Efeu - Die Kulturrundschau

Ernst, aber bekömmlich

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09.07.2018. Die Wiener Autorin Tanja Maljartschuk hat in Klagenfurt den Bachmann-Wettbewerb gewonnen. Gegen die Entscheidung haben die Feuilletons nichts einzuwenden.  Doch insgesamt fanden sie den Wettbewerb erschreckend mau. ZeitOnline erkennt gar auf Relevanzverlust. Im Standard beschwört Andrés Orozco-Estrada die Kraft von Brahms in Medellin. Slate.fr ärgert sich darüber, dass selbst feministische Serien wie "The Handsmaid's Tale" Gewalt gegen Frauen zelebrieren.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.07.2018 finden Sie hier

Kunst

Frida Kahlo mit Olmeken-Figurine, 1939. © Nickolas Muray Photo Archives / Vicotira and Albert Museum

Das Victoria and Albert Museum setzt Frida Kahlo groß in Szene, doch NZZ-Kritikerin Marion Löhndorf fühlt sich von der Schau zur Voyeurin degradiert: "Statt, wie sie vorgibt, Kahlos Selbstinszenierung in Kunst und Leben nachzuspüren, feiert die Schau Kahlo als Selfie-Queen der Kunstgeschichte, die sich mit Pinsel, Palette und Mascara zum Star aufbaute und ihrem Leiden trotzte. Muss man, um die Frage der Eigendarstellung zu beantworten, einen Schuh der Künstlerin sehen, dessen Spitze für ihren von Gewebebrand befallenen Fuss aufgeschnitten wurde?" Schon im Guardian hatte die italienische Schriftstellerin Valeria Luiselli eine im Grunde triviale Fridolatrie ausgemacht.

Weiteres: In der NZZ verabschiedet Daniele Muscionico die in den Ruhestand gehende Kuratorin und "Schweizer Eminenz für Dokumentarfotografie", Katri Burri.

Besprochen werden eine Schau des französischen Cartoonisten Roland Topor im Folkwang Museum Essen (FAZ) und die Ausstellung "Unbekannte Schätze" der klassizistischen Malerin Angelika Kauffmann in Wörlitz (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst

Literatur

Die aus der Ukraine stammende, seit 2011 in Wien lebende Autorin und Journalistin Tanja Maljartschuk hat mit ihrer Geschichte "Frösche im Meer" den Bachmann-Lesewettbewerb in Klagenfurt gewonnen. Damit hat Gerrit Bartels mit der Prognose in seinem Bericht vom letzten Lesetag für den Tagesspiegel recht behalten. In der NZZ erkennt Roman Bucheli mit Blick auf die letzten Jahre ein sich abzeichnendes Muster: Der Wettbewerb "scheint sich darauf kapriziert zu haben, in die deutschsprachige Literatur eingewanderte Schriftstellerinnen auszuzeichnen und ins Rampenlicht zu katapultieren ... Unspektakulär, aber mit poetischer Genauigkeit zeichnet die Autorin das Porträt eines Flüchtlings, der sich wie die titelgebenden Frösche am falschen Ort befindet. In der Fremde kommt er sich abhanden, nachdem er zum eigenen Schutz seinen Pass vernichtet hat. Das ist in der Einfachheit der Erzählung wie in der Transparenz der Motive ausgezeichnet gemacht." Für den Dlf Kultur hat sich Britta Bürger mit der Preisträgerin unter anderem über ihr Verhältnis zur deutschen Sprache unterhalten.

Zufrieden mit der Entscheidung für Maljartschuk sind im Grunde alle, nur der Ist-Zustand der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur lässt die zweite Jury in den Redaktionsstuben mitunter leicht verzweifeln: Alles gut gemacht, aber alles auch ziemlich lauwarm, meint Marie Schmidt in der SZ. "Ernst, aber bekömmlich" fielen fast alle vorgelesenen Geschichte aus. "So bewusst gesetzt ihre Themen waren, so sehr ähnelten sich alle Geschichten des Wettbewerbs: Keine ließ es an zeitgenössischer Relevanz fehlen, keine stellte übertriebene Ansprüche. Und so nahm sich die deutschsprachige Literatur freundlich beflissen und nicht allzu verstörend aus."

Im Vergleich zum eher mauen Wettbewerb des Vorjahrs war dieser Jahrgang immerhin ein wenig besser, schreibt Elmar Krekeler in der Welt. Doch auch in diesem Jahr galt: "Nicht viel bohrte sich fest, hielt lang an, bedrohte, gefährdete die Seelenruhe. Der klassische Klagenfurt-Moment, in dem man da sitzt und auf einmal weiß, was Literatur kann, wozu es Literatur gibt, fand nicht statt." Zwischen den prämierten Texten und dem Rest klaffte mitunter ein deutlicher Abstand, hält Andrea Diener im FAZ-Blog fest und bekräftigt gängige Kritikpunkte an der Jury: Habe diese es denn "wirklich so oft nötig, öde, aber wackelige Konfektionsware als großes Formexperiment zu verkaufen?" Immerhin: Feridun Zaimoglus zur Eröffnung gehaltenes, flammendes Plädoyer für eine Literatur, die sich mit "den Verlassenen" solidarisiert, haben fast alle Autorinnen und Autoren umgesetzt, schreibt Carsten Otte in seinem taz-Resümee.

Auf ZeitOnline haut Wiebke Porombka der Jury eine gesalzene Kritik um die Ohren: Für skandalös hält sie es, dass einige in den Jurydiskussionen positiv besprochene Texte am Ende auf der Shortlist gar nicht erst auftauchen. Sie wittert Relevanzverlust: "Eine Reform des Verfahrens wäre dringend nötig, mit dem die Shortlist erstellt wird. Bislang erfolgt das mithilfe einer geheimen Punktevergabe. Dass es dabei Absprachen gibt, kann man natürlich nicht unterstellen. Dennoch sieht es danach aus, dass Juroren oder Jurorinnen vermeintlich schwächeren Autoren oder Autorinnen Punkte zuschanzen, um damit potenzielle Preisträger, die ihnen nicht behagen, auszubooten und die Chancen für die eigenen Kandidaten zu erhöhen."

Weitere Artikel: In der Jungle World verteidigt Evelyn Polt-Heinz die Autorin Annemarie Selinko vor dem Verdikt, eine unpolitische Unterhaltungsschriftstellerin des Nachkriegsdeutschlands gewesen zu sein. Isabelle Caldard porträtiert im Freitag Thomas Ott, der in den 80ern in Freiburg mit dem "Erlkönig" einen der ersten schwulen Buchläden gegründet hat, der heute mit dem Überleben kämpfen muss. Die Lyrikerin Nadja Küchenmeister klopft im Tagesspiegel die Abschiedsrhetorik des deutschen Schlagers ab. In der NZZ berichtet Rainer Moritz seinen Lektüre-Erlebnissen im Urlaub. Christian Bos (FR) und Martina Knoben (SZ) Nachrufe auf Comiczeichner Steve Ditko. Die FAZ dokumentiert Jan Faktors Dankesrede zum Italo-Svevo-Preis in Hamburg. Und: Was ist eigentlich mit der Popliteratur los, fragt sich Jan Wiele in der FAZ: "Gibt es sie denn noch, oder ist sie verbraucht? Schreiben Autoren sie überhaupt bewusst - und könnte der Text von Jakob Nolte (...) als Parodie von Schreibschultexten vielleicht, als eine Art reflektierte Pop-Literatur gelten, so wie man auch von 'reflektierter Moderne' spricht?" Beim ORF gibt es alle Geschichten und alle Videos online.

Besprochen werden unter anderem Francois Chengs "Über die Schönheit der Seele" (FR), Denise Minas Kriminalroman "Blut Salz Wasser" (FR), Maja Lundes "Die Geschichte des Wassers" (Standard), Robert Seethalers "Das Feld" (taz), Hartmut Langes Novellensammlung "An der Prorer Wiek und anderswo" (SZ) und diverse neue Bücher über Literatur, darunter eine wissenschaftliche Herausgeberschaft über Christian Kracht (Freitag).

Mathias Mayer schreibt in der online nachgereichten Frankfurter Anthologie über Friederike Mayröckers "Dreizeiler am 21.2.1978":

"es sprieszen immerfort die sanften
Toten..."
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Musik

Kann Musik göttlich sein? Ja, sagt Andrés Orozco-Estrada im Interview, das der Maestro dem Standard vor seinem Konzert im Wien, wo er ab Herbst 2020 die Symphoniker leiten wird, gab: Göttlich wird Musik allerdings erst dann, "wenn man unter göttlich versteht, dass man die Möglichkeit hat, Menschen zusammenzubringen, die Welt zu verschönern, Menschen aufzulösen." Erst vor kurzem hat er im kolumbianischen Medellin ein Brahms-Konzert dirigiert, wo "das Morden und Sterben so präsent ist und es gleichzeitig so viele Farbe gibt. ... Um etwas für unsere vielen, vielen Opfer zu tun, hatten wir vor dem Konzert Besucher per Facebook gebeten, uns Fotos von Leuten zu schicken, die sie verloren haben, rund 300 Fotos kamen. Am Ende des Konzerts haben wir diese Fotos von den Verstorbenen über die Wände von unten nach oben projiziert. Sie müssen sich das vorstellen: Am Ende des Requiems siehst du deinen Bruder, deine Oma, deinen Freund vorbei in den Himmel gleiten. Es war eine Hommage an die Opfer und unglaublich. Alle haben geweint. Auch so kann man heutzutage Musik machen. Man muss sich nur trauen."

In der SZ stellt Jonathan Fischer die Arbeit des Musikethnologen Paul Chandler vor, der in Mali dem Kulturmord radikal-islamistischer Kräfte durch die Lieferung importierter Musikinstrumente trotzt: "Die Lage ist dramatischer denn je: Viele Musiker sind aus dem Norden nach Bamako geflohen. Jahrhundertealte Rituale finden nicht mehr statt. Und nicht nur die Dschihadisten mit ihren Verboten von Musik, Hochzeiten und jeder Art von Tanz sind daran schuld. Auch das moderne Großstadtleben trägt zur Aushöhlung des überlieferten Wissens bei. ... Chandler geht es um mehr. Der Westen glaube, er kenne afrikanische Musik - dabei seien 'höchstens fünf Prozent ihres Reichtums erschlossen'. Gehe er unter, dann verliere die ganze Welt."

Weitere Artikel: Jakob Hayner umkreist im großen Jungle-World-Essay Aspekte des Kollektiven in der Musik von Hanns Eisler. der am 6. Juli vor 120 Jahren geboren wurde. Adrian Schräder berichtet in der NZZ vom Hiphop-Festival in Frauenfeld. Birte Förster schreibt in der Frankfurter Pop-Anthologie über "Love will tear us apart" von Joy Division:



Besprochen werden John Coltranes "Both Directions at Once", das laut tazlerin Franziska Buhre "zur Emanzipation vom Jazzplaining" mitunter "hervorragend geeignet ist" (mehr zu dem Album hier), eine Aufführung von Beethovens Neunter beim Rheingau Festival (FR), ein Konzert von CeeLo Green (Standard) und eine sieben DVDs umfassende Dokumentation des 2016'er Jahrgangs des Prokofjew-Festivals in Moskau und St. Petersburg (FAZ).
Archiv: Musik

Film



Nora Bouazzouni hält es nicht mehr aus: Je mehr Serien sie guckt, schreibt sie bei slate.fr, desto mehr stellt sie fest, dass viele von ihnen Gewalt gegen Frauen zelebrieren, und das gelte sogar für angeblich feministische Serien wie "The Handmaid's Tail": "Nicht, dass die Inszenierung von zu Tode gequälten Männern mir akzeptabler oder erträglicher erscheint, aber ich möchte verstehen, was Showrunner und Drehbuchautoren - meist Männer, in den Vereinigten Staaten wie anderswo - dazu treibt, sich immer drastischere Geschichten auszumalen von Frauen, denen die Zähne ausgeschlagen, die zerstückelt und lebendig verbrannt werden, alles mit eindringlichen Details und makabren Nahaufnahmen. Vor allem würde ich gern verstehen, warum die Opfer mehrheitlich Frauen sind, wie jeder festellt, der in einer schlaflosen Nacht Binge-Watching betreibt, während in der Realität 79 Prozent der Mordopfer auf der ganzen Welt Männer sind."

Die Schriftstellerin Ruth Klüger erklärt in der Welt, warum Claude Lanzmanns weder moralisierende noch poetisierende Dokumentation "Shoah" (derzeit in der Arte-Mediathek) der wichtigste Film über den Massenmord an den europäischen Juden ist: "Shoah' handelt ausschließlich von Ausrottung. Der Film handelt nicht vom Leben in den KZs oder von Leiden, Überleben und Flucht. Sein Thema sind der Prozess und die Details der Vernichtung." Für die FAZ hat sich Jürg Altwegg außerdem Lanzmanns "Vier Schwestern" angesehen, der einen Tag vor Lanzmanns Tod in die französischen Kinos gekommen ist. Arte hat die vierteilige Gesprächsdokumentation bei Youtube eingestellt, hier der erste Teil:



Weitere Themen: Auf ZeitOnline referiert Oliver Kaever die Firmengeschichte von 20th Century Fox und Hollywood und was deren Aufkauf durch Disney für die Filmproduktion bedeutet. Für den Tagesspiegel berichtet Kathrin Hillgruber von den Premieren deutscher Filme beim Filmfest München. In der Zeit plaudert Marvin Kren über seine Recherchen im Neuköllner Mafiamilieu für die Erfolgsserie "4 Blocks".

Besprochen werden das Buch "Sichtbar machen: Politiken des Dokumentarfims" (Freitag) und Martin Scorseses auf DVD erschienener Film "Boxcar Bertha" (SZ).
Archiv: Film

Bühne

Im Tagesspiegel beobachtet Sandra Luzina etwas abgestoßen, wie intrigant die Geschäftsführung des Wuppertaler Tanztheaters die Entlassung der Intendantin Adolphe Binder betreibt: "Inzwischen wurden gezielt Informationen an einige Zeitungen durchgestochen. Sie berichteten über die Vorwürfe gegen Binder. Solche Interna kann eigentlich nur die Geschäftsführung den Medien gesteckt haben. Pikant ist, dass die Journalistin, die Binder in der FAZ ein 'offensichtlich dramatisches Versagen' vorwirft, Dirk Hesse früher mal sehr nahe gestanden haben soll."

Christine Dössel berichtet in der SZ von den Bad Hersfelder Festspielen, die unter dem neuen Intendanten Joen Hinkel mit Roberts Schusters Inszenierung des "Peer Gynt" eröffnet wurden: "Es sind die ersten Festspiele post Wedel, und schon wirkt der ehemalige Intendant wie ausradiert." In der Nachtkritik schreibt dazu Michael Laages.

Besprochen wird Christian Stückls Inszenierung von Schillers "Wilhelm Tell" in Oberammergau (SZ, FAZ).
Archiv: Bühne

Design

Isabell Vollrath: Herbst-Kollektion 2019. Foto: MBFW
Viel Zukunft hat taz-Autorin Marina Razumovskaya auf der Fashion Week in Berlin gesehen, Kosmonautisches, Ökologisches und Outdoor, aber am besten hat ihr dann doch der Blick gefallen, den die Berlinerin Modemacherin Isabell Vollrath in Venedigs Kunstgeschichte zurück wirft: "Die Form des sogenannten venezianischen Fensters - drei Bögen, ein höherer in der Mitte und zwei niedrige zu den beiden Seiten, das Ganze oft durch Säulen gegliedert - gestaltet Vollrath zu Schnitten ihrer ganzen Kollektion. Mit dem Kopf als Zentrum und den Schultern als Seitenbögen wandert die Form über den ganzen Körper: die Schultern oft wie Schnäbel von einer venezianischen Karnevalsmaske und überhängend, die Falten der Hosen wie Säulen und bedruckt mit der alten Technik des Siebdrucks wiederholt sich die Form des venezianischen Fensters. Die blauen Farbakzente wirken dann wie ein Spiegelbild von Häusern, Fenstern und Säulen im bewegten Wasser der Kanäle."
Archiv: Design