Efeu - Die Kulturrundschau

Die Streicher schmeicheln

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23.07.2018. In der NZZ erwägt Hans Ulrich Obrist mit Künstlern, Wissenschaftern und Computerexperten das Potential der Künstlichen Intelligenz. Der Tagesspiegel ist sehr unglücklich, dass Georges Simenons Werk jetzt über mehrere Verlage verstreut erscheint. Die Berliner Zeitung hört Musik der Stunde beim Berliner Impro-Underground.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.07.2018 finden Sie hier

Kunst

Trevor Paglen "Sight Machine", 2018. (Bild: Trevor Paglen / Metro Pictures, New York / Altman Siegel, San Francisco)


Der Kurator Hans Ulrich Obrist hat mit Künstler, Wissenschaftern und Computerexperten Gespräche über Chancen und Risiken von künstlicher Intelligenz geführt, in der NZZ liefert er einen kleinen Überblick der Ergebnisse. Ein Strang ist die Unsichtbarkeit von Algorithmen, die der Künstler Trevor Paglen sichtbar zu machen versucht. Dazu nahm er "ein Konzert des Kronos-Quartetts mit einer Reihe von Kameras auf, gefilmt wurden die vier Streicher, ihre Gesichter und Bewegungen. Dann ließ er die Bilder von einer Software bearbeiten, die zur Gesichtserkennung, Objektidentifikation oder sogar zur Raketenführung eingesetzt wird. Für 'Sight Machine', 2017, projizierte er dann das Ergebnis dieser Algorithmen in Echtzeit zurück auf Bildschirme über der Bühne, so dass der Effekt entstand, man sähe gewissermaßen durch die Brille der Maschine. Man erlebte, wie unterschiedliche Programme die Bilder der Musiker interpretieren - in Farbfelder, flirrende Linien oder Raster - und was sie einfangen - einzelne Gesichtspunkte oder Bewegungen. In welchem Verhältnis stehen technische und menschliche Wahrnehmung? Das muss debattiert werden."

Weiteres: Frederik Hanssen würdigt im Tagesspiegel die kinetische Plastik des Künstlers Henner Kuckuck auf dem FU-Campus, vor dem Chemie-Gebäude in der Takustraße, die dort seit 1980 steht. In der taz bringt Natalia Bronny auf den neuesten Stand der Tattoo-Kunst.

Besprochen werden Künstlerporträts von Giacometti, Dalí, Frida Kahlo im Berliner Museum für Fotografie (Tagesspiegel), eine Ausstellung zeitgenössischer Zürcher Künstler im Helmhaus Zürich (NZZ), die Ausstellung "L'Envol - oder der Traum vom Fliegen" im Pariser Maison Rouge (FAZ) und die Ausstellung "War Games" mit Werken von Martha Rosler und Hito Steyerl im Basler Museum für Gegenwartskunst (FAZ).
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Literatur

Im Tagesspiegel verzweifelt Gerrit Bartels ein wenig ob der Aussicht, dass Georges Simenons Werke künftig über mehrere Verlage verteilt erscheinen soll: "Ob das alles klappt? Ob die alten Simenon-Fans nicht nur Leser und Wiederleser sind? Sondern auch Sammler, die zu ihren sowieso schon zahlreichen verschiedenen Maigret-und Non-Maigret-Ausgaben abermals eine neue gesellen wollen, um vielleicht wenigstens einmal eine Maigret-Sammlung komplett in einer Ausstattung zu haben? ... Es ist nun bei dieser Neu-Edition nicht ganz leicht, die Übersicht zu behalten, wie es sich ja sowieso für den Vielschreiber Simenon gehört." Hauptsächlich erscheinen werden die Bücher allerdings beim neuen Kampa Verlag, dessen Gründer Daniel Kampa Simenon dem Diogenes Verlag abgeluchst hat (wir berichteten als Erste): Für die Zeit hat Andreas Scheiner den Verleger porträtiert.

Weitere Artikel: Für die Zeit porträtiert Cord Aschenbrenner den früheren DDR-Schriftsteller Winfried Völlger, der nach der Wende aus seinen unverkauften Büchern Papierkunst gemacht hat und sich jetzt als Straßenmusiker durchschlägt. In der NZZ führt uns die russische Schriftstellerin Elena Chizhova durch das sommerliche St. Petersburg.

Besprochen werden Emil Ferris' "sensationeller" Comic "Am liebsten mag ich Monster" (Jungle World), Teju Coles "Blinder Fleck" (Freitag), Daniela Emmingers "Kafka mit Flügeln" (taz), Alexandra Tischels "Affen wie wir: Was die Literatur über uns und unsere nächsten Verwandten erzählt" (Freitag), Andrej Platonows "Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen" (Jungle World), Julia von Lucadous dystopisches Debüt "Die Hochhausspringerin" (SZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Sonja Danowskis Bilderbuch "Smon Smon" (FAZ).
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Film

Im Dlf-Feature befasst sich Rainer Praetorius knapp eine Stunde lang mit Stanley Kubricks "2001: Odyssee im Weltraum". Praetorius' allgemeines Feature über Stanley Kubrick hat der NDR gerade wieder online gestellt.

Besprochen werden Alejandro Jodorowskys "Endless Poetry" (Tagesspiegel, unsere Kritik hier), Susanna Nicchiarellis Biopic "Nico, 1988" (Freitag, Skug, unsere Kritik hier), Stefano Sollimas "Sicario 2" (Standard), Hans Weingartners Roadmovie "303" (Freitag) und ein Arte-Porträt über Hollywoodstar Ryan Gosling (FR).
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Bühne

In der NZZ amüsiert sich Bernd Noack über das Wiener Sommertheater. "Bayreuth braucht mehr Aufreger auf der Bühne", meint Tagesspiegel-Kritikerin Christiane Peitz in einem kurzen Resümee der Intendanz von Katharina Wagner in Bayreuth. In der NZZ wünschte sich Udo Bermbach, die Bayreuther würden wieder mal in Wieland Wagners Plädoyer für eine umfassend reflektierte Idee von Theater reinlesen. In der Presse schreibt Norbert Mayer zur Eröffnung der Salzburger Festspiele, im Standard schreibt Ljubisa Tosic, in der SZ Reinhard J. Brembeck. Jan Brachmann begleitet Daniel Barenboim für die FAZ auf einer Tournee der Staatskapelle in Argentinien.

Besprochen werden Roger Vontobels Inszenierung von "Siegfrieds Erben" nach einer Vorlage von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel bei den Nibelungenfestspielen Worms (nachtkritik), die "Stadt der Affen" des Performance-Kollektivs Ligna beim Düsseldorfer Asphalt Festival (nachtkritik) und Francesco Cileas Oper "Adriana Lecouvreur" bei den Sommerfestspielen Baden-Baden mit Valery Gergiev am Pult (FAZ-Kritikerin Lotte Thaler ist im Himmel: Gergiev macht aus der "berückenden Klangmixtur Cileas "mit feinstem Sensorium für Flair, Farben und Bewegungsabläufe ein orchestrales Fest. Die Streicher schmeicheln, Harfe, Oboe, Glockenspiel und Solo-Violine strahlen südliche Helligkeit aus. Die Melodien lächeln Puccini entgegen, die plötzlich dreinfahrende Pauke lässt Böses erwarten.").
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Musik

Für die Berliner Zeitung tummelt sich Jens Uthoff in Berliner Impro-Underground, der aus den Jazzkellern von früher "interdisziplinäre Experimentier- und Probierräume " gemacht hat: "Der experimentelle Sound, den man in ausgewählten, kleinen Clubs der Stadt derzeit sehen und hören kann, scheint die Musik der Stunde in Berlin zu sein" und im Vergleich zu früher "ist diese Szene internationaler, weiblicher, grenzenloser." Das Kim Collective etwa verortet sich zwischen Modern Jazz, Elektronik und Echtzeitmusik: "Den Begriff 'Echtzeitmusik' gibt es seit den Neunzigern, damals haben ihn Experimentalmusiker unter anderem eingeführt, um sich vom ihres Erachtens zu dogmatischen Jazz und Free Jazz abzugrenzen. Sängerin und Komponistin Dora Osterloh meint, der Begriff Free Jazz sei für die heutige Szene überholt: 'Free Jazz war in den Siebzigern dazu da, das Alte abzuschütteln. Inzwischen ist die Musik ja schon frei, wir müssen sie nicht mehr befreien. Heute ist das Motto einfach: ,Spiel, was immer du spielen willst.''" Hier einige aktuelle Eindrücke in einem kleinen Porträtfilm:



Weitere Artikel: Ljubisa Tosic (Standard) und Reinhard J. Brembeck (SZ) berichten von der "Ouverture Spirituelle" mit Penderecki, Beethoven und Biber, mit der die Salzburger Festspiele eröffnet wurden. Jan Brachmann hat Daniel Barenboim für die FAZ mit nach Buenos Aires begleitet, wo der Dirigent mit seiner Staatskapelle ein Gastspiel gab. Friedrich Kuehne hat sich für die Spex mit Techno-Künstlerin Helena Hauff zum Gespräch getroffen. Im Tagesspiegel gratuliert Frederik Hanssen den Bochumer Symphonikern zum 100-jährigen Bestehen. Nadine Lange gratuliert im Tagesspiegel Cat Stevens zum 70. Geburtstag. John Lingan erinnert bei Pitchfork an Creedence Clearwater Revivals Album "Cosmo's Factory" von 1970.

Besprochen werden Pariahs Debütalbum "Here From Where We Are" (taz), das zweite Album "I'm All Ears" von Let's Eat Grandma (FR), Gilberto Gils Berliner Konzert (Tagesspiegel) und der von den Liars eingespielte Soundtrack zu Jeremy Phillipps' Film "1/1 (Jungle World). Daraus ein Video:

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