Efeu - Die Kulturrundschau

Gehirnschalen werden aufgebohrt

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26.06.2018. Die taz erlebt mit Lu Yang in der Walther Collection die verrückteste Virtual Reality ihres Lebens. Außerdem erinnert sie sich mit Fiona Murphy an das einst jüdische Bagdad. Die SZ tritt im Kunstmuseum Wolfsburg tapfer dem schlecht regierten Indien entgegen. Die FAZ erkundet mit der Schriftstellerin Francesca Melandri das kolonialistische Privileg der Ignoranz. In der NZZ fragt Jürgen Wertheimer die neuen Houellebecq-Fans: Wie kann man sich für die Vorstellung seiner eignen Auslöschung begeistern?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.06.2018 finden Sie hier

Kunst

Lu Yang, Delusional Mandala, 2015. Bild: Walther Collection


Sensationell findet Brigitte Werneburg die Schau chinesischer Kunst "Life and Dreams" in der Walther Collection bei Neu-Ulm, die deutlich mehr kritische Arbeiten zeige als die letzten offiziösen und geförderten Ausstellungen in Berlin: Geschlechterbilder, Familie, Gesellschaft, alles werde hinterfragt: "Im Grünen Haus ist noch die hinreißende Videoarbeit 'Delusional Mandala' (2015) zu finden, in der die Künstlerin Lu Yang ihren 3-D-Avatar erschafft, und zwar beeinflusst von Kultfilmen des Anime- und Science-Fiction-Genres wie der Ästhetik des tibetischen (!) Buddhismus. Gehirnschalen werden aufgebohrt und Lebern wie eine Art Blumen gezüchtet - man glaubt hinterher, die 16 rasantesten Minuten Virtual Reality seines Lebens gesehen zu haben. Überhaupt sind die Videoarbeiten der Ausstellung exzeptionell."

Vibha Galhotra: Breath by Breath, 2016/17. Courtesy of the Artist. Kunstmuseum Wolfsburg

Das Kunstmuseum Wolfsburg lässt in seiner Schau "Facing India" wirklich kein Problem des Subkontinents aus, doch in der SZ versichert Till Briegleb, dass die Ausstellung nicht nur als politische Plattform über schlechte Herrschaft und extreme Ungleichheit funktioniert, sondern auch als Kunstschau: "Selbst Arbeiten am Rande des konkreten Aktivismus wie die Umweltperformances von Vibha Galhotra finden eindringliche eigene Verfahren, die über die konkrete Schreckensbotschaft hinaus assoziatives Denken fordern. Als Kämpfer verkleidete Gestalten auf Flößen aus Abfall bringen ein weißes Tuch zum Ufer des Yamuna in Delhi, um es zu baden - nach Durchquerung der Metropole führt der Yamuna nur noch zwei Prozent Flusswasser. Das kohlschwarze Ergebnis hat Galhotra in Plexiglas eingegossen wie Damian Hirst seine zersägten Haie, nur dass dieses hochtoxische Stück Gewebe frei von Dekokitsch ist und wirklich Zusammenhänge zwischen Politik und Natur materialisiert."

Weiteres: In der SZ schreibt Alex Rühle zum Tod des südafrikanischen Fotografen David Goldblatt, auch der Guardian trauert um "Südafrikas Gewissen" und bringt eine große FotostreckeWelt-Kritiker Michael Pilz erkennt in der Ausstellung "Europa und das Meer" im Berliner DHM, dass Europa einst vom Wasser aus die Welt verändert, jetzt verändert die Welt über das Wasser Europa. Im NZZ-Interview mit René Scheu darf Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi auf zwei Seiten seine Sicht der Dinge ausbreiten.
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Literatur

Francesca Melandris neuer Roman "Alle, außer mir" arbeitet die italienische Geschichte des 20. Jahrhunderts auf und kommt dabei insbesondere auch auf die Kolonialgeschichte des Landes zu sprechen. Die FAS hat jetzt Karen Krügers Gespräch mit der Schriftstellerin online nachgereicht: In Italien rührt sie mit dem Kolonialthema an ein Tabu, das auch in anderen Ländern gilt - nämlich "dass der Kolonialismus noch immer die Verteilung von Wohlstand in der Welt bestimmt. ... Die Hegemonie des Westens hat uns das Privileg der Ignoranz geschenkt. Viele glauben noch immer, der Kolonialismus sei ein gleichberechtigtes Geben und Nehmen gewesen: 'Wir gaben ihnen Zivilisation und nahmen uns dafür ihre Ressourcen.'"

Weitere Artikel: Für die FAZ plaudert Sandra Kegel mit Schriftsteller Frank Witzel über die Vorzüge und Nachteile Offenbachs. Tilman Spreckelsen erinnert in der FAZ an Bettina Brentanos Jahre in Offenbach, in denen die junge Schriftstellerin "eine erzromantische Perspektive auf die Welt entwickelte." Michael Wurmitzer schreibt im Standard über den Heimatbegriff des vor 100 Jahren gestorbenen Schriftstellers Peter Rosegger. Die Österreichische Nationalbibliothek hat Ingeborg Bachmanns kürzlich zur Auktion angebotenen Teilnachlass für 130.000 Euro ersteigert, meldet der Standard. Die FAZ hat Christoph Ransmayrs Dankesrede zum Würth-Preis online nachgereicht.

Besprochen werden Liao Yiwus "Drei wertlose Visa und ein toter Reisepass. Meine lange Flucht aus China" (Tagesspiegel), Dominique Manottis "Kesseltreiben" und Philip Kerrs "Kalter Frieden" (Perlentaucher), Michel Fabers "Das Buch der seltsamen neuen Dinge" (Zeit), Hannah Arendts Briefwechsel mit Freundinnen (online nachgereicht von der FAZ), Willi Jaspers "Der gläserne Sarg. Erinnerungen an 1968 und die deutsche 'Kulturrevolution'" (taz), Aidan Truhens Thriller "Fuck You Very Much" (Standard) und Richard Russos Erzählband "Immergleiche Wege" (SZ).
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Film

Still aus "Remember Baghdad"
Fiona Murphys Dokumentarfilm "Remember Baghdad", der jetzt in Berlin seine Europapremiere feiert, erinnert an die verweht zu werden drohende Geschichte der irakischen Juden, erklärt Ulrich Gutmair in der taz: "Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts lebten 140.000 Juden in Bagdad, das war fast die Hälfte der Stadtbevölkerung. Kaum einer erinnert sich heute an sie, obwohl die Stadt voller jüdischer Häuser und Synagogen ist. ... Als die Vereinten Nationen den Teilungsplan für Palästina billigen und Ben Gurion den Staat Israel ausruft, schicken die arabischen Nachbarländer ihre Armeen. Nach dem Sieg Israels müssen die irakischen Juden dafür bezahlen. Die Regierung beginnt eine antijüdische Kampagne, jüdische Beamte werden entlassen. Ihre Läden werden boykottiert."

David Thomson fragt sich in der London Review of Books, was es uns über das Kino sagt, dass ausgerechnet Alfred Hitchcocks "Vertigo" seit 2012 die Kritikerliste von Sign & Sound der besten Filme aller Zeiten anführt - eine Fantasie von männlicher Dominanz und weiblicher Unterwerfung: "Sagt uns 'Vertigo' etwa, dass das Kino über eine männliche Angelegenheit ist?"
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Design

Im heutigen Offenbach-Schwerpunkt der FAZ singt Thomas Thiel ein Loblied auf die Hochschule für Gestaltung. Aus der Bauhaus- und Ulmer Tradition heraus entwickelte sich hier eine "stilbildende Design-Werkstätte. Die Offenbacher Produktsemantik von Jochen Groß, die das Kommunikationspotential eines Produkts in den Blick rückt, ist in Design-Kreisen weltweit ein Begriff. Der erste Markenbotschafter ist, wenn man so will, ein Offenbacher. Aus der Design-Sparte gingen namhafte Absolventen wie Sebastian Herkner hervor, ein bekannter Möbeldesigner der Gegenwart."
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Bühne

Etwas bizarr findet der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer in der NZZ die Wogen der Begeisterung um Michel Houellebecqs Dekadenz-Roman "Unterwerfung", die Karin Beier und Edgar Selge von Hamburg aus durch Europa wallen lassen: "Man möchte verstehen, möchte begreifen, was es bedeutet, dass sich pro Vorstellung tausend Leute Abend für Abend paralysieren lassen und keinen Gedanken mehr an die Fragwürdigkeit dessen verschwenden, worüber sie sich animiert applaudierend verständigt zu haben scheinen. Von der Ästhetik, der gekonnten Finesse und subtilen Virtuosität der Selbstauslöschungsvorstellung betört und vom offenbar verführerischen Sog der Schwäche berauscht, verfällt man in eine Selbstzufriedenheit, die selbst den Offenbarungseid der eigenen Haltlosigkeit als künstlerische Offenbarung ansieht."

Weiteres: In der SZ fragt sich Mounia Meiborg, warum niemand verhindert hat, dass Sebastian Hartmann bei den Berliner Autorentagen aus dem nüchternen Prostituierten-Stück "In Stanniolpapier" des jungen Autors Björn SC Deigner einen grässlichen "Opferporno" machte. Der Standard meldet, dass der bisherige Chef des Brüsseler Kunstenfestivaldesart Christophe Slagmuylder neuer Chef der Wiener Festwochen wird.

Besprochen werden Calixto Bieitos Inszenierung von Monteverdis "Krönung der Poppea" am Zürcher Opernhaus (NZZ) und Hebbels "Nibelungen" bei den Burgfestspielen Bad Vilbel (FR).
Archiv: Bühne

Musik

Das neue Nas-Album "Nasir" hinterlässt bei SZ-Kritiker Jonas Lages einen zwiespältigen Eindruck: Einerseits ist es von Kanye West mit kindlichem Spieltrieb produziert: "Ein Tamburin berieselt die Samples wie ein Rasensprenger und die Snare knallt schon mal mit so viel Hall, als wohne sie in einer Bauruine. Unterdessen stolpern nervös stotternde Trompeten und verträumt gurgelnde Orgeln über die Bassdrum." Doch andererseits rappt Nas so lustlos dazu, als sei die Zeit 20 Jahre lang stehen geblieben: Doch vielleicht handelt es sich bei diesem Album und seine Ziellosigkeit gerade um "eine großartige Vertonung der Mid-Life-Crisis eines planlosen Genies, an dem der Zeitgeist vorbeigezogen ist. Es wäre dann ein geradezu radikal ehrliches Alterswerk." Hier ein aktuelles Video:


Weitere Artikel: Im Tagesspiegel schreibt Frederik Hanssen einen Nachruf auf den Dirigenten Carl August Bünte. Im heutigen Offenbach-Schwerpunkt der FAZ schreibt Elena Witzeck über den Club Robert Johnson.

Besprochen werden die Neuauflage von Alice Coltranes "Lord of Lords" (Pitchfork), das neue Album der New Yorker Rockband Parquet Courts (Zeit), der Auftakt des Rheingau Musik Festivals mit Puccini und Berlioz (FR), das Waldbühnenkonzert, mit dem sich Simon Rattle endgültig von den Berliner Philharmonikern verabschiedet hat (Tagesspiegel) und ein Mahler-Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin unter Kent Nagano (Tagesspiegel).
Archiv: Musik