Efeu - Die Kulturrundschau

Flipperkugeln durch den Kinosaal

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14.05.2018. Frauen in Cannes. Die FAZ lernt, dass in 71 Jahren gerade mal 82 Regisseurinnen auf dem Festival vertreten waren. Schade nur, dass Eva Hussons Film über jesidische Kämpferinnen so schwach war, meint die SZ. Die Welt erlebt mit Jean-Luc Godards kyptischem Bilderreigen "Le livre d'image" einen Seh- und Hörsturm. Die NZZ fragt, warum sich das moderne Musikdrama immer häufiger in diffuse Mehrdeutigkeit flüchtet. Die FAZ erlebt in Singapur ein Dorf auf Steroiden. Und in der Berliner Zeitung ruft Toni Morrison: "Verschont mich mit euren kleinen Geschichten über euch und eure Großmutter."
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.05.2018 finden Sie hier

Film



82 filmschaffende Frauen sind in Cannes zum Women's March angetreten, berichtet Verena Lueken im FAZ-Blog. Die Zahl war dabei kein Zufall, erfahren wir: "Seit 1946 waren genau 82 Frauen mit ihren Filmen hier und konnten diese Treppe erklimmen. Ihnen gegenüber standen 1866 Männer, so hieß es in einer Erklärung, eine abgezählte, keine geschätzte Zahl." Schade bloß, meint Tobias Kniebe in der SZ, dass Eva Hussons im Anschluss gezeigter Wettbewerbsfilm "Les filles du soleil" über eine Gruppe jesidischer Frauen, die vom IS versklavt wurde, sich befreite und den Islamisten anschließend den Kampf ansagte, nicht gut war: "Er trägt den Anspruch vor sich her, von einen tatsächlichen Konflikt auf Leben und Tod zu erzählen, aber schon das militärische Funktionieren dieser Fraueneinheit grenzt an unfreiwillige Satire. ... Was man trotz nobler Intentionen hier erwarten könnte, wäre ein Hauch von Respekt vor der Wirklichkeit - diese Truppe hätte in den Bergen des Nordirak keine fünf Minuten überlebt." Auch Dominik Kamalzadeh vom Standard hält den Film für "auf vielen Ebenen gescheitert."

Zu den alten Männern des Cannes-Zirkus zählt der mittlerweile 87-jährige Jean-Luc Godard, der mit seinem "Le livre d'image" im Wettbewerb vertreten ist: Ein (wie auch der Teaser nahelegt) offenbar wild delirierender, sich durch die Film- und Kriegsgeschichte assoziierender Experimentalfilm-Bilderreigen mit Godard-typischen Kryptizismen, waghalsigen Thesen und verwegenen politischen Ansichten. Taz-Kritiker Tim Caspar Boehme - der ansonsten offenbar viel Freude an Jia Zhangkes "Ash is Purest White" hatte - streckt angesichts dessen die Waffen: Godard "will es einem ums Verrecken nicht leicht machen mit dieser Reflexion über das Bild und die Lage der conditio humana". Von einem "veritablen Seh- und Hörsturm", spricht Hanns-Georg in der Welt: "Ihm mit einer analytischen Brille trotzen zu wollen, ist aussichtslos."

Nackt will NZZ-Kritikerin Susanne Ostwald den Kaiser indessen nicht heißen: Godard nutzt "die digitale Technik in zuvor nicht gesehener Weise, schafft ein flirrendes und irritierendes Werk, das lange nachwirkt." Dass der Filmemacher - mit seinem Hang, politisch ins Kraut zu schießen - im zweiten Teil seines Films ausgiebig auf die arabische Welt zu sprechen kommt, könnte allerdings Anlass von Kontroversen werden, erklärt Ostwald weiterhin - zumal er dabei im Voiceover auch Sätze fallen lässt wie "Ich bin immer auf der Seite der Bombe, denn es gibt kein anderes Mittel gegen die Regime." Das sei alles wirklich nicht mehr "kohärent", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel, versichert den Skeptikern aber: "Die Form ist bestechend. Vor allem den Mehrkanalton weiß er, im Gegensatz zur 3-D-Technik, spektakulär einzusetzen. Die stereophonischen Effekte, die Stimmen und Geräusche wie Flipperkugeln durch den Kinosaal jagen, doppeln die Vielschichtigkeit von Godards Ideengeschichte."

Abwesend war auch Jafar Panahi - wenngleich aus anderen Gründen: Der Iran lässt den Filmemacher noch immer nicht ins Ausland reisen. An der Croisette gezeigt wurde sein neuer Film "Drei Gesichter", in dem es darum geht, dass sich ein Mädchen, das sich dazu entschließt, Schauspielerin zu werden, umbringt, nachdem ihre Familie ihr dies verboten hat: Panahi selbst geht der Geschichte in seinem Film nach, herausgekommen ist dabei "ein Roadmovie, eine Erkundung in ein Land patriarchaler Ordnung", schreibt Verena Lueken in der FAZ. Und auf critic.de hält Frédéric Jaeger fest: "Die politische Positionierung pro Kunst, pro Freiheit, pro Mobilität hat wenig Deklamatorisches. Sie geriert sich als suchend, obwohl sie die Bewegung vielmehr dafür nutzt, Panoramen einzufangen und Politik mit dem ländlichen Raum zu machen, nicht für ihn."

Mehr aus Cannes: Hanns-Georg Rodek bespricht Wim Wenders' in Cannes gezeigte Papst-Doku, in der der Regisseur seiner Begeisterung für den aktuellen Pontifex freie Bahn lässt - Halleluja! Zudem hat Rodek in Erfahrung gebracht, dass Saudi-Arabien, wo es bis vor kurzem noch keine Kinos gab, der Filmindustrie in Cannes reizvolle Drehort-Angebote macht. Für den schnellen Überblick empfehlenswert: Der Kritikerspiegel von critic.de.

Abseits von Cannes: Matthias Dell präsentiert im Freitag die aktualisierte Version des Überblicks, welche Kinos in Deutschland eigentlich noch analoges Material projizieren. Oskar Roehler gibt im ZeitMagazin wirre Träume zum Besten.

Besprochen werden Isabel Coixets "Der Buchladen der Florence Green" (SZ), Florian Opitz' Dokumentarfilm "System Error" (taz), der Thriller "Der Kurier" mit Daniel Radcliffe (SZ) sowie die Serien "National Treaure" und "Looming Tower" (Freitag). Auch ZeitOnline empfiehlt eifrig neue Serien.
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Literatur

Wenn sie an Trump denkt, packt Toni Morrison im Interview mit der Berliner Zeitung die Verbitterung. Aber es gibt auch Hoffnung, meint sie, #BlackLivesMatter oder die Bewegung gegen Waffen zum Beispiel: "Diese jungen Leute scheinen ihre Sache ernstzunehmen und Aktivismus nicht einfach als vorübergehendes Hobby zu betrachten. Sie besuchen Bürgerforen und rücken Politikern auf den Leib. Sie scheinen auch von den Vorurteilen älterer Generationen frei zu sein. Ich habe erst vor kurzem aufgehört, an der Universität Princeton Literatur zu unterrichten. Unter meinen letzten Studenten dort bemerkte ich eine Offenheit, die mir neu war. ... Von der Literatur bin ich weniger beeindruckt. Sie schreiben alle über sich selbst! In Princeton bläute ich meinen Studenten am Anfang jedes Semesters ein: Verschont mich mit euren kleinen Geschichten über euch und eure Großmutter. Schreibt über eine alte Frau in Paris, die sich an ihr Leben als Kurtisane erinnert. Anders gesagt: Schreibt über etwas, von dem ihr keine Ahnung habt, erfindet, erschafft etwas Neues."

Wer China verstehen will, muss chinesische Literatur lesen, erklärt Kai Marchal auf ZeitOnline. Mit gängigen China-Klischees werde man der Literatur des Landes nicht gerecht und mit herablassender Ignoranz sowieso nicht: "Zeitgenössische, chinesischsprachige Literatur ist vielgestaltig wie ein schillerndes Fabelwesen und behauptet sich immer erfolgreicher auf dem globalen Literaturmarkt. ... Weltliteratur wird in China vielleicht auch einfach deshalb chaotischer, fantastischer, serieller, hybrider und ausschweifender, weil sie die Schicksale von so viel mehr Menschen widerspiegelt."

Weitere Artikel: In der FAS hofft Julia Encke zum anstehenden 150. Geburtstag Stefan Georges auch auf mehr Offenheit zum Thema sexuellem Missbrauch in diesem Kreise: "Die Frage ist: Was gibt es zu feiern? Was gilt es zu benennen? Mit dem Jahrestag steht, wie es aussieht, vor allem der mit einer Kultur des Verschweigens verschränkte George-Kult ums Geheimnis zur Diskussion. Denn es ist ja nicht so, dass das Geraune und die Geheimnistuerei in der George-Forschung aufgehört haben." Im Hundertvierzehn-Blog erinnert sich Andrew Sean Greer an gescheiterte Stipendiums-Anträge und damit verworfene Romanprojekte. Deutschlandfunk Kultur bringt ein Feature von Carsten Hueck über das Verhältnis israelischer Schriftsteller zu ihrem Land.

Besprochen werden unter anderem der kulturwissenschaftliche Sammelband "Comics an der Grenze" (Tagesspiegel), Celeste Ngs "Ich habe meinen Sohn im Koffer gelassen" (Standard), George Saunders' "Lincoln im Bardo" (FR), Ralf Rothmanns "Der Gott jenes Sommers" (Zeit), "Mutterland" von Paul Theroux (Standard), Mario Schlemmbachs "Nebel" (Standard) und Michael Angeles Porträt "Schirrmacher" (SZ). Außerdem versammeln wir im aktuellen Bücherbrief die besten Bücher für den Mai.

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie beschäftigt sich Jochen Hieber mit Ludwig Harigs Gedicht "Das Spiel an sich":

"Der Wille ist gewiß die Kraft und Überwindung
des innren Schweinehunds, den Luther schon beschrieben.
..."

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Bühne



Barbara Hannigan, Stéphane Degout and Gyula Orendt in "Lessons in Love and Violence".  © Stephen Cummiskey / The Royal Opera

In London wurde George Benjamins Oper "Lessons in Love and Violence" uraufgeführt, die das fatale Liebes- und Machtgefüge aus Christopher Marlowes Tragödie über den schwulen König Eduard II. bearbeitet. In der FAZ bewundert Gina Thomas die Symbiose von Gewalt und Sinnlichkeit in Benjamins Adaption. In der NZZ fragt sich Marco Frei, warum alle zeitkritischen Bezüge auf ein Minimum gestutzt wurden. Er erkennt darin den Hang des modernen Musiktheaters, sich in diffuse Mehrdeutigkeit zu flüchten: "Es müssen nicht Bilder von Flüchtlingsbooten oder von politischen Gruselclowns des Heute eingeblendet werden, um klar Stellung zu beziehen. Allerdings reicht es auch nicht aus, unverbindliche Assoziationen in den Raum zu stellen. Mit ihren vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten kann gerade die Opernbühne zeitkritische Diskurse generieren. Ein neues Musiktheater, das inmitten von Populismus und drohender Entdemokratisierung nicht deutlich Position bezieht, manövriert sich selber ins Abseits."

Weiteres: "Elfriede Jelinek sei Dank, es gibt es noch, das explizit politische Theater", seufzt Katrin Bettina Müller in der taz, nachdem sie beim Berliner Theatertreffen Falk Richters Inszenierung von Jelineks Trump-Stück "Am Königsweg" gesehen hat. Für den Tagesspiegel hat sich Peter von Becker die Münchner Kammerspiel-Produktion "Trommeln in der Nacht" angesehen.

Besprochen werden Armin Petras' Theaterfassung von George Orwells "1984" am Düsseldorfer Schauspielhauses (Nachtkritik) Ewald Palmetshofers aktualisierte Fassung von Gerhart Hauptmanns "Vor Sonnenaufgang" bei den Ruhrfestspielen in Recklingshausen (SZ, Nachtkritik), Dimitris Papaioannous Choreographie "Seit sie" für das Tanztheater Wuppertal (Nachtkritik), Sebastian Baumgartens unterhaltsame Inszenierung von Oscar Wildes "Salome" am Schauspiel Frankfurt (FR), Nassim Soleimanpours "White Rabbit, Red Rabbit" bei den Maifestspielen in Wiesbaden (FR) und Barrie Koskys Inszenierung von Händels "Semele" an der Komischen Oper (Berliner Zeitung).
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Musik



Die Antisemiten der BDS-Kampagne beißen vor Wut in den Teppich: Die Israelin Netta hat mit ihrem Song "Toy" den Eurovision Song Contest gewonnen. Die Sängerin "verkörperte in Lissabon das klassische Konzept des hässlichen Entleins, das zum regenbogenhaft kolorierten Schwan wird", schreibt Jan Feddersen in einem kleinen taz-Porträt. Hier wurde "ein absolut wünschenswertes Rollenmodell" ausgezeichnet, freut sich Thorsten Keller in der Berliner Zeitung. Auf ZeitOnline schrieb Jens Balzer bereits vor dem Finale über Homophobie und Antisemitismus, in einem Fazit bemerkt er zudem, dass in diesem Jahr "zahlreiche hilfsbedürftige Männer" auf den hinteren Plätzen anzutreffen waren. Bemerkenswert unbefangen ging beispielsweise der tschechische Sänger Mikolas Josef mit seinen Inkontinenzproblemen um." Auch Karl Fluch (Standard) und Marco Schreuder (nochmal Standard) ziehen Contest-Bilanz.

Weitere Artikel: In der Standard-Reihe über Austro-Pop erinnert Karl Fluch an die ersten Falco-Alben. Roman Bucheli erzählt in der NZZ ausführlich, wie die Freundschaft zwischen der Dirigentin Graziella Contratto und der Sopranistin Lisa Larsson zustande kam.

Besprochen werden Timo Büchners Studie "Weltbürgertum statt Vaterland - Antisemitismus im Rechtsrock" (Freitag), das neue Album von Ry Cooder (Standard), ein Konzert der Wiener Philharmoniker unter Andris Nelsons (Standard) und Bob Dylans 1997 erschienenes Album "Time out of Mind" (Pitchfork),

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Tilman Spreckelsen über Gordon Lightfoots"If You Could Read My Mind" und  "Shadows":

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Kunst

In der Neo-Rauch-Ausstellung im Museum de Fundatie im niederländischen Zwolle erkennt FAZ-Kritiker Stefan Trinks die Windmühlen in den zunehmend barocken Bildern des Leipziger Malers. Im Tagesspiegel schreibt Christiane Meixner einen Nachruf auf den Berliner Museumsdirektors und Malers Dieter Ruckhaberle, dem die Stadt den Gropiusbau, das Künstlerhaus Bethanien und die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst verdankt.
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Architektur


Ole Scheerens schwindelerregende Schichtungen "The Interlace".

Von Singapur lernen, heißt Verdichtung lernen, weiß FAZ-Kritiker Ulf Meyer und preis die Bauten des bei Rem Koolhaas in die Schule gegangenen Architekten Ole Scheeren: "Das Großgebäude des deutschen Wunderkinds der Architektur in Singapur heißt 'Interlace', was man mit Verknüpfung, Verflechtung, Verschachtelung und Verschränkung übersetzen kann; genau das sind Scheerens architektonische Ziele bei seinem ersten Entwurf in dem tropischen Stadtstaat gewesen... Scheeren hat entlang des Ayer Rajah Expressways mehr als tausend Wohnungen zu einem schwindelerregenden vertikalen Dorf auf Steroiden übereinandergeschichtet: Wie eine 'zeitgemäße Interpretation' (Scheeren) - eher: eine grotesk-mutige Mutation - der berüchtigten Bijlmermeer-Siedlung in Amsterdam wirkt die Wohnanlage: Hier wie dort ist die Siedlung um hexagonale Höfe herum aufgebaut."

Allen, die demnächst zur Architektur-Biennale nach Venedig fahren, empfiehlt Brigitte Werneburg in der taz die neue Ausgabe der Zeitschrift Arch+, die ziemlich grundsätzlich die Frage nach Grund und Boden stellt: "Inzwischen kommt eine von zwei Personen genutzte Ferienwohnung auf drei Einwohner Venedigs."

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