Efeu - Die Kulturrundschau

Lässt sich Schönheit subversiv einsetzen?

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11.06.2018. Auf ZeitOnline erklärt Annette Hess, wie ARD und ZDFdie Kreativität der Drehbuchautoren verhindern.  Standard und taz begeben sich bei den Wiener Festwochen mit Kornél Mundruczó auf Winterreise entlang der Balkanroute. Der Tagesspiegel blickt mit Astrid Kleins Fotoarbeiten in den Deichtorhallen auf männliche Trophäen und willige Sexualpartnerinnen. Die SZ  entwickelt bei der musica viva einen leichten Überdruss an der Staastopernmacherei männlicher Riesenegos.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.06.2018 finden Sie hier

Kunst

Astrid Klein, And every woman acts like every man's dream of the 'perfect' wife, 1980. Courtesy Deichtorhallen Hamburg/Sammlung Falckenberg © Astrid Klein


Die Hamburger Deichtorhallen zeigen auf ihrer Triennale der Photographie auch die Collagen der Fotokünstlerin Astrid Klein, und im Tagesspiegel findet Ulla Fölsing die Arbeiten aus den siebziger und achtziger Jahren beklemmend und radikal: "Das Interesse gilt dabei vor allem jungen, schönen Frauen. An ihnen werden weibliche Rollenzwänge zwischen williger Sexualpartnerin und männlicher Trophäe anschaulich vorgeführt. Beispielhaft dafür ist eine Collage, die eine nackte blonde Frau in einem erleuchteten Fenster stehend mit dem Bild eines lesenden Mannes verbindet. Das Schriftbild dazu lautet: 'And every woman acts like every man's dream of the 'perfect' wife." Unverkennbar kämpfte Klein an der Seite der feministischen Avantgarde der siebziger Jahre, wenn auch nicht so offensiv wie Cindy Sherman, Hannah Wilke oder Valie Export."

In der taz freut sich Beate Scheder, dass der Berliner Gropiusbau dem französischen Multimediakünstler Philippe Parreno endlich eine Ausstellung widmet: "Eigentlich sind schon die Fische Grund genug für einen weiteren Besuch. Parreno hat ein Aquarium in den Gropius-Bau verlegt, nur ohne Wasser. Fliegende Fische, heliumgefüllte Luftballons bewegen sich in einem mit orangefarbener Folie verklebten Raum schwebend durch die Luft. Sie tanzen um die Besucher*innen herum, teilweise auch mit ihnen. Die Schönheit der Schwerelosigkeit, so bezaubernd erlebt man sie selten."

Weiteres: Ziemlich desinteressiert durchquert Welt-Kritiker Boris Pofalla die Berlin Biennale mit ihrer postkolonialen Ausrichtung und sieht sich dann auch bestätigt: "Eindringlich ist das, doch formal ist nichts neu an dieser Biennale." In der Berliner Zeitung sind Ingeborg Ruthe und dagegen begeistert: "Diese Biennale 2018 ist, bis auf wenige etwas verhuschelt-gewollte Konzeptkunst-Arbeiten - lässlich sie zu nennen - überraschend leicht fassbar, dabei ernsthaft und zugleich auf wundersame Weise entspannt und auch humorvoll." In der NZZ erzählt Susanna Petrin, wie die Schweizer Galeristin Andrea Thal in Kairo unter schwersten Bedingungen ein Zentrum für Gegenwartskunst aufbaut.

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Bühne

János Szemenyei in Kronél Mundruczós "Winterreise". Foto: Nurith Wagner-Strauss / Wiener Festwochen


Für die Wiener Festwochen hat Kornél Mundruczó Schuberts "Winterreise" auf die Balkanroute verlegt, in der taz erkennt Uwe Mattheis darin einen unvermittelten "Aufschrei gegen die Wirklichkeit", vor der man sich bei aller romantischen Empfindsamkeit nicht zurückziehen kann: "Zäune und verschlossene Tore in der ungarischen Provinz, Videostills der ausdruckslosen Gesichter von Erschöpften, verkotete Toilettenanlagen in überfüllten Unterkünften. Das letzte lyrische Ich ist mutmaßlich im Spätsommer 2012 vor Lampedusa ertrunken. Die Frage, die Mundruczó umtreibt, ist die, wie man diese Verse singen kann, ohne zu lügen. Lässt sich Schönheit subversiv einsetzen? Die Kunst wäre davor bewahrt, in naher Zukunft nur noch hübsche Zierleistenmalerei zu sein." Im Standard ist Ljubisa Tosic keineswegs überzeugt: "Schubert wird überfordert durch die Flüchtlingsthematik, die ihrerseits liedhaft verniedlicht erscheint.

Besprochen werden Ersan Mondtags Inszenierung von Sibylle Bergs Stück "Wonderland Ave." am Schauspiel Köln (Nachtkritik, SZ, FAZ), Aufführungen des Performing Arts Festival (Berliner Zeitung) und Martin Schläpfers "Schwanensee"-Choreografie für das Düsseldorfer Opernhaus, die laut Dorion Weickmann in der SZ "das historische Eis mit zeitloser Ästhetik" aufbricht, FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster zufolge aber bieder herumpsychologisiert.

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Film

Deutsche Drehbuchautoren fordern mehr Rechte, insbesondere, was die Intaktheit ihrer Arbeiten und ihre Position im kreativen Prozess betrifft. In der Erklärung Kontrakt18 haben hundert von ihnen unterschrieben, künftig nur noch Verträge zu unterzeichnen, die ihnen diese Rechte gewähren. Carolin Ströbele hat für ZeitOnline mit Annette Hess, Autorin der "Ku'damm"-Fernsehfilme und der Serie "Weißensee", darüber gesprochen. Gängige Regelungen würden Qualität verhindern, erfahren wir: "Wenn mir zum Beispiel ein Redakteur sagt: 'Frau Hess, was wollen Sie erzählen? Sie haben freie Hand.' Dann gebe ich alles! Aber wenn ich höre: 'Na, machen'se mal, und dann schauen wir, was draus wird', dann mache ich Dienst nach Vorschrift. Das zwangsläufig mittelmäßige Ergebnis ist dann auf dem Fernsehbildschirm zu sehen. ... Es ist einfach qualitätsfördernd, wenn man weiß, dass man die Verantwortung für sein Werk bis zum Ende trägt."

Weitere Artikel: Im Freitag erinnert Enno Stahl an die Tumulte, die die Gruppe XScreen 1968 in Köln mit einigen Filmvorführungen auslöste, bei denen auch Literat Rolf Dieter Brinkmann mitmischte. Im Zeit-Gespräch schwärmt Wim Wenders von seinem Glauben und dem Papst.

Besprochen werden Elwira Niewieras und Piotr Rosolowskis Dokumentarfilm "Der Prinz und der Dybbuk" über den polnisch-jüdischen Regisseur Michal Waszynski (Tagesspiegel), Shirin Neshats "Auf der Suche nach Oum Kulthum" (FAZ, im ZeitMagazin träumt die Regisseurin) und Max Ophüls' auf DVD veröffemtlicher Klassiker "Lola Montez" (SZ).
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Literatur

Anlässlich des Todes des Unternehmers Karl Ignaz Hennetmair, viele Jahre Thomas Bernhards Nachbar und Freund, veröffentlicht der Standard ein großes, 1989 geführtes und ziemlich anekdotenreiches Gespräch mit ihm. Unter anderem geht es darum, wie Bernhard nicht nur die Reinigungskräfte auf seinem Hof, sondern auch seine Schreibmaschinen drangsalierte: "Die neueren hat der Thomas immer zusammengehauen, die haben das nicht ausgehalten, weil er so reingehauen hat. Im Dorotheum haben sie viele so alte Schreibmaschinen von der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, die damals alle in den Büros verwendet wurden. Die waren noch massiv. Also sage ich zu ihm: Damit du nicht dauernd die Maschine herumschleppen musst, kauf dir gleich mehrere und lass in jedem Haus so eine Maschine stehen. In Nathal, da hat er zwei oder drei aufgestellt gehabt, damit, falls eine kaputt ist, es dann gleich weitergehen kann. Wenn er in Fahrt ist, dann braucht er eine neue Maschine."

Weitere Artikel: Die freie Szene Berlins kritisiert den gerade erst vom Kultursenator Klaus Lederer ausgelobten Verlagspreis, berichtet Linda Gerner in der taz. Paul Jandl folgt in der NZZ der Literatur von Thomas Bernhard bis zu Svenja Leiber durch Frost und Wüstenhitze. Hans-Peter Kunisch berichtet in der SZ von der Literaturreise, die Norwegens Kronprinzessin Mette-Marit durch ihr Land unternimmt.

Besprochen werden Elfriede Jelineks unverfilmt gebliebenes Drehbuch "Eine Partie Dame" von 1981 (SZ), Serhij Zhadans "Internat" (Standard), Sigrid Damms "Im Kreis treibt die Zeit" (FR), Wioletta Gregs "Unreife Früchte" (Zeit), Yusuf Yeşilöz' "Die Wunschplatane" (NZZ), John Bergers "Ein Geschenk für Rosa" (NZZ), ein Abend mit Christophe Boltanski und Josef Winkler beim Literaturm-Festival in Frankfurt (FR), James Pattersons und Bill Clintons Thriller "The President is Missing" (Tagesspiegel), neue Comics über archaische Mythen (Jungle World) und Peter Hacks' "Marxistische Hinsichten. Politische Schriften 1955-2003" (FAZ).

In der Frankfurter Anthologie schreibt Kai Sina über Paul Maars "Viele Fragen":

"Mutter hat mich geboren.
Damit gab es mich,
..."
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Musik

Einer "Sternstunde der Orchesterkultur in der zeitgenössischen Musik" erlebte FAZ-Kritiker Max Nyffeler bei der Münchner musica viva, als das Chamber Orchestra of Europe György Ligetis Klavierkonzert aufführte und Dirigent David Robertson am Ende gar beglückt vor seinem Orchester und Solist Pierre-Laurent Aimard auf die Knie sank.

Reinhard J. Brembeck vergleicht in der SZ unterdessen die musica viva mit der München-Biennale, bei der die Komponisten Daniel Ott und Manos Tsangaris die Regeln des Betriebs recht munter durcheinanderbrachten. Die vielbeschworene Souveränität bei der musica viva wurde ihm dagegen bald schal: "Krankt nicht derzeit die gesamte Staatsopernmacherei daran, dass von München bis New York, von London bis Mailand, Wien und Paris überall die gleiche Ästhetik präsentiert wird, deren Erschöpfung zunehmend unübersehbar ist? Auf den Opernbühnen dominieren von Männern komponierte, inszenierte und dirigierte Stücke, die ein zunehmend nicht mehr der Realität entsprechendes Geschlechter- und Gesellschaftsbild als ultrawichtig propagieren. Es ist eine abwirtschaftende Scheinwelt, die den autonomen Künstler, eine Erfindung der frühen Romantik, mit seinem Riesenego heiligspricht und dessen zunehmend nur noch persönliche und eben nicht mehr wie vor 200 Jahren noch gesamtgesellschaftliche Probleme in den Mittelpunkt stellt."

Harter Themenwechsel: Realness ist im Rap vielleicht nicht alles, aber eine ziemlich klingende Münze. Trap hingegen unterwandert diese Vorstellungen von Authentizität, schreibt Konstantin Nowotny in einer umfangreichen Erörterung in der Jungle World: "Trap ist ein Habitus, eine Melange aus Statusgütern, Gestus und Sprache. Er protzt mit einer weitgehend imaginierten Klassenzugehörigkeit. Der lyrische Sieger ist, wer diese am überzeugendsten darstellen kann."

Weitere Artikel: In Wien sehen sich zwei private Musikkonservatorien erheblicher Kritik ausgesetzt, hat Sahel Zarinfard für den Standard herausgefunden: Zum einen soll die Qualität der Ausbildung zu wünschen übrig lassen, zum anderen stehen die Häuser im Verdacht Visa für Studenten erschlichen zu haben. Mehr dazu auch in diesem Recherche-Dossier. Für die taz hat sich René Martens zum Gespräch mit Dieter Glaschwischnig getroffen, der unter anderem mit der NDR-Bigband die Geschichte des Jazz in Norddeutschland stark beeinflusst hat. Finn Johannsen und Julian Weber haben für die taz lobende Statements von Kollegen und Weggefährten auf DJ Super Leiwand gesammelt, der gerade einen praktischen WM-Planer erstellt hat. Gerrit Bartels stürzt sich für den Tagesspiegel todesmutig in die Geschichte der Fußball-WM-Songs. Steven Hyden erinnert sich auf Pitchfork an das namenlose Album von The Band aus dem Jahr 1969. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Katharina Cichosch über "Surfin' U.S.A." von den Beach Boys.

Besprochen werden das Comeback-Album der Stoner-Metalband Sleep (Zeit), ein Auftritt von Haim (Tagesspiegel), ein Konzert des Frankfurter Polizeichors (FR), das Comeback-Album von Reef (FAZ), eine Aufnahme polnischer Sonetten der Kiewer Band Haydamaky (FAZ) und das neue Album von Father John Misty, das Spex-Kritiker Maximilian Sippenauer ziemlich enttäuscht: "ein durch die Bank bedeutungsschwangeres Album ohne eine einzige Zeile von Bedeutung", zu dem sich aber immerhin gut "Marmelade einkochen" lässt. Wir hören dennoch rein:

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