Efeu - Die Kulturrundschau

Medium der Älteren

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28.06.2018. Die NZZ verschaltet in der Kunsthalle Zürich ihr Unbewusstes mit dem des georgischen Künstlers Andro Wekua. Zeit online macht sich mit mit einer posthum veröffentlichten CD John Coltranes zum Abheben bereit. Der Tagesspiegel sorgt sich um die Gesundheit des Filmemachers Oleg Senzow, der sich seit 45 Tagen im Hungerstreik befindet. Es gibt keine objektive Geschichtsschreibung, erklärt der frische gebackene Goncourt-Preisträger Eric Vuillard im Freitag.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.06.2018 finden Sie hier

Kunst

Andro Wekua, Burning Palm, 2018. Courtesy the artist and Gladstone Gallery. Foto: Annik Wetter

Susanne Koeberle lässt sich für die NZZ vom gerade in der Kunsthalle Zürich ausstellenden georgischen Künstler Andro Wekua erklären, wie er seine collageartigen Figuren herstellt: in Schichten, mit Aluminiumplatten und alten Fotos, Videos und brennender Palme: "Das schnittartige Zusammenfügen entspricht den Werken auch inhaltlich. Die surreal anmutenden Motive, Pflanzen, Menschen und Räume, erzeugen eine traumartige Logik. Das Unterbewusstsein funktioniert als Fundus disparater Bruchstücke, die wie im Traum neu zusammengefügt werden, jeder zeitlichen Linearität trotzend. Erinnertes verschmilzt mit Gegenwärtigem, es gibt kein Vorher und kein Nachher."

Weitere Artikel: Marc Zitzmann besucht für die FAZ Giacomettis Atelier in Paris. Ein leicht beklommener Ijoma Mangold durfte für die Zeit dabei sein, als sich die globale Kulturelite bei einem Symposion des Instituts für Auslandsbeziehungen zu Ehren des verstorbenen Museumsdirektors Martin Roth ein Stelldichein gab: "Vom Zusammenbringen der Menschen über Grenzen hinweg, von Migration und Transnationalität war ohnehin immerzu die Rede, und dann schaute man auf diesen exklusiven Club und war sich nicht sicher, ob die sich alle selbst meinen." Susanne Koeberle wagt sich für die Manifesta-Berichterstattung der NZZ in eine verwahrloste Hochhaussiedlung bei Palermo. Alex Rühle schreibt in der SZ den Nachruf auf den südafrikanischen Fotografen David Goldblatt. In der FAZ wehrt sich Volker Krahn von den Staatliche Museen zu Berlin vehement gegen die Absicht des Bayer Konzerns, Giambolognas Statue des Mars von Sotheby's versteigern zu lassen: Sie gehört nach Dresden und sonst nirgends hin. In der SZ fragt sich Jörg Häntzschel mit Blick auf den "Mars", ob das neue Kulturgutschutzgesetz vielleicht nicht weitgehend genug ist.

Besprochen werden Volker März' Ausstellung "Der Affe fällt nicht weit vom Stamm" im Georg-Kolbe-Museum in Berlin (Tagesspiegel) und eine Ausstellung mit Werken von Arnulf Rainer und Donald Judd im Arnulf Rainer Museum in Baden bei Wien (Standard).
Archiv: Kunst

Bühne

Die Wiener Festwochen scheinen mit ihrem neuen belgischen Intendanten Christophe Slagmuylder die eierlegende Wollmilchsau bekommen zu haben, die heute alle suchen: "Er will sie 'visionär und traditionsbewusst, international und auch lokal verwurzelt' gestalten", informiert im Standard Stefan Weiss.
Archiv: Bühne

Musik

Morgen erscheint mit "Both Directions at once" ein bislang unveröffentlichtes Album von John Coltrane aus der Phase des "Classic Quartet", das seit einigen Wochen zur Sensation, nun ja, hochgejazzt wird. Das passt zum momentanen Goldenen Zeitalter des Jazz, wo sich Aufsehen erregende Veröffentlichungen aneinander reihen wie schon lange nicht mehr, schreibt Reinhard Köchl auf ZeitOnline in einer historischen Rekonstruktion der Umstände dieser Aufnahmen im März 1963, unmittelbar vor Coltranes größten Meisterleistungen: Das jetzt vorliegende Album "steht am Anfang eines kühnen Marathonfluges zu den Sternen und zeigt den Meister, wie er noch mit beiden Beinen auf dem Boden steht, jederzeit zum Abheben bereit." Er spielt "wahrscheinlich so gut wie nie zuvor oder später in seinem kurzen Leben. Dieser Saxofonist schöpft wirklich aus der gesamten Palette der technischen Möglichkeiten und Emotionen, er taucht in weiche Täler hinab, segelt entspannt, um dann schnell und ruckartig nach oben zu schießen wie ein Komet."



In der Welt lobt Josef Engels den für Coltrane-Verhältnisse auffallend sperrigen Titel des Albums für seinen treffenden Charakter, "weil er die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft" in diesen Aufnahmen "genau auf den Punkt bringt." Schließlich begegnet man hier "einem Coltrane, der mit Sopran- und Tenorsaxofon immer wieder an den Gittern des harmonischen und melodischen Käfigs rüttelt. ... Da ist schon viel von dem Coltrane der späten Jahre zu erkennen."

Im Tagesspiegel dämpft Gregor Dotzauer die Erwartungen und insbesondere die entfesselte Rhetorik vieler seiner Kollegen ein wenig: Die ganz große Sensation ist diese Veröffentlichung dann nämlich doch nicht, schließlich enthüllen die Aufnahmen keineswegs ungekannte Facetten des Künstlers, "sie zeigen sein sogenanntes klassisches Quartett allerdings in bestechender Form." Im FAZ-Gespräch erklärt Coltranes Sohn Ravi, dass sich noch diverse Bänder im Besitz seiner Familie befinden, "da ist also durchaus noch etwas zu erwarten".

Weitere Artikel: Im Standard spricht Stefan Weiss mit dem Techno-DJ Fritz Kalkbrenner unter anderem über den melancholischen Kern seiner Musik:, der "aus Kenntnis um die Natur dieser Musik entspringt, die ja im Ursprung überhaupt nichts Lustiges hatte, sondern Wut beinhaltete. ... Techno ist kein Karneval." In der Welt erzählt Dennis Sand die Geschichte des Labels Selfmade Records, das in den 00er-Jahren zum wichtigsten Forum für deutschen Hip-Hop wurde, jetzt aber nach dem Weggang zahlreicher Rapper in der Verramschung zu versinken droht. Für die FAZ hat Micharl Ernst die Schostakowitsch-Tage in Gohrisch besucht. Außerdem meldet der Standard, dass Archäologen derzeit die Woodstock-Stätte ausgraben.

Besprochen werden umfassende CD-Werkschauen der Dirigenten Esa-Pekka Salonen und Rafael Kubelík (SZ), David Byrnes Wiener Auftritt (Standard) und ein Konzert der Band Touché Amoré (FR).
Archiv: Musik

Design

Wenn immer mehr Modedesigner in ihren Sommerkollektionen Comicelemente aufgreifen, dann ist das kein Ausweis von Jugendlichkeit mehr, schreibt Tilmann Prüfer in der Stilkolumne des ZeitMagazins: Comics "sind längst ein Nostalgie-Thema. Die Smartphone-Generation ist über das Blättern von gedruckten Heften hinweggekommen, was man auch daran sehen kann, dass in den vergangenen Jahren kein neuer internationaler Comic-Charakter mehr erfolgreich wurde. Comics sind heute ein Medium der Älteren."

In der Zeit dreht Hanno Rauterberg ein paar dicke Locken auf der Glatze des deutschen Gartens.
Archiv: Design

Film

Im Tagesspiegel sorgt sich Frank Herold um die Gesundheit des Filmemachers Oleg Senzow, der sich in Russland im Hungerstreik befindet: "Was wäre, wenn Oleg Senzow stirbt? Mitten in diesem Fußballfest, dem sich Russland gerade so leidenschaftlich hingibt. ...  Seit dem 14. Mai nimmt er nur Flüssigkeit und Vitamine zu sich. Herz, Nieren und Leber haben Schaden genommen, sagen seine Vertrauten. Der Körper baut die letzten Reserven ab, er verzehrt sich selbst. ... Dass die Zeit drängt, glaubt die Staatsmacht offensichtlich nicht. Putins Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa erklärte Senzows Hungerstreik sarkastisch zum Heilfasten."

Weitere Artikel: Kaum designiert, tadeln die Drehbuchverbände den künftigen Berlinaleleiter Carlo Chatrian auch schon dafür, ihre Zunft in einem ersten Interview nicht ausreichend gewürdigt zu haben, schreibt Christiane Peitz im Tagesspiegel. Die Entscheidung der Academy, 928 Neumitglieder einzuladen - annähernd die Hälfte davon Frauen - deutet Standard-Kritiker Dominik Kamalzadeh als "deutliches Signal des Willens auf Veränderung". Nina Jerzy (NZZ) und Andreas Platthaus (FAZ) gratulieren der Schauspielerin Kathy Bates zum 70. Geburtstag. In Berlin-Weißensee wird Adolf Gärtners 1915 dort gedrehter Stummfilm "Die Toten erwachen" gezeigt, schreibt Andreas Hartmann in der taz.

Besprochen werden Greg Berlantis "Love, Simon" (Perlentaucher), Paul Schraders am Wochenende beim Filmfest München gezeigtes Priesterdrama "First Reformed" (SZ), Steven Quales "Renegades - Mission of Honor", der laut taz-Kritikerin Barbara Schweizerhof die Ehre des handgemachten, franchise-losen Actionkinos rettet, Melanie Andernachs und Andreas Köhlers Dokumentarfilm "Global Family" über eine somalische Flüchtlingsfamilie (taz), Jérôme Reybauds auf DVD veröffentlichtes Roadmovie "Vier Tage in Frankreich" (taz, Sissy Mag), Stefano Knuchels "Quando ero Cloclo" (NZZ),Oliver Haffners  "Wackersdorf" (SZ), ichael Kreihsls "Die Wunderübung" (FR, FAZ) und die Helmut-Dietl-Ausstellung im Berliner Filmmuseum (Tagesspiegel).
Archiv: Film

Literatur

Für seinen Roman "Die Tagesordnung" über den Filz zwischen Nazis und Wirtschaft, der in die Annexion Österreichs mündet, ist Éric Vuillard mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet worden. Für den Freitag hat Malte Thie bei dem Schriftsteller nachgefragt, welche Auffassung von Geschichtsschreibung und Subjektivität er hat: "Der professionelle Historiker ist eine Subjektivität innerhalb der Universitäten, also innerhalb der Recherche. Genauso wie auch der Schriftsteller eine Subjektivität innerhalb seiner Epoche ist. Das Subjektive ist letztlich Ergebnis unserer sozialen Prägung, welche unser Sein dominiert. Historische Tatsachen sind somit also nicht ein für alle mal in Stein gemeißelt. Vielmehr sind diese Fakten in Bildern und Dokumenten festgehalten, deren Lektüre letztlich wieder subjektiv ist. Alfred Döblin hat das schön ausgedrückt: Bereits mit der Lektüre der Dokumente beginnen die großen politischen Manöver. Sprich die Subjektivität wirft bereits ihre Schatten voraus."

Tell dokumentiert Sieglinde Geisels auf der Jahrestagung des Vereins der deutschen Übersetzer gehaltenen Vortrag über das Verhältnis zwischen Autor und Übersetzer, dessen Arbeit sichtbarer werden sollte. Biografische Angaben zum Übersetzer sind heute zwar üblicher als früher, doch wünscht sie sich außerdem "einen Kommentar der Übersetzerin, denn ich möchte wissen, welche Entscheidungen sie getroffen hat. Welche Parameter der Ausgangssprache lassen sich im Deutschen nicht abbilden - und welche muss man wiederum ergänzen? Welche Freiheiten hat sich die Übersetzerin genommen, welche hat sie sich versagt? ... Ein literarisches Werk kann man nur an seinen eigenen Ansprüchen messen, und das gilt auch für die Übersetzung. Man muss die Voraussetzungen kennen, mit denen der Übersetzer an sein Werk gegangen ist."

Weitere Artikel: Die NZZ dokumentiert Thomas Hettches Laudatio auf Christoph Peters zur Verleihung des Wolfgang-Koeppen-Preises. Im Standard empfiehlt Bert Rebhandl Boris Becker Bücher, die ihm dabei behilflich sein könnten, seine momentane verzwickte Lebenssituation zu meistern. Joe Paul Kroll berichtet in der FAZ von der Mainzer Tagung "Literarische Strategien bei Hans Blumenberg".

Besprochen werden George Saunders' "Lincoln im Bardo" (Intellectures), Toni Morrisons Essayband "Die Herkunft der Anderen" (FR), Bodo Kirchhoffs "Dämmer und Aufruhr" (Tagesspiegel), neue Lyrikbände von W. S. Merwin (Tagesspiegel), Robert Seethalers "Das Feld" (FR), Franz Fühmanns "Über Gottfried Benn" (FR), Kristine Bilkaus "Eine Liebe, in Gedanken" (SZ), Halldór Laxness' "Sein eigener Herr" (Jungle World) und Isak Samokovlijas wiederentdeckter Erzählband "Der Jude, der am Sabbat nicht betet" (FAZ).
Archiv: Literatur