Efeu - Die Kulturrundschau

Gläserne Miniskulpturen aus Worten

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27.06.2018. Der Tagesspiegel wischt zusammen mit Teresa Margolles das Blut der mexikanischen Geschichte auf. In der FAZ stellt die Literaturagentin Yasmina Jraissati ernüchtert fest, dass in der arabischen Literatur der Trend zur Dystopie geht. Außerdem hat die FAZ  ein Ufo in Santander gesichtet. Der Standard lernt von Lacaton & Vassal, wie man aus Nichts etwas Nützliches und Poetisches schafft. Und die SZ verleiht Markus Söder die Goldene Weißwurst.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.06.2018 finden Sie hier

Kunst

Teresa Margolles: Sutura. Mit dem Tuch wurde das Blut einer ermordeten Frau auf der Straße aufgewischt. Foto: daad-Galerie 


Im Tagesspiegel porträtiert Jens Hinrichsen die mexikanische Künstlerin Teresa Margolles, die in ihrer Kunst immer wieder das Blut und die Schicksale von Getöteten einarbeitet: Ermordete Frauen, ertrunkene Flüchtlinge, erschossene Narco-Gangster. Die daad-Galerie zeigt in Berlin ihre Arbeit: "Margolles' Ästhetik verdankt sich ihrer Ausbildung als Gerichtsmedizinerin. In Europa wurde die Mexikanerin 2002 bekannt, nachdem sie in den Berliner Kunst-Werken eine Wand goldglänzend eingefärbt hatte. Was oberflächlich an die Murales, die mexikanischen Wandmalereien, erinnerte, war aus sieben Kilo menschlichem Fett hergestellt, das bei Schönheitsoperationen abgesaugt worden war. Anderswo ließ Margolles Seifenblasen auf dem Publikum zerplatzen, die Leichenwaschwasser enthielten. Oder sie schloss einen totgeborenen Fötus in einen Betonblock ein. Vielen geht ihr Spiel mit dem Entsetzen zu weit. Aber was ist erschütternder als die Erkenntnis, dass Tod und Unrecht Teil unser aller Existenz ist?"

Weitere Artikel: Le Monde hat inzwischen acht neue Graffiti von Bankys in Paris lokalisiert, darunter ein verhüllter Napoleon im Norden von Paris, eine Trauergestalt neben dem Bataclan oder ein schwarzes Mädchen, das ein Hakenkreuz übersprüht. Der Standard bringt dazu eine tolle Bilderstrecke. Im Interview mit Marc Neumann spricht die amerikanische Künstlerin Martha Rosler über ihre zusammen mit Hito Steyerl besorgte Ausstellung "War Games" im Kunstmuseum Basel, über Soziale Netze als körperlose Orte und Museen, denen bei allen Diversitätsdiskursen die Diversität abhanden kommt.

Besprochen werden eine Ausstellung zu klassisch dänischer Architektur im Jenisch Haus in Hamburg (SZ), eine Schau der deutschen Künstlerin Imi Knoebel im Haus Konstruktiv in Zürich (NZZ), die Ausstellung "Doppelleben - Bildende Künstler_innen machen Musik" im Wiener Mumok (Standard) und  die Schau "Im Schattenreich der wilden Zwanziger" mit Bildern des Fotografen Karl Vollmoeller mit ungeheuer modernen Bildern seiner Partnerin Ruth Landshoff Yorck Max Liebermann Haus in Berlin (Tagesspiegel).

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Literatur

Der Trend im arabischen Sprachraum zu sozialrealistischer und gesellschaftskritischer Literatur geht zurück, erklärt Yasmina Jraissati im FAZ-Interview. Die Beiruter Agentin für arabische Literatur sieht dafür einen deutlichen Trend zur Dystopie und macht dafür vor allem politische Gründe aus: "Die Absurdität von Gewalt kommt in Dystopien zum Ausdruck. Ibrahim Nasrallah, der Gewinner des diesjährigen Arab Booker Prize, hat so ein Buch geschrieben, an der Grenze zur Science-Fiction. Der Ägypter Youssef Rakha ist in diesem Sinn auch interessant, er experimentiert viel, seine Literatur ist schwierig. Aber er ist ein Trendsetter, jedenfalls ein potentieller. Er gehört zur Beat Generation in ihrer Kairo-Version."

Der HR bringt heute Abend eine Hörspielversion von Ezra Pounds über Jahrzehnte hinweg entstandener Gedichtsammlung "Cantos": Diese besteht aus "fernöstlichen Ideogrammen, hellenistischen Bildungsbrocken, nordamerikanischen Staatsgründungsdokumenten, gläsernen Miniskulpturen aus Worten", erklärt Dietmar Dath in der FAZ und schreibt weiter, dass man dieses Konvolut, an dem Pound selbst immer wieder zu scheitern drohte, "gar nicht komplett senden" könne: Immerhin ist die Hörfunk-Adaption eine "gerechtestmögliche, auf Sinnsang hin montierte Zitatensammlung aus dem Sagensack dieser Dichtung, Illustration des Prinzips der Einschachtelung und Verschränkung, das dem Dichter die Balkenbrückenstatik zwischen Gegenwart und Mythentiefe, lokal Erlebtem und universal Geahntem gewährleisten sollte."

Weitere Artikel: Für die NZZ hat Paul Jandl einen Blick in die Nachlassdokumente aus den Studienzeiten Ingeborg Bachmanns geworfen, die die Österreichische Nationalbibliothek gerade für 130.000 Euro ersteigert hat: Nachvollziehen lasse sich darin, "wie die Auflehnung gegen den Druck der akademischen Besitzstandswahrer zur intellektuellen Biografie wird."

Besprochen werden unter anderem Sibylle Lewitscharoffs und Najem Walis "Abraham trifft Ibrahim. Streifzüge durch Bibel und Koran" (SZ), Teju Coles "Blinder Fleck" (Tagesspiegel), Verena Luekens "Anderswo" (Tagesspiegel), Karl Ove Knausgårds "Sommer" (SZ), Marie Nimiers "Der Strand" (NZZ), Giorgio Scerbanencos wiederveröfffentlichte Krimis aus den 60ern (FR), Gipis postapokalyptischer Comic "Die Welt der Söhne" (Tagesspiegel) und Marie Gamillschegs "Alles was glänzt" (FAZ).
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Architektur

Renzo Pianos Centro Botín in Santander. Foto: RPBW

Für Joan Mirós Skulpturen hat der italienische Architekt Renzo Piano in Santander mit dem Centro Botín ein Museum gebaut, dass dem spanischen Formenzauberer Miró bestimmt gefallen hätte, glaubt in der FAZ Stefan Trinks. Es gleicht einem Ufo und schwebt halb über Land, halb über dem Atlantik: "Wie ein in der Mitte aufgeschnittener und aufgespießter Laib Alien-Brot klappen die beiden Baukörper um einen neu entstandenen urbanen Platz auf. Durch die Aufständerung wirken die knapp siebentausend Quadratmeter Bruttogrundfläche, die sich teils über die Wasserkante ins Meer schieben, schwebend leicht; die Wegeführung hin zum Wasser setzt sich unter dem Museum fort."

Nicola Weber trifft für den Standard das Architektenpaar Lacaton & Vassal, dem das Innsbrucker Zentrum Architektur und Tirol gerade eine Ausstellung widmet. Der wahre Reichtum sei der vorhandene Raum, lernt sie von ihnen: "'Ein Fenster zu öffnen gilt heute als Fehler', ärgert sich Lacaton. Passivhaustechnologie? 'Zu anspruchsvoll. Es geht einfacher und billiger.' Sinnlose Baunormen gilt es da immer wieder zu bekämpfen, findet sie. Mag sein, dass an dieser Denkweise Jean-Philippe Vassals fünfjähriger Afrikaaufenthalt nicht ganz unschuldig ist. 'Aus fast nichts etwas Nützliches und zugleich Poetisches zu machen, das hat mich sehr beeinflusst', bestätigt er."
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Design

Die FAZ hat Laura Henkels Porträt des Offenbacher Designers Sebastian Herkner online nachgereicht.
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Bühne

Wenn jetzt Georg Baselitz in München und demnächst Neo Rauch in Bayreuth die Bühnenbilder besorgen, ist das keine neue Idee, stellt Manuel Brug in der Welt klar. Schon Sergei Djagilew ließ für seine Ballets Russes Gontscharowa, Kandinsky, Picasso oder Chanel arbeiten. Neu ist für ihn höchstens, dass sich die großen deutschen Maler selten auf die Oper als Gesamtkunstwerk einließen: "Jörg Immendorf, Georg Baselitz, Werner Tübke, Markus Lüpertz, Daniel Richter, sie alle blieben doch bei ihren Opernausflügen von Chemnitz bis Salzburg, Bremen bis Berlin sehr eindimensional den Leinwänden verhaftet. Die Sensation war meist der Name, nichts so sehr das Ergebnis." 

Besprochen wird John Neumeiers "Beethoven"-Choreografie in Hamburg (SZ, FAZ).
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Film

Eher belustigt nimmt David Steinitz in der SZ zur Kenntnis, dass Markus Söder mit der üblichen bayerischen Haudrauf-Rhetorik verkündet hat, das Filmfest München - bislang vor allem ein nachspielendes "Best of Festivals"-Festival - mit einer Finanzspritze zur besseren Berlinale machen zu wollen. Doch mit Geld allein ist es schließlich nicht getan: "Die Goldene Palme von Cannes und der Goldene Bär von Berlin haben sich über Jahrzehnte den Ruf von prestigeträchtigen Preisen erworben. Oder anders gesagt: Die Hollywoodstars werden bestimmt nicht vom nächsten Jahr an Schlange stehen, um sich eine goldene Weißwurst oder was auch immer verleihen zu lassen."

Weitere Artikel: Kerstin Decker (Tagesspiegel) und (Berliner Zeitung) führen durchs Programm des Jüdischen Filmfestivals Berlin und Brandenburg. Christiane Peitz meldet im Tagesspiegel, dass die Academy 928 Neumitglieder - annähernd die Hälfte davon Frauen! - zu sich geladen hat, darunter auch Diane Kruger, Christian Petzold, Hong Sang-soo, Bela Tarr und Kendrick Lamar.

Besprochen werden David Lynchs gemeinsam mit Kristine McKenna verfasste Autobiografie "Traumwelten" (Spex), Melanie Andernachs Flüchtlings-Dokumentarfilm "Global Family" (ZeitOnline) und Greg Berlantis "Love, Simon" (Standard).
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Musik

Jan Brachmanns Rückblick in der FAZ auf Simon Rattles Jahre bei den Berliner Philharmonikern fällt nicht nur schmeichelhaft aus: Unbekümmert sei sein Umgang mit der gewachsenen Aufführtradition gewesen, sein gefeiertes "Education"-Programm nicht gar so originell wie es meist dargestellt wird. Und immer wieder, so Brachmann, schien durch Rattles Stellungnahmen hindurch, dass Berlin "für ihn weitaus mehr Herausforderung war als Vergnügen. Liebe, Freude, Hingabe, Gelöstheit hat man da wenig bemerkt. ... Blickt man auf die Stücke, die sich das Orchester in diesen sechzehn Jahren neu oder vertiefend erschlossen hat, Musik von Helmut Lachenmann genauso wie von Sergej Rachmaninow, wichtige Uraufführungen von Hans Abrahamsen und Wolfgang Rihm, so ist das eine gute, ertragreiche Zeit gewesen. Aber die Sehnsucht nach einem Umgang miteinander, der weniger ein Ringen, mehr ein Verstehen ist, die spürt man nun auch."

Weitere Artikel: Auf ZeitOnline zeichnet Bernhard Haysinger nach, wie Trap vom Underground- zum Mainstream-Phänomen wurde, dem sich derzeit kein angesagter Act entziehen kann. Sehr ausführlich beleuchtet Lutz Vössing bei Skug die Hintergründe von Holger Czukays und David Sylvians in den 80ern entstandenen Alben "Plight & Premunition" und "Flux & Mutability", die jetzt von Grönland Records wiederveröffentlicht werden.

Besprochen werden neue Bücher über Can und Kraftwerk (NZZ), John Coltranes verschollen geglaubtes Album "Both Directions at Once" (The Quietus), das neue Album "I'm All Ears" von Let's Eat Grandma (Spex-Kritikerin Stefanie Roenneke verspricht "ein hypermodernes Spiel mit Sounds und Effekten"), Lucrecia Dalts neues Album "Anticlines" (taz), ein Auftritt von Nick Cave (Standard) und ein Konzert des Artemis-Quartett (NZZ). Außerdem setzt uns Julian Dörr in der SZ-Popkolumne darüber in Kenntnis, dass Jim James offenbar sein Jodel-Diplom gemacht hat, jedenfalls beginnt sein neues Gitarrenrockalbum wie folgt: "Wi-didli-di-di, wi-didli-di-dö-dö."

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