Efeu - Die Kulturrundschau

Nicht nur alte dicke Huren

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11.07.2018. Der Guardian fürchtet um das Fotografie-Festival Les Rencontres in Arles, das ausgerechnet vom Kunst-Jetset zerdrückt zu werden droht. Die SZ erlebt Otto Dix in seiner ganzen Krassheit in Chemnitz. Die FAZ kann keine Klassik-Krise erkennen: Verglichen mit 1871 seien die Besucherzahlen enorm gestiegen! Der White Cube hat ausgedient, erkennt die NZZ im Aargauer Stapferhaus. Warum werden homosexuelle Schauspieler eigentlich nur für schwule Nebenrollen gebucht, fragt Zeit Online.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.07.2018 finden Sie hier

Kunst

Christina de Middel und Bruno Morais: Sans titre, aus der Serie Minuit à la croisée des chemins, Benin 2016


Im Guardian fürchtet Sean O'Hagan ein wenig um das Fotografie-Festival Les Rencontres von Arles, das von den ehrgeizigen Plänen der Milliardärin Maja Hoffmann zerdrückt zu werden droht. Ihre Luma Foundation baut gerade zusammen mit Frank Gehry an einem gigantischen neuen Kunsthaus für den internationalen Kunst-Jetset. Aber auch auf begrenztem Raum findet O'Hagan das Festival noch sehr visionär: "In La Croisière, einem der umgenutzen Gebäude, machen Cristina de Middel und Bruno Morais sehr produktiven gebrauch von den veränderten Räumlichkeiten und präsentieren Midnight at the Corssroads, die historische Wirzeln und zeitgenössische Praktiken afrikanischer Spiritualität in Benin, Kuba, BBrasilien und Haiti evoziert. Sie verbinden das Dokumentarische und Fiktionale zu dramatischen Effekten, die Serie ist eine Studie in nachdrücklichen atmosphärischen Störungen. Bilder von mysteriösen Orten, Ritualen und Gewändern offenbaren eine unterdrückte, aber noch oft machtvolle Welt der Hingabe ans Licht. Damit verbunden ist die unsichtbare Präsenz von Esu, dem Hüter der Wege, Kreuzungen und Märkte. Hoffentlich wacht er auch über Les Rencontres.""

Die Ausstellung "300 x Dix" im Museum Gunzenhauser in Chemnitz erinnert daran, dass Otto Dix nicht nur der krasse Chronist der Weimarer Republik war, sondern insgesamt sechzig Jahre lang gemalt hat. SZ-Kritiker Burkhard Müller erschlägt es schier, am bemerkenswertesten findet er aber trotzdem den Bereich, den Kinder lieber nicht betreten sollten: "Nicht nur alte dicke Huren in obszönen Positionen sind zu sehen (das ginge noch an), sondern erschreckend drastische Darstellungen von Lustmord und Vergewaltigung. Ist das noch Kunst? Aber ja. Ein Kunstbegriff, der die Faszination der Gewalt ausschließt, wäre fatal verflacht. Auch die extreme Hässlichkeit, die bei Dix' Frauenporträts so oft befremdet, hat letztlich mit Gewalt zu tun: Hier äußert sich ein Begehren, das sich nicht frei machen kann von Hass und Verachtung."

Besprochen werden die Ausstellung "Wanderlust" in der Alten Nationalgalerie in Berlin (NZZ), die Ausstellung "Entfesellte Natur" in der Hamburger Kunsthalle über Bilder, die sich die Menschheit von Katastrophen macht (FAZ), Andreas Seltzers Ausstellung "Die Sonne von Mexiko" in der galerie Stella A in Berlin (taz).
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Musik

Kent Nagano (hier) und Berthold Seliger (hier) diagnostizieren in ihren Büchern eine Klassikkrise - in der FAZ tut Jan Brachmann dies als  "empirieresistentes Gerede" ab und legt seinerseits Zahlen vor: Ticketabsätze bei den Festivals und die Abonnementzahlen steigen seit einigen Jahren wieder. Auch jüngere Leute interessierten sich wieder mehr für Klassik. Außerdem besuchten heute etwa sechzehn Mal so viele Menschen klassische Konzerte und Opern wie im Jahr 1871. "Dass klassische Musik etwas für Besserverdienende sei, die Rituale ihrer Machtbefestigung benötigten, ist ein Vorurteil. Nur die Verbindung von höherem Schulabschluss und Interesse für klassische Musik ist signifikant belegbar. Doch Bildungsstand und Einkommen korrelieren schon lange nicht mehr; und als Herrschaftselite ist das Bildungsbürgertum bereits im Kaiserreich zerrieben worden."

Ähnlich optimistisch zeigt sich Iván Fischer, mit dem sich Katharina Schmitz für den Freitag anlässlich seines Abschieds vom Berliner Konzerthaus als Chefdirigent unterhalten hat: "Das Publikum wächst. Da gehört eine kleine Verflachung dazu. Wenn wir uns vorstellen, dass Schubert seine Konzerte für etwa vierzig Leute aufgeführt hat. Jetzt sitzen im Saal tausend Leute. Diese vierzig hatten vielleicht mehr Zugang, mehr Begriff, mehr Kenntnis als die tausend heute. Die Welt wäre aber ärmer ohne die Lieder von Schubert. Und es ist gut, wenn er von vielen gehört wird."

Weitere Artikel: In der SZ-Popkolumne staunt Max Fellmann über den Erfolg des Rappers Drake mit dem neuen Album "Scorpion": Sieben Songs daraus stehen in den Top10 der Billboard-Charts, die restlichen 18 finden sich allesamt in der Top 100 und insgesamt wurden die Stücke weltweit über eine Milliarde mal in nur einer Woche gestreamt. Besprochen werden Konzerte des Kronos Quartetts (taz), des Armida-Quartetts (NZZ) und des Fauré-Quartett mit Annette Dasch (FR).
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Film

Tom Hanks wurde 1993 mit einem Oscar ausgezeichnet für seine Rolle als schwuler, an Aids erkrankter Rechtsanwalt in Jonathan Demmes "Philadelphia"

Spielt ein Hetero-Schauspieler einen homosexuellen Mann, wird dies als oscarreife Glanzleistung wahrgenommen, schreibt Peter Rehberg auf ZeitOnline. Umgekehrt ist die Lage schwieriger: Nach ihrem Coming-Out werden homosexuelle Männer meist nur noch für homosexuelle Nebenrollen gebucht - was einem Karriere-Knick gleichkommt. "Die Verwandlung von homo zu hetero wird einem Schwulen nicht abgenommen, während Heteros dafür belohnt werden." Schwule Schauspieler haben demnach nur wenig Möglichkeiten: "Entweder sie behalten ihre Sexualität für sich. ... Oder, wenn sie dieses Versteckspiel ablehnen, sie bezahlen einen hohen Preis. Wie Rupert Everett werden sie ein Leben lang auf schwule Rollen abonniert - falls die Heterostars ihnen diese nicht wegschnappen."

Sehr sehenswert, empfiehlt Toby Ashraf in der taz Karim Aïnouz' Dokumentarfilm "Zentralflughafen THF". Der Film folgt in Monatskapiteln einem Geflüchteten in der Unterkunft auf dem Tempelhofer Feld in Berlin: "Statt abstrakter und menschenfremder Begrifflichkeiten, Worten wie Hangar, Obergrenze oder Transitzentren zeigt uns dieser Film wieder, worum es eigentlich geht: um Menschen. Es wird höchste Zeit."

Für den Standard unterhält sich Bert Rebhandl mit dem israelischen Regisseur Samuel Maoz, dessen neuer Film "Foxtrot" in seiner Heimat sehr angefeindet wird. Inspiriert zu dieser Geschichte über eine Familie, die erst erfährt, dass ihr Sohn, ein Soldat, ums Leben gekommen ist, nur um dann zu erfahren, dass er doch nicht tot ist, hat ihn ein eigenes Erlebnis: Um nicht täglich ein Taxi für seine Tochter zu bezahlen, zwang er sie eines Tages dazu, morgens den Bus zu nehmen. "Zwanzig Minuten später hörte ich im Radio, dass es einen schweren Anschlag auf diese Linie gegeben hatte. Eine Stunde später kam unsere Tochter nach Hause. Sie hatte den Bus ganz knapp versäumt und dabei dem Fahrer sogar noch gewinkt, damit er auf sie warten sollte. Das war die schlimmste Stunde meines Lebens. ... Ich wollte etwas machen über den Spalt zwischen den Dingen, die wir unter Kontrolle haben, und den anderen, die wir nicht beeinflussen können. Diese Geschichte ist also auch Resultat einer philosophischen Überlegung: Ist es der Zufall, der alles entscheidet?"
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Literatur

In der FAZ gratuliert Sandra Kegel der Schriftstellerin Jane Gardam zum 90. Geburtstag. Jürgen Verdofsky schreibt in der FR einen Nachruf auf den Verleger Kristof Wachinger.

Besprochen werden Liao Yiwus "Drei wertlose Visa und ein toter Reisepass. Meine lange Flucht aus China" (NZZ), Hermann Kestens Nachkriegsroman "Die fremden Götter" (NZZ), Kristina Gehrmanns Comic-Adaption von Upton Sinclairs "The Jungle" (Freitag), Daniel Galeras "So enden wir" (Tagesspiegel), Bastien Vivès' Comic "Eine Schwester" (Tagesspiegel), Gaito Gasdanows "Nächtliche Wege" (FR) und Hans Christoph Buchs "Stillleben mit Totenkopf" (FAZ).
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Bühne

Reichlich unbestimmt findet Marco Frei, was der künftige Intendant Pierre Audi für das Festival in Aix-en-Provence plant. Ob er dieselbe Power entwickeln wird wie sein Vorgänger Bernard Foccroulle? Der, meint Frei, wollte Oper immer leben lassen: "Für Foccroulle bedeutet dies auch, dass die Oper für alle sozialen Schichten und Altersgruppen geöffnet werden müsse. Mit einem rein äußerlichen Aufpeppen von Opern durch aufwendige Bühnenbilder oder teure Stars gelinge das nicht. Vielmehr müsse die Oper auch die heutigen sozialen Lebensrealitäten reflektieren."

Weiteres: In der Neuen Musikzeitung unterhält sich Joachim Lange mit dem amerikanischen Regisseur Yuval Sharon über Bayreuth, Wagner und den "Lohengrin", den er zur Eröffnung der Festspiele Ende Juli inszeniert. Sabine Leucht verneigt sich in der taz vor dem Passionsspielort Oberammergau, wo in diesem Jahr Schillers "Wilhelm Tell" aufgeführt wird, mit 60 Laien auf der Bühne, 50 Musikern und einem ebenso großen Chor.
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Architektur

© Stapferhaus Lenzburg. Foto: Oliver Lang

In der NZZ scheut Antje Stahl keinen Superlativ, um einen neuen Ausstellungsort im Aargau, das Stapferhaus, zu preisen, den Pool Architekten aus Zürich als Holzbau mit schwarzem Anstrich entworfen haben: "Der schwarze Holzanstrich ist daher nicht nur konzeptionell konsequent, er ist vielleicht einer der genialsten Schachzüge, den die Architekturgeschichte je gesehen hat. Anders als der White Cube soll die Black Box nämlich dafür sorgen, dass der Raum, also der wichtigste Gegenstand der Architektur, um den Menschen herum verschwindet."
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Stichwörter: Stapferhaus, Holzbau, White Cube