Efeu - Die Kulturrundschau

Schnell wieder raus

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02.07.2018. Aufregung in Bayreuth: Kurz vor der Premiere sagt der Tenor Roberto Alagna den Lohengrin ab, die Welt ärgert sich  über die verludernden Sitten im Operngeschäft. München hat Frank Castorf adoptiert, freut sich die SZ nach seiner dekadent-morbiden "Don-Juan"-Inszenierung am Residenztheater. Monopol beleuchtet die Social-Media-Strategien mancher Museen. Und der Urbanist Christopher Dell empfiehlt der Architektur, vom Jazz das Improvisieren zu lernen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.07.2018 finden Sie hier

Bühne

Bibiana Beglau und Franz Pätzoldin Frank Castorfs "Don Juan". Foto:   Matthias Horn, Residenztheater


Grandiose Momente der Morbidität und der Dekadenz erlebte Egbert Tholl in Frank Castorfs Inszenierung von Molières "Don Juan" am Münchner Residenztheater: "Da ist man wieder in der vertrauten Castorf-Welt, in der Hysterie und Unfug herrschen, wobei in diesem Fall die Grundstimmung eine andere ist. Irgendwo wurmt immer trübselige, dunkle Musik herum, so Neondepression wie von Chris Isaak, Blues oder Klassik, meist liegt Mehltau über dem Geschehen, nah an der Larmoyanz, und die beiden Don Juans tun alles, um sich gegenseitig am Nasenring durch die Arena männlicher Idiotie zu ziehen." taz-Kritiker Annette Walter fand den Abend bemerkenswert unerotisch, doch kein bisschen langweilig: "Vielmehr wird der Zuschauer Zeuge einer Erosion der Männlichkeit. Denn im Grunde ist dieser Don Juan ein ziemlich mickriger Typ. Seine Lebensphilosophie ist frei nach Blaise Pascal nicht mehr als eine narzisstische Selbsttäuschung: 'Die Zerstreuung ist das Einzige, was uns über unser Elend hinwegtröstet, und dabei ist sie doch unser größtes Elend. Die Zerstreuung verschafft uns Amüsement und bewirkt, dass wir, ohne es zu merken, zu Tode kommen.'" Weitere Besprechungen in der nachtkritik und in der FAZ.

Der Tenor Roberto Alagna hat als "Lohengrin" für die Premiere in Bayreuth abgesagt und als Grund Überlastung genannt. In der SZ ahnt Michael Stallknecht, dass dies nicht nur unprofessionell ist, sondern symptomatisch: "Viele Sänger unterziehen sich nicht mehr den entsprechenden Mühen, nur um in Bayreuth aufzutreten. Der Mythos Bayreuth hat an Strahlkraft eingebüßt." Welt-Kritiker Manuel Brug sieht in Alagnas Fahnenflucht weniger ein Problem Bayreuths als eines der gesamten Branche: "Das ist sicher das Unprofessionellste, was sich ein Star in einem immer mehr verludernden Geschäft seit Jahren geleistet hat ... Immer häufiger aber wird es zur Regel, dass immer kurzfristiger abgesagt wird. Anna Netrebko, Diana Damrau, Elina Garanca, man könnte einige Namen aufzählen. Die alle genau wissen, dass bei immer weniger wirklich zugkräftigen Stars der Betrieb auf sie angewiesen ist und dass sie die Opernhäuser damit erpressen können. Weil diese sie, allen Vertragsbrüchen zum Trotz, dann doch immer wieder brauchen werden."

Weiteres: In einem grunsätzlichen Artikel in der NZZ denkt Michael Stallknecht über die Historisierung von Opernproduktionen nach. Felix Michel berichtet ebenfalls in der NZZ von den St. Galler Festspiele, die sich zur Eröffnung an Puccinis selten aufgeführte Oper "Edgar" wagten.

Besprochen werden Olaf Nicolais Stück "Brecht in der Auto-Werkstatt" (Welt), die Nurejew-Gala in der Wiener Staatsoper (Standard), Frank Matthus' Abschiedsinszenierung "A Bad Man's Life" von der Kammeroper Schloss Rheinsberg (Tagesspiegel) und Karlheinz Stockhausens Musiktheaterstück "Originale" beim "Notes"-Festival für zeitgenössischen Musik in Braunschweig (FAZ).
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Kunst

Gerhard Richter: Abstraktes Bild (551-1), 1984, Privatsammlung.

So klar wie mit der großen Ausstellung im Museum Barberini hat Welt-Kritikerin Gesine Borcherdt noch nie vor Augen geführt bekommen, worum es Gerhard Richter mit seiner Abstraktion geht: Um die Befreiung von allem Subjektiven. "Richter war einer der Ersten, der Abstand nahm zu dem großen, gefühlvollen Gehalt des Mediums. Und das hieß vor allem: zum Männerschweiß des Abstrakten Expressionismus, wie er ihn in der Nachkriegszeit erlebt hatte - auf der Documenta II im Jahr 1959 zeigten Jackson Pollock und Mark Rothko den gebeutelten Europäern, wie man Leinwände in abstrakte Pathosformeln verwandelte."

Nachdem das Historische Museum Basel angekündigt hat, künftig wieder auf "Tweeds" (sic!) zu verzichten, rät in Monopol Anika Meier den Institutionen und Kritikern noch einmal dringend, ihre Social-Media-Politik zu überdenken: "Für Museumsdirektoren ist es nicht schwer, den Verdacht bestätigt zu bekommen, dass die sozialen Medien kein Pferd sind, auf das man setzen sollte. Feuilleton aufschlagen, über den Social-Media-Wahn der Museen lesen, Zeitung zuschlagen. Schlimm dieses Internet. Und Trump ist auch schon da. Schnell wieder raus."

Weiteres: Die FR meldet, dass die Wikingerstadt Haithabu bei Schleswig wie auch der Naumburger Dom Weltkulturerbe werden. SZ-Kritiker Joseph Hanimann besucht das kleine Giacometti-Museum, das mit der Ausstellung "Geseehen von Jean Genet" in Paris eröffnet wurde.

Besprochen werden die Ausstellung "Künstler Komplex" mit fotografischen Künstlerporträts aus der Sammlung Platen im Museum für Fotografie in Berlin (FAZ) und die Schau "Schönheit und Abgrund", mit der sich Kurator Christian Melzer von der Zitadelle Spandau verabschiedet (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst

Film

Big-Hair-Revival in "Glow" (Bild: Erica Parise/ Netflix)
Im Tagesspiegel plaudert Andreas Busche mit den Showrunnerinnen Carly Mensch und Liz Flahive über deren Wrestlerinnen-Serie "Glow", die nun bei Netflix in die zweite Staffel geht. Ein kurzweiliges Vergnügen, verspricht Busche, denn die Serie über eine tatsächliche Fernsehsendung aus den Achtzigern, "gehört derzeit zu den besten Comedy-Shows des Streamingdiensts, eine hinreißende Hommage an die Ära von Neon-Leggins, Big Hair und Schnauzbart-Machismo - und eine zeitige Reaktion auf 'MeToo'."

Weitere Artikel: In der taz empfiehlt Peter Nau die dem Filmemacher Peter Goedel gewidmete Werkschau im Berliner Zeughauskino.

Besprochen werden eine Arte-Doku über Cary Grant (FR) und Klaus Lemkes auf DVD erschienener "Paul" aus den frühen 70ern sowie dessen neuer Film "Bad Girl Avenue", der beim Filmfest München läuft (SZ).
Archiv: Film

Literatur

Harry Nutt berichtet in der FR von einem Abend in der Suhrkamp-Villa, bei dem Peter Handke Gedichte des sorbischen Dichters Kito Lorenc las: "Lyrikabende sind stets auch seltene Heiligungen des gesprochenen Wortes, obwohl die in großer Leichtigkeit daherkommenden Werke von Kito Lorenc gerade durch ihre lakonische Bodenständigkeit faszinieren. ... Man hätte noch eine Weile zuhören können, aber schon wurde die derart eingestimmte Gesellschaft zum Gartenempfang entlassen, die beim Auszug ins Freie dem Betriebsausflug der Belegschaft eines Literaturmuseums glich. Claus Peymann traf auf B. K. Tragelehn, und die durch Sybille Lewitscharoff und Thomas Meinecke vertretene mittlere Suhrkamp-Generation betrachtete das Geschehen von ihren sehr weit auseinanderliegenden Diskursenden."

Eine "Sensation" ist die Veröffentlichung von Ulrich Alexander Boschwitz' bereits 1939 geschriebenem, aber erst jetzt veröffentlichtem Roman "Der Reisende", verspricht Paul Jandl in der NZZ: Was der vor den Nazis geflohene Schriftsteller "in seinen jungen Jahren in Deutschland und auf der Flucht gesehen hat, wird in diesem Roman zu einer überragenden und doch leisen Monografie der Gewalt, in der noch die feinsten Nuancen der Macht beschrieben sind. ... 'Der Reisende' ist eine Flaschenpost der Exilliteratur. Psychologisch eine Zeit des Umbruchs ausmessend, wie es für die 1920er Jahre schon Joseph Roth mit 'Das Spinnennetz' getan hat."

Weitere Artikel: Die FAZ hat Dietmar Daths großen Nachruf auf den SF-Autor Harlan Ellison online nachgereicht. Außerdem jetzt online bei der FAZ: Sandra Kegels Gespräch mit Frank Witzel über die Stadt Offenbach. Besprochen werden unter anderem Stefan Agopians "Handbuch der Zeiten" (taz), Adam Hasletts "Stellt euch vor, ich bin fort" (Intellectures), Alberto Breccias wiederaufgelegte Lovecraft-Comics aus den 70ern (SZ), Michal Ksiazeks "Straße 816" (FR) und neue Krimis, darunter Gianrico Carofiglio "Kalter Sommer" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Werner von Koppenfels über Geoffrey Hills Gedicht "Bei Durchsicht von 50 Jahre im Bild: Bundesrepublik Deutschland":

"It is not a matter of justice. Justice is in another world.
Or of injustice even; that is beside the point, or almost.
..."
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Architektur

Im Standard-Interview mit Maik Novotny erklärt der Urbanist und Musiker Christopher Dell, was Architektur und Stadtplanung vom Jazz lernen können: Richtig zu improvisieren. "Joseph Beuys sagte: Klaviervirtuosen sind die Feinde unserer Zeit. Weil sie in ihrer Virtuosität das Verfahren verdecken. Es geht aber darum, das Verfahren offenzulegen, denn so kommen wir auf Augenhöhe. Jeder von uns ist ein Virtuose des Alltags, er kann es nur nicht lesen und denkt, er habe den Plan verfehlt... Jeder Musiker weiß, dass Improvisation geschützte Übungsräume braucht. Das Überleben der modernen Demokratie hängt davon ab, dass wir solche Improvisationsräume schaffen, in denen wir lernen, die Differenz, das Fremde in der Stadt einfach zu genießen."
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Musik

Christiane Schlötzer berichtet in der SZ vom Auftakt der 25. Ausgabe des Jazzfestivals Istanbul, das sich von seiner widerständigen Seite zeigt: "Die Konzerte sind voll, das Publikum ist jung. Neue Künstler werden ebenso gefeiert wie die Veteranen der Szene, die ihren anatolischen Rock in die Nacht hämmern. Als wollte Istanbul einfach keine Ruhe geben, weiterleben, auch wenn keiner weiß, wie es weitergeht mit der Politik. ... Eine der Macherinnen des Jazzfestivals sagt: 'Je dunkler die Zeiten sind, desto mehr umarmen wir uns. Das ist unser Spirit.'

Weitere Artikel: Die "Schallplatte des Jahres" ist bereits zur Halbzeit gefunden, jubelt Lutz Vössing auf Skug: "Getimed" von AUF, dem Bandprojekt der Indie-Rockerin Anne Rolfs, mit der sich Vössing zum Gespräch getroffen hat. In der Jungle World schreibt Nils Neuneier-Quak über das DIY-Ethos der Neo-Krautrock-Band Datashock. Für die Berliner Zeitung spricht Sophia Kräge mit Jazzanova über deren Comeback. Die FAZ hat Jan Wieles Porträt des Jazzpianisten Michael Wollny online nachgereicht. Im Tagesspiegel verabschiedet sich Ulrich Amling von Iván Fischer, der nach sechs Jahren das Konzerthausorchester verlässt. Eleonore Büning erklärt in der FAS, wie Musiker von ihrer Musik krank werden. In der FAZ gratuliert Gerhard R. Koch dem Dirigenten Sylvain Cambreling zum Siebzigsten. Die NZZ gratuliert Mario Venzago, der gestern ebenfalls 70 wurde. Pitchfork erklärt in 45 Songs die Geschichte der Girl Groups und außerdem erinnert Jenn Pelly an das 1992 erschienene Nirvana-Album "Incesticide".

Besprochen werden das zweite Album von Let's Eat Grandma (The Quietus), John Coltranes bis dato unveröffentlichten Aufnahmen "Both Directions at Once" von 1963 (Pitchfork), eine luxuriöse Neuausgabe des ersten Guns'N Roses-Albums "Appetite for Destruction" (The Quietus), das von Kent Nagano dirigierte Requiem der Chorgemeinschaft Neubeuern für Enoch zu Guttenberg (FR), ein Konzert des Countertenors Andreas Scholl (FR), der Auftritt der Sängerin Victoria Hanna in Berlin (FAZ) und ein Konzert mit Tugan Sokhiev, dem DSO und der Violinistin Baiba Skride (Tagesspiegel). Und die Machtdose präsentiert ihren neuen Mix mit aktueller Netzmusik:

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