Efeu - Die Kulturrundschau

Mitschwingenlassen von Ungesagtem

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04.07.2018. Mit dem Büchnerpreis für Terézia Mora sind die Feuilletons alle einverstanden. Der Tagesspiegel spürt in Moras Werk schon die aufziehenden Stürme der neuen Weltordnung.  Die SZ stellt fest, dass zwar noch immer mehr Männer mit Literaturpreisen ausgezeichnet werden, an der Spitze aber dominieren die Frauen. Und die NZZ wandelt durch bizarre Kunstgewächse, die Steiner & Lenzlinger im Museum Tinguely in Basel in die Welt sprießen lassen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.07.2018 finden Sie hier

Literatur

Cover: Alle Tage"Eine einleuchtende, eine schöne Entscheidung", meint Dirk Knipphals: Die Schriftstellerin Terézia Mora erhält den Georg-Büchner-Preis 2018. Zwei Motive ziehen sich durch ihr Werk, erklärt der taz-Kritiker im weiteren: Das der "sinnlosen Bewegung" und das der "hilflosen Sprache. ... Aber während Terézia Mora dem Sprechen nicht recht traut, traut sie unbedingt der literarischen Sprache. In ihren Poetikvorlesungen bezeichnete sie es ausdrücklich als ihren 'Hoffnungsvorrat', dass sie einfach nicht davon ausgehen kann, 'dass zu erzählen, etwas in Sprache zu bringen, jemals sinnlos sein könnte'. Im Schreiben und dann auch im Mitschwingenlassen von Ungesagtem kann man sich dann eben doch orientieren." Auch Ulrich Rüdenauer hält diese Entscheidung für "ausgezeichnet" und führt auf ZeitOnline durch Moras Werk.

Gregor Dotzauer freut sich im Tagesspiegel, dass mit der 1971 in Ungarn geborenen, seit 1990 in Deutschland lebenden Schriftstellerin zum vierten Mal eine Person mit "hybrider Identität" ausgezeichnet wird: "In Terézia Moras Literatur spiegeln sich nicht mehr die Schatten des Zweiten Weltkriegs, sondern die aufziehenden Stürme einer neuen Weltordnung." Für Richard Kämmerlings von der Welt steckt in dieser Auszeichnung angesichts des gegenwärtigen politischen Klimas, in dem Debatten um nationale Identität die Öffentlichkeit bestimmen, ein politisches Statement. Mora befindet sich "auf Augenhöhe mit der Gegenwart" lobt auch Lothar Müller in der SZ und Tilman Spreckelsen unterstreicht in der FAZ, dass bei Mora "die Erfahrung von der widersprüchlichen Vielstimmigkeit der Welt ihren Ausdruck in einer adäquaten Vielstimmigkeit der Prosa findet."

Und überhaupt: Deutsche Literaturpreise, deren Vergabepolitik häufig als sexistisch eingeschätzt wird. Die SZ hat die Fakten ausgewertet, und Felix Stephan kommt dabei zu einem etwas differenzierterem Bild: Zwar ist es tatsächlich so, dass vor allem Männer ausgezeichnet werden, und dass im Durchschnitt die Preisträger Peter oder Michael heißen und um die fünfzig Jahre alt sind. "In der Spitze aber dominieren Frauen: Mit Daniela Strigl ist nicht nur die fleißigste Jurorin eine Frau. Auch die erfolgreichsten Autoren sind weiblich: Den ersten Platz teilen sich Sibylle Lewitscharoff und, nachdem ihr am Dienstag der Georg-Büchner-Preis zuerkannt wurde, Terézia Mora. Auch insgesamt steigt der Frauenanteil kontinuierlich: In den Jahren 2015 und 2017 lag er bei fünfzig Prozent, in diesem Jahr liegt er nur knapp darunter."

Paul Ingendaay besucht für die FAZ Novi Sad, die Heimat des großen europäischen Erzählers Aleksandar Tisma, dessen hoher Rang in der Literatur in einem krassen Missverhältnis zur Zahl seiner Leser steht, wie Ingendaay feststellen muss: "Es scheint, als hätte die neue Zeit Besseres zu tun, als diese aufwühlenden, aber auch brutalen Bücher zu lesen. Vielleicht ist das Problem noch viel allgemeiner. Es wäre möglich, dass die harte Erinnerungsliteratur der Jahrhundertmitte, die besonders von den 'Bloodlands' des Ostens, der Vernichtung der europäischen Juden, von Schuld und Verschweigen oder der völligen Entwurzelung handelt, durch den Tod ihrer Protagonisten allmählich aus dem Blick gerät, jedes Jahr ein bisschen mehr, und dass sie jüngeren Lesern, sofern es sie denn gibt, kaum noch vermittelbar ist."

Weitere Artikel: Claus-Jürgen Göpfert hat für die FR ein großes Gespräch mit Bodo Kirchhoff geführt. Im Tagesspiegel stimmt Gerrit Bartels auf den Ingeborg-Bachmann-Lesewettbewerb in Klagefurt ein. Niemals daran teilnehmen würden im übrigen Daniel Kehlmann, Marlene Streeruwitz und Martin Prinz, die das im Standard ausführlich begründen. Tobias Lehmkuhl hat in Berlin den Auftakt der Gastprofessur des Schriftstellers Édouard Louis besucht. Als Kritiker der deutschen Literatur ist Maxim Biller gescheitert, als Autor deutschsprachiger Literatur hingegen hat er sich seinen Platz in der Literaturgeschichte erfolgreich erschrieben, lautet Jan Wieles FAZ-Fazit nach Billers Heidelberger Poetikvorlesung. Auf chinesischen Bestseller-Listen tummeln sich mehr Bücher aus dem Westen als chinesische auf den westlichen Listen, hat Arno Widmann von der FR erfahren.

Besprochen werden Hans Falladas Erzählungsband "Junge Liebe zwischen Trümmern" (Tagesspiegel), Emil Ferris' hymnisch besprochener Comic "Am liebsten mag ich Monster" (Tagesspiegel), neue Romane aus Rumänien von Lavinia Branişte und Florin Lăzărescu (FAZ) sowie neue Kinder- und Jugendbücher (NZZ).

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Bühne

In der FR berichtet Sylvia Staude vom Internationalen Wettbewerb für Choreographie in Hannover.

Besprochen werden Toshio Hosokawas Oper "Erdbeben. Träume"  in Stuttgart (die NZZ-Kritiker Marco Frei in jeder Hinsicht faszinierend und sinnlich  fand), Puccinis "Edgar" vor großer Kulisse in St. Gallen (FR) und die Rockoper "Trianon" in Budapest (die FAZ-Kritiker Wolfgang Sandner nicht nur etwas von Ungars historischem Trauma, sondern auch vom Parfum spécial des Landes vermittelte).
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Stichwörter: Parfums, Parfüm, Trauma, Erdbeben

Kunst

Les Envahisseurs, 2004. © 2018 Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger. Museum Tinguely

Eine staunende Maria Becker besucht für die NZZ das Kuriositätenkabinett, das die Schweizer Künstler Steiner & Lenzlinger im Museum Tinguely in Basel errichtet haben. Hier finden sich bizarre Gewächse, Ameisenspuren und alte Plattenspieler zu einem ganzen eigenen Kosmos schräger Schönheit: "'Too early to panic' heißt die Schau - und wahrhaftig, wir brauchen keine Sorge zu haben, dass die Dinge des Lebens ihre Ordnung finden. Die Installationen von Steiner & Lenzlinger sind eine Art temporärer Weltaneignung. Das Schweizer Künstlerduo bespielt Orte rund um den Globus: Kunsthallen, Kirchen, Fabrikruinen, Bibliotheken, Berghöhlen. Die Welt ist die Plattform ihrer Kunst. Das Alleinstellungsmerkmal der ausgreifenden Inszenierungen ist ein Gewebe aus Naturmaterial und Dingen, die gefunden oder selbstgemacht sind. Hinzu kommen chemisch reaktive Stoffe, die sich im Lauf der Schau zu unvorhersehbaren Gebilden auswachsen."

Weiteres: Als unerschrockene "Kriegerin der Fotografie" porträtiert Daniele Muscionico in der NZZ die jordanisch-amerikanische Reporterin Tanya Habjouqa, der das Forum für Dokumentarfotografie in Winterthur gerade die Ausstellung "Tomorrow There Will Be Apricots" widmet. In der Berliner Zeitung meldet Ingeborg Ruthe, dass sich das Kunstmuseum Bern mit den Erben Paul Cézannes über das Bild "La Montagne Sainte-Victoire, 1897" geeinigt hat, das offenbar rechtmäßig in den Besitz des NS-Kunsthändler Hildebrand Gurlitt gekommen war. FR-Kritiker Peter Iden blickt nach Besuch einer Ausstellung im Burda-Museum in Baden-Baden auf den langen Weg zurück, den James Turell seit dem Bau seines Roden Craters in Arizona genommen hat: "Es ist eine versöhnlich Kunst. Aber doch auch wieder nur harmonisch nicht. Was Turrell nämlich einst zu dem Projekt in der Wüste von Arizona motivierte, ist bis heute Antrieb seiner Arbeit geblieben und das Ziel: die unnachgiebige Behauptung einer Art der Wahrnehmung, die nach innen geht, den Weltenlärm transzendiert in der Erfahrung von Einsamkeit."

Besprochen werden die Gerhard-Richter-Ausstellungen in Potsdam und Dresden (SZ) und die Ausstellung "Hommage an Jannis Kounellis" im Museum Küppersmühle in Duisburg (FAZ).
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Musik

Endlich regt sich in der britischen Popmusik mal wieder Widerstand gegen die sich zuspitzende politische Situation, freut sich Annett Scheffel in der SZ-Popkolumne, nachdem sie Yungbluds Debüt "21st Century Liability" gehört hat. Christoph Wagner stellt in der NZZ den Londoner Jazz-Nachwuchs vor. Für die Zeit porträtiert Christoph Dallach die Sängerin Florence Welch. Für Electronic Beats besucht Daniel Melfi den Kreuzberger Plattenladen Bikini Waxx. In der NZZ verteidigt Antje Stahl Beyoncé und Jay-Z vor ihren Kritikern. Jesper Klein hat für die FAZ den Kissinger Sommer besucht. Im "Unknown Pleasures"-Blog des Standard erinnert Karl Fluch an Los Lobos.

Besprochen werden das neue Album von Kamasi Washington (Standard), Jay Rocks neues Album "Redemption" (taz), Eric Friedlers Dokumentarfilm "It Must Schwing" über die Geschichte von Blue Note Records (FAZ), ein Konzert von King Crimson (FR), Heinrich von Handzahms neues Album "Auf anderer Frequenz" (Welt), ein Konzert der Eels (Tagesspiegel) und ein neues Gorillaz-Album (Standard).
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Film

Lukas Foerster schreibt in der taz über das Festival Il Cinema Ritrovato in Bologna, wo der Regisseur John Stahl mit einer "spektakulären Retrospektive" gewürdigt wurde: Dessen Filme eignen sich hervorragend dafür, "den Blick auf die Filmgeschichte neu zu justieren". Ebenfalls dort wiederentdeckt wurde Erik Charells "Caravan" aus dem Jahr 1934, über den Foerster vergangene Woche im Perlentaucher schrieb. Von weiteren Entdeckungen des international wichtigsten filmhistorischen Festivals berichten Andrey Arnold und Jan Hendrik Müller im Filmblog Jugend ohne Film. In seinem Blog zieht auch der Filmhistoriker David Bordwell Bilanz nach Bologna. Besonders Emilio Fernández' mexikanisches Rotlichviertel-Melodram "Víctimas del Pecado" machte auf ihn Eindruck. Daraus ein ekstatischer Ausschnitt:



Weitere Artikel: Für die SZ schreibt Bernhard Blöchl über neue Film mit Georg Friedrich. Für seine Reihe über Filme aus den 50ern auf New Filmkritik hat Werner Sudendorf Rolf Hansens "Die Letzten werden die Ersten sein" gesehen. Die Initiative "Kontrakt 18", mit der Drehbuchautorinnen und -autoren ihre Position in der Branche verbessern wollen, stößt auf viel Zuspruch, berichtet Jens Mayer in der taz.

Besprochen werden Susanna Whites Künstlerinnne-Western "Die Frau, die vorausgeht" mit Jessica Chastain (Zeit, FAZ) und Lucrecia Martels "Zama" (Freitag).
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