Efeu - Die Kulturrundschau

Die hellsichtige Kehrseite der Idiotie

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12.06.2018. Der Guardian bewundert Frida Escobedos Luft und Licht atmenden Sommer-Pavillon für die Serpentine Gallery. Die NZZ erkennt: Für den Umbau von Nachkriegsarchitektur braucht man nicht nur Geld, sondern Liebe. Die SZ bäumt sich mit Visconti und Antonioni noch einmal vor dem Nichts auf. Die taz besucht die Fotografien Erika Diette, die den Schmerz der kolumbianischen Gesellschaft dokumentiert. Und die FAZ erlebt in Paris Martin Margiela als den Meister des soignierten Understatements.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.06.2018 finden Sie hier

Design



Gleich zwei Pariser Ausstellungen - die eine im MAD, die andere im Palais Galliera - würdigen derzeit den in den 90ern zu Starruhm aufgestiegenen Modedesigner Martin Margiela, dessen notorische Öffentlichkeitsscheu ihn zum "Daft Punk der Mode" mache, wie Les Inrockuptibles schreibt. Für die FAZ hat Marc Zitzmann die beiden Ausstellungen besucht und kaum glauben können, dass die in beiden Häusern gezeigten Kleidungsstücke und Entwürfe tatsächlich ein und derselben Hand entstammen, so unterschiedlich erscheinen sie ihm: Das MAD zeigt den "Meister des angenehm tragbaren und superlativ soignierten Understatements, der mit eiserner Designerhand im Nappaleder-Handschuh dem Haus Hermès zu poliertem Pfiff und zu dezenter Zeitgemäßheit verhalf", wohingegen das Palais Galliera den wilden, anarchischen Margiela präsentiert: "Zahlreiche Exponate illustrieren die Recycling-Praxis des Designers, der Vintage-Foulards zu Röcken zusammennähte, aus Armeesocken Pullover schuf, Ballkleider in Westen verwandelte und aus einer Bettdecke einen Mantel gewann. Die Frühlings/Sommerkollektion 1998 präsentierte gar Kleider, die aus Plastik-Einkaufstüten bestanden oder aus papiernen Schnittmustern."
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Literatur

Das Feld der literarischen Biografie ist im Wandel begriffen, fällt SZ-Kritiker Volker Breidecker beim Besuch des Festivals Literaturm in Frankfurt auf: "Das emphatische 'Ich', zu dessen radikaler Subjektivität sich in Frankfurt fast nur noch Karl Heinz Bohrer zu bekennen wagte, ist fragwürdig geworden, oft verschwindet es hinter einer distanzierten dritten Person oder einem plural vorgestellten 'man', um sich mit seiner sozialen Welt zu verschränken. An die Stelle lebendiger Helden, die früher im Zentrum einer Erzählung standen, rücken die Schauplätze und Räume, an und in denen die Menschen sich bewegen."

Weitere Artikel: Für die FR porträtiert Susanne Lenz die US-Autorin Brit Bennett und bespricht deren Debüt "Die Mütter". In der FAZ plädiert Tilman Spreckelsen dafür, das Potenzial öffentlicher Bibliotheken als Ort der Lese- und Bildungsvermittlung schon bei Grundschülern zu nutzen. Uta Grossmann wirft für die FR einen Blick in die Schülerakte von Else Lasker-Schülers Sohn. Jessie Burton gibt im Logbuch Suhrkamp Schreibtipps.

Besprochen werden die neue Ausgabe der Zeitschrift Wespennest, die dankenswerterweise "mehr leistet als eine Phänomenologie des Schwachsinns der Gegenwart", indem sie etwa auch "an die hellsichtige Kehrseite der Idiotie erinnert" (taz), David Grossmans Reden- und Essaysammlung "Eine Taube erschiessen" (NZZ), Gaito Gasdanows "Nächtliche Wege" (Tagesspiegel), Roland Sprangers Krimi "Tiefenscharf" (Tagesspiegel), François-René de Chateaubriands "Atala" (SZ) und Henry James' Erzählband "Vier Begegnungen" (FAZ).
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Architektur

Frida Escobedos Sommer-Pavillon. Foto: Serpentine Gallery


Den diesjährigen Sommer-Pavillon der Serpentine-Galerie in Londons Kensignton Garden hat die mexikanische Architektin Frida Escobedo errichtet, als erst zweite Frau seit Zaha Hadid. Im Guardian ist Oliver Wainwright nicht nur von dieser Entscheidung begeistert, sondern auch vom Ergebnis: Von außen sieht der Edelstahl-Bau aus wie Flechtwerk, doch innen tappt man durch eine Wasseroberfläche, erzählt er. "Ihr dunkler umschlossener Hof lässt unvermeidlich an Peter Zumthors Kloster von 2011 denken. Doch während sich die geteerte Box des Schweizer Maestros wie ein luftloses Mausoleum anfühlte, atmet Escobedos Container Luft und Licht. Er ist zugleich rau und scharfkantig, die gefurchten Zementziegel kontrastieren mit den skalpellartigen Ecken des Edelstahl-Dachs, das über dem dunklen Raum schwebt und damit für verzerrte Reflexionen und etliche Möglichkeiten für Selfies sorgt." In der FAZ freut sich Gina Thomas, wie Escobedo abstrakte Ideen über Zeit und Raum ins Konkrete wendet: "Hier erlebt der Besucher den Lauf der Zeit wie eines jener Seinsmomente, die auch Virginia Woolf beschäftigten." Eine schöne Bildstrecke gibt es bei Dezeen.

Früher eine Molkeirei, heute ein Zentrum für Bildung und Kultur: Das Toni-Areal in Zürich. Foto: EM2N Architekten


In den Museen Europas mag die Nachkriegsarchitektur hoch im Kurs stehen, aber nicht in seinen Städten. In der NZZ denkt Jürgen Tietz darüber nach, was es braucht, um die kraftvollen Bauten des Brutalismus mit ihrem ruppigen Reiz zu erhalten: "Wie bei fast allem im Leben geht es aber nicht nur ums Geld, sondern auch um Liebe: In Zürich-West beim Toni-Areal habe das 'freundliche Programm' entscheidend zu Erhaltung und Erfolg des Hauses beigetragen, sagen die Architekten. Ohnehin sei es am besten, wenn ein Haus robust genug sei, um Potenziale für die Aneignung durch die Nutzer zu eröffnen. 'Man muss es über den Gebrauch gern haben.' Überall dort, wo sich mit den Gebäuden zugleich Möglichkeitsräume eröffnen, entstehen Wege zur Identitätsfindung. Und die lassen die Erhaltungschancen steigen."
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Bühne

In der Welt schwärmt der Dramatiker Karl-Heinz Ott von den Shakespeare-Aufführungen in London, die Shakespeares Sprache wie Gesang zelebrieren, ohne altbacken zu werden. Zum Beispiel am National Theatre: "Dieser 'Macbeth'-Abend bedarf keines Theaterbluts und keines wüsten Gemetzels. Die Macbeths sind Loser, Verlierer, Zukurzgekommene. Leute mit Wut im Bauch, die es satthaben, dass nur andere auf der Sonnenseite leben. Und deshalb werden sie rabiat."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel sieht Rüdiger Schaper für die Zukunft der Volksbühne schwarz: "Erst wurde Dercon torpediert, dann hat er sich auch noch als unfähig herausgestellt. Das Ganze erinnert an die Geschichte des Theaters der Freien Volksbühne nach der Wende. Nach der Intendanz Neuenfels' kamen Übergangsgeschichten - und bald das Ende."

Besprochen werden Martin Schläpfers "Schwanensee" in Düsseldorf (NZZ) und Bellinis "Norma" an der Oper Frankfurt (FAZ).
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Film

Monica Vitti in Michelangelo Antonionis "Deserto Rosso"


Schön melancholisch berichtet Thomas Steinfeld in der SZ von seinem Besuch einer Ausstellung im italienischen Rovigo über die Filme, die seit den 40ern unter der Regie von unter anderem Luchino Visconti und Michelangelo Antonioni in der Po-Ebene entstanden sind. Die Entscheidung für diese karge Region hatte handfeste Gründe: "Wie aus der Geschichte gefallen ist diese Gegend". Auf aufwändige Kostüme und Kulissen verzichteten die Filme, dafür modulierten sie die Silhouetten ihrer Figuren vor diffusem Hintergrund umso klarer heraus: "Manchmal sind es die Männer, die so im Schattenriss dastehen, gleichsam von ihrer eigenen Vereinzelung überwältigt. Häufiger aber sind es die Frauen. Für eine Weile sind sie deutlich, ja überdeutlich zu erkennen, vor dem Wasser, vor dem Nebel, vor einem weiten, aber unklaren Horizont. Dann sind sie verschwunden, als wären sie nie dagewesen. Seltsam, und bemerkenswert, dass diese Ausstellung für diese Art des Aufbäumens vor dem Nichts eine Form gefunden hat."

Allein in dieser Woche starten sechs Dokumentarfilme in den deutschen Kinos - boomt die Gattung also? Nicht, wenn es um die Vertriebsbedingungen geht, denn die sind allemal ungünstig, wie René Martens auf ZeitOnline festhält: Längst greifen auch die Programmkinos als angestammte Spielstätten vermehrt auf Mainstream-Ware zurück, was den dokumentarischen Formen im Kino das Forum raubt. Außerdem mischt Netflix mittlerweile mit und positioniert sich als Geldgeber-Konkurrenz zu den Fernsehsendern: "Die Budgets, die der Streamingdienst zur Verfügung stelle, seien um ein Vielfaches höher als das der hiesigen Fernsehsender", hat Martens erfahren. Hinzu kommt die Behäbigkeit des öffentlich-rechtlichen Apparats, der die Mittel oft nur zögerlich fließen lässt: "Netflix locke dagegen damit, dass man schnell entscheide und zugesagtes Geld flott überweise, sagt Produzent Christian Beetz. Die behäbigen Strukturen der Öffentlich-Rechtlichen könnten folglich Produzenten 'in die Arme von Netflix' treiben."
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Kunst

Für die taz besucht Knut Henkel die kolumbianische Anthropologin und Fotografin Erika Diettes in Bogotá, die mit ihren Arbeiten den "Schmerz der Gesellschaft" dokumentiert. Vor allem hat sie auf ihren Bildern Frauen festgehalten, deren Angehörige im Bürgerkrieg ermordet wurden oder verschwanden: "Diettes hat die Trauernden des Konflikts fotografiert. Dolientes nennt sie eine Serie von Porträts. Sie begreift ihre Arbeit an der Schnittstelle von Anthropologie und Fotografie. Sie hat auch ein Buch über Trauer, Verlust und Schmerz verfasst. Ihre schwarz-weißen Fotoporträts fertigt sie an, während ihr die Angehörigen erzählen, wie sie ihren Freund, Partner oder Verwandte verloren haben. So will sie den Schmerz einfangen, ihm ein Gesicht geben. Eine durchaus umstrittene Methode der Authentizität mit Betroffenheitsgestus, aber im Ergebnis fotografisch eindrucksvoll."

Weiteres: Vergnüglich und schön irritierend findet Peter Richter in der SZ die Schau "Made in Dschermany" des Kunstkollektivs Slavs and Tatars, die in der Kunsthalle Dresden im Lipsiusbau unter anderem arabische Schriftzeichen auf dünnen Beinchen wie Trickfilm-Enten über den Teppich watscheln lassen. Besprochen werden Ausstellungen des österreichischen Fotografen Alfred Seiland in der Landesgalerie Linz und der Wiener Albertina (Standard).
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Musik

Für die taz hat Ole Schulz den Indian Ocean Music Market und das Sakifo Festival auf der östlich von Madagaskar gelegenen Insel La Réunion besucht. Jens Uthoff resümiert in der taz das Berliner Torstraßenfestival, bei dem in diesem Jahr insbesondere weibliche Acts wie die Klitclique und die Cuntroaches starke Auftritte hatten. Edo Reents schreibt in der FAZ zum Tod des Fleetwood-Mac-Gitarristen Danny Kirwan. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus dem Filmkomponisten Richard Sherman zum Neunzigsten. Von ihm stammt unter anderem dieser Klassiker der flockiger Zungenbrecher-Beschwingtheit:



Besprochen werden Sophie Hubers Dokumentarfilm über Blue Note Records (NZZ), Ebo Taylors Comeback-Album "Yen Ara" (NZZ), der Bildband "Vinyl - Album - Cover - Art" über die vom Grafikstudio Hipgnosis gestalteten LP-Covers (Tagesspiegel), Kanye Wests und Kid Cudids gemeinsames Album "Kids See Ghosts" (Pitchfork), ein Konzert der Wiener Philharmoniker unter Mariss Jansons (Standard), ein Konzert der Pianistin Yuja Wang (NZZ), die Debütalben von Seán McGowan und des Quartetts Brand New Friend (FR), neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine neue CD der Lutten Compagney (SZ) und das neue Album "Hundred of Days" der Indiepop-Harfinistin Mary Lattimore (Popmatters). Daraus eine Hörprobe:

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