Efeu - Die Kulturrundschau

Je femininer eure Waden, desto schöner

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05.06.2018. In Thomas Ostermeiers Berliner Inszenierung von Edouard Louis' "Im Herzen der Gewalt" erlebt die SZ die ganze Härte sozialer Differenz. Vor der Eröffnung der Berlin Biennale am Wochenende denkt die taz darüber nach, worin die emanzipatorische Kraft postkolonialer Kunst steckt.  Die Zeit lernt von der Gangsta-Rapperin Schwesta Eva über die Rohheit  des Geschäfts so viel wie sonst nur bei Brecht. Der Standard unterhält sich mit den Filmemachern Hans Block und Moritz Riesewick über die Digital-Malocher auf den Philippinen, die bei Facebook sauber machen. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.06.2018 finden Sie hier

Bühne

Edouard Louis' "Im Herzen der Gewalt". Foto: Arno Declair/Schaubühne



In der Berliner Schaubühne hat Thomas Ostermeier nach Didier Eribon jetzt auch Edouard Louis' Roman "Im Herzen der Gewalt" inszeniert, der schockierend radikal von seiner Vergewaltigung erzählt. Peter Laudenbach ist in der SZ überwältigt von der nüchternen Inszenierung, die ihm Momente großer Intimität und blanken Schreckens brachte: "Aber auch diese Drastik kippt nicht in eine reißerische Effektorientierung, keine Gewaltorgie in der Tarantino-CoolnessPose, sondern ein traurig grundierter Wut- und Hilflosigkeitsausbruch. Wenn es im Theater so etwas wie Wahrhaftigkeit und echte Auseinandersetzung mit den Härten sozialer Differenz gibt, dann kann man sie in der Inszenierung von Thomas Ostermeier erleben."

Im Tagesspiegel betont Rüdiger Schaper: "Thomas Ostermeiers Inszenierung ist klar und intensiv, treffender als seine Lesart der 'Rückkehr nach Reims'. Sie erinnert an seine frühen Arbeiten damals in der DT-Baracke, an 'Shoppen & Ficken' oder 'Messer in Hennen'. Deshalb stellt sich die Frage gar nicht, was Louis und sein Buch 'Im Herzen der Gewalt' auf der Bühne zu suchen haben. Es gehört da hin mit seinem brutalen Melodram, das in Paris abläuft, am Weihnachtsabend." In der Berliner Zeitung fürchtet Janis El-Bira allerdings, dass die Inszenierung dem Text die politische Brisanz ausgetrieben hat. Und auch in der Nachtkritik ist Georg Kasch skeptisch. Ihm ist die Inszenierung "zu schön, um wahr zu sein".

Weiteres: Sehr gegensätzlich wird Peter Ruzickas in Hamburg uraufgeführte Walter-Benjamin-Oper aufgenommen. SZ-Kritiker Michael Stallknecht sieht hier aus Pathoskanonen gefeuert und die "b-o-o-o-o-lschewistische Re-e-e-e-e-volution" in üppige Koloratur verwandelt. In der FAZ findet Jügen Kesting dagegen das Stück Benjamins magischer Gangart entsprechend und attestiert gerade den SängerInnen "vokale Virtuosität im Dienst der Groteske. Helmut Ploebst porträtiert im Standard die dänische Performancekünstlerin Mette Ingvartsen.

Besprochen werden Dušan David Pařízeks Bühnenfassung von Christoph Heins Roman "Trutz" in Hannover (Nachtkritik), Florian Fiedlers Inszenierung "Nur die Harten (kommen in den Garten)" in Oberhausen (Nachtkritik) und Aufführungen der Wiener Festwochen (Standard).

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Kunst

Am Wochenende eröffnet die Berlin-Biennale, die von einem internationalen, durchgängig schwarzen KuratorInnen-Team bestreitet wird. In der taz denkt Brigitte Werneburg sehr klug darüber nach, wie und woher die emanzipatorische Dynamik postkolonialer Kunst kommen könnte oder müsste: "Die stärkste Setzung, Erwartungen zu unterlaufen, wäre es, relevante zeitgenössische Kunst zu zeigen, die mehr ihr eigenes Herkommen reflektiert als das ihrer Produzent*innen. Oder generell einmal die Strukturen des Ausstellungswesens in den Blick zu nehmen, anstatt die von der Kunstwelt vernachlässigten Orte und Räume zu kartografieren. Denn darum ging es zuletzt sehr stark in der Kunst. Man will Diversität stärken und verengt doch erneut den Blick. Zum Beispiel darauf, dass zusammen mit der aus Südafrika stammenden Leiterin der Berlin Biennale, Gabi Ngcobo, gleich ein durchgängig schwarzes Kurator*innenteam die Jubiläums-Biennale bestreitet. Doch nicht seine schwarze, sondern seine internationale Herkunft und Ausbildung qualifiziert das Team dafür, den Überblick über das weltweite Kunstgeschehen zu haben."

Weiteres: In der SZ meldet Susanne Hermanski, dass Okwui Enwezor das Haus der Kunst verlässt. Er gibt aus gesundheitlichen Gründen sein Amt als Direktor auf, aber wie Hermanski zu berichten weiß, war Enwezor künstlerisch durchaus erfolgreich, aber nicht unbedingt ökonomisch und personell.
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Literatur

Khaled Khalifas Roman "Der Tod ist ein mühseliges Geschäft" handelt von den Absurditäten der Gegenwart in Syrien. "Wir haben viele Identitäten, und wir sind ein sehr reiches Land", erklärt der Autor im Tagesspiegel-Gespräch Rolf Brockschmidt. "'Die Revolution war ein syrisches Projekt für mehr Demokratie, aber jetzt ist sie kein syrisches Projekt mehr.' Er fragt sich: 'Wo kommt der radikale Islam her? Wer zahlt? Alle Mächte spielen bei uns ihr Spiel, aber wer sind wir? Wir sind für eine syrische Demokratie auf die Straße gegangen, doch das Regime hat eine klare Botschaft: Es gibt keinen Weg zur Demokratie, nur Tod und Gefängnis. ... Aber wir haben Fragen an die Welt: Warum habt ihr das zugelassen?' In der Vergangenheit hätten westliche Regierungen gerne Geschäfte gemacht, aber es waren immer Geschäfte mit mächtigen Clans und Familien. Davon erzählt auch der Roman, wo oft die Herkunft und die Familie über das eigene Wohl und Wehe entscheiden."

Große Begeisterung nach dem Comicsalon in Erlangen. Eine der vielen Ausstellungen war dem Genre der Comicreportage gewidmet, das auch in Vorträgen genauer in den Blick genommen wurde, berichtet Christoph Haas in der SZ: "Augusto Paim (Weimar) verwies auf einen wesentlichen Vorteil, die Stift und Zeichenblock besitzen: Da sie viel weniger aggressiv wirken als Fotoapparat und Filmkamera, können sie im Umgang mit den Befragten wie ein 'Türöffner' fungieren. Außerdem ist ihr Einsatz auch dort möglich, wo das Arbeiten mit technischen Geräten nicht möglich oder nicht erwünscht ist." In der taz staunt Ralph Trommer über die "Formenvielfalt" der Reportagen und den Einfallsreichtum ihrer Autoren. FAZ-Kritiker Andreas Platthaus fand die Reportage-Ausstellung indessen ein wenig "einfallslos". Dafür bereitete ihm die Ausstellung über die französische, in Deutschland eher noch zu entdeckende Zeichnerin Dorothée de Manfreid gewidmete Ausstellung viel Vergnügen.

Besprochen werden unter anderem William Finnegans "Barbarentage" (Tagesspiegel, SZ), Alexander Schimmelbuschs "Hochdeutschland" (Freitag) und Verena Luekens "Anderswo" (SZ).
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Design

In der taz schüttelt Tania Martini mit dem Kopf über die Verächtlichmachung der kurzen Männerhose: Die Zwangs-Belanghosung der Beine nimmt der Männermode ein Feld des Spiels und des Reizes: "Was die Fessel bei der Frau, ist die Wade beim Mann: ein erotischer Körperteil, den man sehen will. Und zwar ohne Stoff- oder Muskelpolster! Denn was ihr noch immer nicht verstanden hat, liebe Männer: Je femininer eure Waden, desto schöner."

Marina Razumovskaya porträtiert für die taz die in Berlin arbeitende New Yorker Mode-Journalistin Melissa Drier: "Mode ist für Drier nicht nur eine Sache von Jurys und Messen. Mode ist Ausdruck, wird getragen, ausgetragen. Ihre wichtigsten Beobachtungen macht Drier auf der Straße, im Bus, auf Events. 'Das tut mir weh, wenn ich Leute sehe, die nur tolle Namen tragen, aber keine Ahnung haben, was für sie gut ist: falscher Rock, falsche Schuhe.'
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Film

Viel Mühe hatten Hans Block und Moritz Riesewick, für ihren Dokumentarfilm "The Cleaners" jene Digital-Malocher auf den Philippinen ausfindig zu machen, die für Facebook dafür Sorge tragen, dass wüste Gewaltvideos und anderes schwer kriminelles Material nicht allzu lange auf den Servern des Anbieters stehen bleibt. Sven von Reden hat sich für den Standard mit den Filmemachern unterhalten und dabei auch in Erfahrung gebracht, wie Leute in Fernost zum Beispiel schriftliche Hass-Propaganda erkennen: "Wir waren zum Beispiel überrascht, dass die Moderatoren in Manila tatsächlich einen dreitägigen Kurs bekommen haben, um Nazisprache und Nazisymbole zu erkennen", erklärt Riesewick. "Als Reaktion auf das Netzwerkdurchsetzungsgesetz gibt es mittlerweile zwar auch Standorte in Spandau und in Essen, mit denen Facebook zeigen will: Wir haben da qualifizierte Leute dran sitzen - bezogen auf die ganze Welt sind das aber Nebelbomben. Eine Moderatorin auf den Philippinen verriet uns, was sie machen, wenn sie fremdsprachige Texte bekommen: Sie benutzen Google Translate. Nur wenn ihnen das Ergebnis ganz schräg vorkommt, schicken sie es weiter."

Weiteres: Dominik Grafs beim Bildrausch Festival in Basel gehaltene Laudatio auf Paul Schrader lässt sich hier als PDF runterladen. Besprochen wird die Serie "Dietland" (ZeitOnline).
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Musik

Für die Zeit porträtiert Martin Eimermacher die Rapperin Schwesta Eva, die mit ihrem zweiten Album "Aywa" den Gangsta Rap erobert. Ist das schon politisch, gar feministisch, fragt Eimermacher sich - und liefert sich dabei folgende Antwort: "Punktgenau taxiert Ewa, freilich affirmativ, was im Gangsta-Rap als gesellschaftspolitisches Projekt vorstellbar scheint: nämlich nichts. Alles ist Naturzustand, es gibt kein utopisches Außen, keinen prometheischen Zunder, der das propagierte Hobbes'sche 'Alle gegen alle' zugunsten eines solidarischen Miteinanders flambieren könnte." Indes: "Die Rohheit kommt nicht von der Rohheit, sondern von den Geschäften, die ohne sie nicht gemacht werden können: Viel mehr kann man auch bei Brecht nicht lernen." Ein aktuelles Video:



Die Autobahn als Klangspender? Für ihre Installation "A100 - der Klang der Berliner Stadtautobahn" haben sich Sam Auinger und Georg Spehr jedenfalls mit dem Mikrofon auf Soundjagd begeben. Das Ergebnis präsentieren sie jetzt im Berliner CLB: Die eingefangenen Sounds "haben sie weiterbearbeitet und teilweise mit Bass und Drums begleitet", erklärt Tilman Baumgärtel in der taz. "Meist ist das eher piano. Der große Lärm der Moderne, der die Futuristen am Krach von Automotoren fasziniert hat und der die Einstürzenden Neubauten zu einem legendären Gig unter einer Berliner Autobahnbrücke inspiriert hat, kommt hier nicht zur Wiederaufführung."

Weiteres: In der SZ-Retrokolumne erinnert Thomas Bärnthaler an Liz Phairs Debütalbum "Exile In Guyville" aus dem Jahr 1993. Besprochen werden die CD-Retrospektive "Battleground Korea" mit historischer Musik über, für und gegen den Koreakrieg (NZZ), das neue Album "Ye" von Kanye West (Standard, Berliner Zeitung, Pitchfork, mehr dazu hier), Jenny Hvals neue EP "The Long Sleep" (Pitchfork), die Ausstellung "Arnold Schönberg und Jung-Wien" im Schönberg-Center in Wien (NZZ) und das Soloalbum "Wolke 7" des Rappers Gzuz (SZ).

Das Logbuch Suhrkamp präsentiert die 56. Folge von Thomas Meineckes "Clip//Schule ohne Worte":

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