber im Tagesspiegel in der gleichnamigen, ihrer Meinung nach "fulminanten" Ausstellung in der alten Nationalgalerie, die anhand einer Auswahl überwiegend romantischer Werke interessante Einblicke in die Kulturtechnik des Wanderns bietet: "Während der Adel bei seiner Bildungsreise, der Grand Tour, in der Kutsche unterwegs war, gingen die Künstler zu Fuß. Die unbeschriebene Landschaft bot ihnen die Chance, die Gesellschaftsordnung neu zu definieren. Dabei birst der französische Maler Gustave Courbet vor Selbstbewusstsein. Im milden Licht der Mittelmeerküste malt sich Courbet bei der Begegnung mit seinem Mäzen Alfred Bruyas. Der Künstler reckt keck seinen dunklen Bart, während der Millionär mit gesenktem Blick ehrerbietig grüßt. In der Ferne ist die Kutsche zu sehen. Courbet aber trägt stolz seinen Tornister mit den Malutensilien selbst. In Wahrheit reiste der Künstler allerdings mit der Bahn nach Montpellier."

In der FAZ meint Andreas Kilb: "Die Ausstellung will eher unterhalten als belehren. Wer gekommen ist, um zu staunen, wird reich beschenkt, wer nach Erkenntnissen sucht, greift ins Leere." In der FR lobt Ingeborg Ruthe die Ausstellung.

Weiteres: Von einer von radikalen katholischen Gruppen initiierten, rechten Hetzkampagne gegen eine Graffiti-Ausstellung im Goethe-Institut im brasilianischen Porto Alegre berichtet Andreas Behn in der taz.

Besprochen wird die Hans-Josephson-Retrospektive im Essener Folkwang Museum (SZ). Nachrufe zum Tod des dänischen Bildhauers, Malers, Forschers und Essayisten Per Kirkeby bringen Welt, FR und Standard.
Archiv: Kunst