Dieses leichte b-Moll, das sich ins Leben schleicht
30.05.2018. Der Comic wird Essay, bemerkt die NZZ beim Lesen der neuen Werke von Magdalena Kaszuba und Julia Hosse. Die Welt erschauert in der Zeche Zollverein noch einmal wohlig vor der Monumentalität des Kohlbergbaus. Die SZ lernt im Gorki Theater von Barış Atay, dass die erfolgreiche Autokraten als kumpelige Underdogs daherkommen. Im New Yorker Metropolitan Museum lässt sich die FAZ auf den Jungfrauenkult ein, wenn er im Gewand Balenciagas daherkommt.
Kunst, 30.05.2018
Martha Rosler: Photo Op, 2004-2008. Image courtesy of the Artist, Mitchell Innes and Nash, New York and Galerie Nagel Draxler Berlin/ Köln Als Schule der Autonomie feiert Elena Koworin in der taz die Ausstellung "War Games", mit der die beiden Künstlerinnen Hito Steyerl und Martha Rosler im Kunstmuseum BaselKriegstreiberei in den Massenmedien analysieren, aber auch das Whitewashing in der Kunst oder das Thema zollfreie Lagerung: "Roslers "House Beautiful: Bringing the War Home, New Series" 2004-2008 verbindet die Darstellungen aus dem gleichnamigen Hochglanzmagazin des westlichen Lifestyles mit Bildern aus dem Irak- und Afghanistankrieg. Verstümmelte Opfer sind auf Designersesseln platziert, während im Bildvordergrund ein Model mit einem Mobiltelefon posiert - das Bildmaterial findet Rosler interessanterweise im gleichen Heft, dort ist es freilich auf unterschiedlichen Seiten verstreut."
"Das Zeitalter der Kohle" in der Kokerei der Zeche Zollverein.
Ziemlich üppig findet Dankwart Guratzsch in der Welt, wie siebzehn Museen des Ruhrgebiets mit "Kunst und Kohle", ihrem Gründungsstoff den Ausstand geben. Besonders beeindruckt hat ihn allerdings die Ausstellung "Das Zeitalter der Kohle" in der Essener Zeche Zollverein, da gerät Guratzsch richtig unter Dampf, wenn er über das entfesselte Ungeheuer in der Tiefe schreibt, das Menschen verschlingt und Massen gebiert: "Was für ein Thema der Menschheitsgeschichte! Aus der Erdkruste wird ein aterial herausgebohrt und -gebrochen, das den neu entwickelten Maschinen größere Schubkraft verleihen soll. Die treten damit aus ihrer dienenden Rolle heraus und entwickeln Turbo-Leistungen, die sie - noch merkt es niemand - zu den heimlichen Herren der Gesellschaft machen. Die Machtergreifung aus der Tiefe der Erde zeichnet die Ausstellung schlaglichtartig nach, in Räumen, Türmen, Schächten dieser Industrie, die jetzt außer Dienst gestellt sind, auf rohen, nackten, fleckigen Betonwänden von einschüchternder Monumentalität." Im Tagesspiegelerscheint Jonas Lages die Ausstellungen dann am interessantesten, wenn sie über den eigenen Tellerrand hinausblicken, etwa nach Südafrika mit den Arbeiten von Mohau Modisakeng im Dortmunder Museum Ostwall.
Weiteres: In der NZZhält Ulrich M. Schmid die Attacke auf Ilja Repins gemälde von iwan dem Schrecklichen für einen weiteren Beleg, wie die Kultur in Russland politisch instrumentalisiert wird: "Die nationale Geschichte tritt aus dem Schattendasein akademischer Debatten und wird im öffentlichen Diskurs sakralisiert." Im Tagesspiegelporträtiert Andreas Hartmann den Künstler und Musiker Carsten Nicolai. In der Berliner Zeitung verabschiedet Ingeborg Ruthe den verstorbenen Bildhauer Gerhard Thieme.
Besprochen werden eine große Schau des Street-Art-Künstlers Fairey in der Wiener Galerie Ernst Hilger (Standard) und die Ausstellung "Shape of Light" in der Londoner Tate (Welt).
Literatur, 30.05.2018
Der Comic wird essayistisch, nähert sich zunehmend der Kunst an, fällt Christian Gasser von der NZZ nach der Lektüre neuer Arbeiten von MagdalenaKaszuba (hier eine Besprechung auf CulturMag) und JuliaHosse (hier ein Gespräch im DLF Kultur) auf. Nach einer langen Phase künstlerisch ambitionierter Autobiografien und Comicreportagen, die das Formenrepertoire erweiterten, "erscheinen nun mehr und mehr auch grafische Essays, die persönliche, politische, gesellschaftliche oder wissenschaftliche Themen in erster Linie visuell reflektieren. ... Wie wichtig das Bild in diesen grafischen Essays ist, zeigt sich am Text-Bild-Verhältnis. In beiden Bänden ist der Text auf ein Minimum reduziert, auf einzelne, zumeist sachliche Sätze. Losgelöst vom Bild sind die Texte schlicht und banal. Ihre Funktion ist es, die Bilder zu verorten. Die Aussagen stecken in den Zeichnungen, nicht in den Worten."
Sibylle Lewitscharoffgeht in der NZZ ihrem Faible für wahnsinnige Künstler nach. Die Psychiatriepatientin Iris DorothyHalprin etwa, die den lieben langen Tag damit beschäftigt war, den Satz "I Love You" immer wieder zu wiederholen und dabei bereits Geschriebenes nochmals zu überschreiben und zwar "bis der Bogen vom dunkelgrauen Bleiabrieb des Stifts bedeckt und der Satz nicht mehr lesbar war. Dann legte sie ihn beiseite und nahm ein neues Blatt vor. Etwa zweihundert Papiere haben sich erhalten, es dürften aber weit über tausend gewesen sein. Über den, den sie liebte, weiß man nichts. Nicht mal seinen Namen. Vielleicht hat er leiblich nie existiert, vielleicht doch. ... Hat es je einen Menschen gegeben, der sich mit Herzblut, Fleiß und höchster Konzentration derart an die Schrift und an einen einzigen Satz verausgabte, nur um deren Inhalt im Orkus einer radikalen Verfinsterung und Wüstenhaftigkeit verschwinden zu lassen?"
Kerstin Holm berichtet in der FAZ von SergejSawjalows Zürcher Lesung. Unter anderem kam der in der Schweiz lebende, russische Schriftsteller auch auf den Rückblick vieler seiner Kollegen auf die 90er zu sprechen: "Wenn russische Intellektuelle beim Rückblick auf die neunziger Jahre sich heute vor allem an die damalige Freiheit erinnerten und nicht an die elementare Not der Mehrheit ihrer Landsleute, so spreche daraus schlicht Verantwortungslosigkeit", sagte er.
Weiteres: Hanser-Verleger Michael Krüger schreibt in der Zeit den Nachruf auf Philip Roth: Er vermisst jetzt schon Roth' heiteres Lachen. Auch der SchriftstellerNorman Manea erinnert sich in der Zeit noch einmal an seinen Freund. In der FAZ gratuliert Kerstin Holm der NobelpreisträgerinSwetlanaAlexijewitsch zum morgigen 70. Geburtstag.
Besprochen werden MiriamMandelkows Neuübersetzung von James Baldwins Romandebüt "Von dieser Welt" (NZZ), WaguihGhalis "Snooker in Kairo" (taz), DenisJohnsons "Die Großzügigkeit der Meerjungfrau und andere Erzählungen" (Tagesspiegel), JanBöttchers "Das Kaff" (NZZ), JeffLemires Comic "Black Hammer" (Tagesspiegel), DavidMitchells "Slade House" (SZ) und RalfRothmanns "Der Gott jenes Sommers" (FAZ).
Film, 30.05.2018
Agnès Varda in ihrem neuen Film "Augenblicke: Gesichter einer Reise" (Bild: Weltkino)
Die große AgnèsVarda wird heute 90 Jahre alt - sie dreht noch immer Filme, besucht Festivals, nutzt rege Instagram und gibt Interviews, so dieses Geburtstagsgespräch, das sie Nadia Pantel von der SZ gegeben habt. Für ihren neuen (von Philipp Stadelmaier besprochenen) Film "Augenblicke: Gesichter einer Reise" ist sie mit dem Künstler JR quer durch Frankreich gefahren und hat dabei vor allem ländliche Gegenden in den Blick genommen, erklärt sie. Unter anderem geht es dabei um den Verlust gesellschaftlicher Geselligkeit im Zuge der Modernisierung: Ein "Briefträger erzählt, wie sich sein Beruf verändert hat. Es geht um dieses leichte b-Moll, das sich ins Leben schleichen kann. Früher trug er die Briefe direkt zu den Leuten nach Hause und die Leute nahmen sich Zeit und tranken mit ihm eine Tasse Kaffee. Jetzt stehen alle Briefkästen direkt an der Straße. Dadurch hat der Briefträger weniger Aufwand. Aber gleichzeitig hat er auch den Kontakt zu den Menschen verloren. Es gibt Fortschritte, und die bezahlen wir immer auch mit Rückschritten."
Weitere Artikel: Sarah Pepin führt in der BerlinerZeitung durch das Programm des ersten IranischenFilmfestivals in Berlin. Jugendbuch-Verfilmungen boomen, schreibt Michael Pekler im Standard. Christiane Peitz gratuliert im TagesspiegelDieterKosslick zum Siebzigsten. Besprochen werden das Mutterdrama "Tully" mit CharlizeTheron (ZeitOnline), die Serie "Safe" (NZZ) und die israelische Serie "Fauda" (ZeitOnline).
Bühne, 30.05.2018
Als Sozialstudie und Liebeserklärung an das Theater zugleich bejubelt Mounia Meiborg in der SZOnur Orhans Stück "Sadece Diktatör/ Nur Diktator", das in der Türkei verboten wurde und jetzt im Berliner Gorki Theater zu sehen ist. Wie Barış Atay diesen Diktator spielt - und dabei nicht denunziert - raubt ihr den Atem: "Wie der Machthaber auf der Klaviatur der Volksbefindlichkeiten spielt, ist aber nur die eine Seite der Geschichte. Die andere ist, warum niemand ihn aufhält. 'Alles geschah vor euren Augen, aber gesehen habt ihr nichts', heißt es. Zu zerstritten und zu sehr mit sich selbst beschäftigt sei die Opposition. Daraus entsteht die wahre Kraft des Stückes: Es ist kein Wellness-Theater für Gleichgesinnte. Sondern auch eine verzweifelte Selbstbefragung."
Weiteres: In der Berliner Zeitungnimmt Tomo Mirko Pavlovic den Regisseur und Intendanten Armin Petras gegen Vorwürfe in Schutz, sein Theater in Stuttgart sei zu selbstreferenziell, zu unpolitisch und zu wenig ausgelastet gewesen.
Design, 30.05.2018
Cristóbal Balenciaga: Hochzeitskleid, 1967
In der FAZ bespricht Michael Watzka die kürzlich im Metropolitan Museum mit viel Pomp eröffnete Schau "Heavenly Bodies" über katholische Bildwelten in der Mode, mit sensationellen Kleidern von Galliano, Dolce e Gabbana, Versace oder Alexander McQueen. Über weite Strecke ist die Schau dem Rezensenten zu sehr darauf aus, gute Bilder für Instagram abzugeben, aber im Met Cloisters kommt dann auch Watzka auf seine Kosten: "Was im überlaufenen Hauptgebäude konzeptuell oft zerfasert, funktioniert dort, auf engerem Raum und konziser gefasst, hervorragend. In der rekonstruierten Apsis einer spanischen Kirche rücken Outfits von Christobal Balenciaga oder Marc Bohan Taufe, Ehe und Eucharistie in die Nähe des Jungfrauenkults. Scheinbar nahtlos gefertigt, eröffnet Balenciagas cremefarbener Kegel aus Hut und langer Schleppe, ein Hochzeitskleid aus dem Jahr 1967, einen ganzen Reigen von Looks, die sich der Verklärung weiblicher Unschuld widmen."
Musik, 30.05.2018
Dimitri Hegemann hat in Berlin Clubgeschichte geschrieben - jetzt möchte er das brach liegende Detroit, von wo aus einst Motown und House die populäre Musik eroberten, aus seinem Schneewittchenschlaf wachküssen, berichtet Viktoria Großmann in der SZ. Als Vorbild dient Berlin, erfahren wir: Ruinen und Brachen wie einst in den Neunzigern in der deutschen Hauptstadt gibt es hier jedenfalls reichlich. Hegemann "möchte am liebsten eine der leer stehenden Fabriken bespielen. Einen Teil der Packard Plant, die einem Südamerikaner gehört. Oder das Fisher Body Building - nicht viel mehr als ein Gerippe, von der Zeit und von Metalldieben zerlegt, aber mit großartigem Ausblick auf Downtown mit seinen Wolkenkratzern, die vom Reichtum der Stadt in den Zwanzigern zeugen. Sogar den alten Bahnhof, der seit den Achtzigern geschlossen ist, wollte Hegemann erobern. 'Innerhalb von drei Monaten wäre das der erfolgreichste Club der Welt. Die internationale Szene würde ein- und ausgehen.'" An die Betonromantik des Berghainerinnert das Gebäude von innen jedenfalls schon mal.
Weitere Artikel: Für die tazplaudert Jens Uthoff mit JoanBaez über deren Abschiedsalbum "Whistle Down the Wind" und alte Zeiten. Andreas Hartmann hat sich für den Tagesspiegel mit CarstenNicolaiunterhalten, dem das Kunststück gelungen ist, sich unter dem Namen Alva Noto sowohl als ernstzunehmender Elektro- und Installationskünstler, aber auch als Soundtrackkomponist für Hollywoodfilme zu etablieren. Im "Unknown Pleasures"-Blog des Standarderinnert Karl Fluch an den Bluesmusiker TedHawkins. Harry Nutt schreibt in der FR einen Nachruf auf den Schlagersänger JürgenMarcus. DLF Kulturwirft in einer vierteiligen Feature-Reihe von Werner Klüppelholz einen Blick auf 1968 und die Neue Musik. Mit seinem neuen Album "Age Of" hat OneohtrixPointNever, sonst als "Frickler der abstrakten Soundpatterns" bekannt, "sein bisher eingängigstes Album vorgelegt", schreibt Annett Scheffel in der SZ-Popkolumne.
Besprochen werden der Berliner Auftritt von PereUbu (taz), ein Konzert der BerlinerPhilharmoniker unter SimonRattle (Tagesspiegel), das neue Album von St. MichaelFront (Standard), ein Roger-Waters-Konzert (NZZ) und das neue Album von The Sea and Cake (taz). Eine Kostprobe daraus gibt es auf Bandcamp:
Außerdem meldet Stefan Weiß im Standard, dass der nigerianische Rapper Falz ein auf Nigeria gemünztes Remake von ChildishGambinosViral-Hit "This is America" gedreht hat:
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https://www.perlentaucher.de/efeu/2018-05-30.html