Efeu - Die Kulturrundschau

Den Monstern näher als den Göttern

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07.08.2018. FAZ und SZ huldigen den Granden des italienischen Autodesigns, die im Wettstreit um den Fahrzeugkörper auf Drama gegen Harmonie setzten. Im Standard gratuliert Tex Rubinowitz Madonna, die kam, als die Disco voll war, und heute sechzig wird. Die Welt bewundert den Freiheitswillen der polnischen Bilhauerin Alina Szapocznikow. Und die NZZ muss schlucken, wenn die Nasa den Samen der Zivilisation auf dem Mars pflanzt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.08.2018 finden Sie hier

Design

Reine Harmonie: Ferrari Dino 308 GT4. Foto: Robert Garven / CC Wikimedia

Die italienischen Autombildesigner Giorgio Giugiaro, Marcello Gandini und Leonardo Fioravanti werden in diesem Jahr 80 Jahre alt (Giugiaro sogar heute). Deren berühmtesten Entwürfe wie der De Lorean DMC-12, der Lamborghini Miura oder der Ferrari 308 waren weniger als Mittel zum Zweck einsetzbar, erklärt Peter Richter in der SZ: "So etwas wollte in andächtigem Abstand angebetet sein wie die Sixtinische Madonna. Oder angestaunt wie die Sixtinische Kapelle. ... Für das italienische Autodesign sind die Sechziger- und Siebzigerjahre offensichtlich die Entsprechung zu der Zeit um 1500 in der italienischen Kunst, als sowohl Raffael wie Michelangelo alt genug waren, um gegeneinander anzutreten."

Wo Giugiaro die Eleganz des harmonisch abgestimmten Objekts suchte, klotzte Gandini mit seinen Lamborghinis ordentlich hin, umreißt Niklas Maak in der FAZ die ästhetische Grundlage eines großen Designerstreits im 20. Jahrhundert. "Die radikale Dramatisierung des Fahrzeugkörpers war Gandini wichtiger als der Eindruck dynamischer Harmonie. Sein erstes Projekt bei Bertone war der legendäre Lamborghini Miura, der, im Gegensatz zu den apollinisch schönen Ferraris, alles andere als klassisch und maßvoll war. Gandinis Lamborghinis waren laut, radikal, exhibitionistisch und den Monstern näher als den Göttern."

Modezeitschriften wie Vogue und Elle entdecken seit geraumer Zeit die Politik, schreibt Ben Trott in der taz, der sich das unter anderen mit der sich wandelnden Medienlandschaft im Online-Zeitalter erklärt, aber auch damit, dass "Frauen und auch queere Menschen eine führende Rolle im Widerstand gegen die reaktionäre Politik der Trump-Regierung und der Alt-Right-Bewegung spielen."
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Musik

Am 16. August wird Madonna 60, Tex Rubinowitz gratuliert ihr im Standard schon heute mit einem bunten Strauß an Fragen und Überlegungen: Was ist das Besondere an ihr, fragt er sich, das selbst noch irrelevante Phasen auszeichnet? "Dass wir mit ihr suchten, dass sie uns teilhaben ließ an der Suche nach sich selbst, sie ihre Karten auf den Tisch legte, sich buchstäblich auszog? Natürlich sagte sie nicht, musste es auch gar nicht, dass ihre Appropriation des postfaktischen Aspekts bei Abba nur ein Umweg ist, um zur dunklen, mächtigen Discoübermutter Donna Summer (Bad Girls) vorzudringen, mit dem Wunsch, sie zu beerben, vor der die Männer Angst hatten, sie biss ihnen den Kopf ab, nachdem sie nicht enden wollende Orgasmen abstaubte, Donna Summer hinterließ Blut auf dem Tanzboden, nur Madonna (allein die Namensähnlichkeit) war Post-Disco, Post-Alles und kam, als die neue Disco bereits voll war."

Weitere Artikel: In der Spex porträtiert Sonja Matuszczyk die Rapperin Haiyti, die sich gerade am Kippmoment ihres Erfolgs zwischen Underground-Heldin und Popstar befindet.

Besprochen werden The Internets neues Album "Hive Mind" (SZ), Gregory Porters Auftritt beim Rheingau-Musik-Festival (FR), Britney Spears' Berliner Konzert (Berliner Zeitung), ein Auftritt der Beginner (FR), die Autobiografie des Iron-Maiden-Sängers Bruce Dickinson (FAZ) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter neue Aufnahmen des Pianisten Dénes Várjon (SZ).
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Kunst

Alina Szapocznikow: Cendrier de Célibataire (Junggesellen Aschenbecher I), 1972, Privatsammlung. Foto: Fabrice Gousset. Courtesy The Estate of Alina Szapocznikow.

Einfach fabelhaft findet Hans-Joachim Müller die Ausstellung "Menschliche Landschaften", die die Kunsthalle Baden-Baden der polnischen Bildhauerin Alina Szapocznikow widmet. Müller ist völlig umgehauen von dem Willen zu Freiheit und Glück, der aus ihrer Kunst spricht, dabei ist Szapocznikow als Kind im Ghetto aufgewachsen und durch mehrere Konzentrationslager gegangen: "Nach Leidenszeichen sucht man vergeblich in ihrem Werk, als wollte, als müsste sie es rein halten von den Erinnerungen. Und auf Primo Levis dunkle Frage 'Ist das ein Mensch?' hat sie nie eine Antwort gesucht. Auch 'Exhumiert', ihre schwer beschädigte Mumie aus dem Jahr 1957, die kein Lazarus-Wunder vom Tod erlöst, scheint frei vom Pathos der Klage. Man hat die Leiche als 'Ehrerbietung gegenüber den Terroropfern' gedeutet. Aber die 'Abrechnung mit der Stalinära' findet so wenig statt wie die Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Und wenn auch Szapocznikows Körper bald zerfallen und der Körperstoff mehr und mehr zerfließt, verklumpt und in monströsen Formen erstarrt, dann handelt das skulpturale Drama doch nicht vom versehrten Leben, sondern von der Freiheit, die sich die Künstlerin gewinnt. Der Tagebucheintrag geht ja noch ein bisschen weiter: 'Oh! Wie unglücklich ich bin, wie glücklich, gefangen, unterdrückt, wie sehr ich mich nach Freiheit sehne! Ich will hier raus!'"

Weiteres: Rose-Maria Gropp würdigt in der FAZ die Arbeit des "Städelkomitee 21.​ Jahrhundert", das seit seiner Gründung vor zehn Jahren einige Ankäufe für das Museum finanziert hat.

Besprochen werden ein Update von Werner Hofmanns berühmter Ausstellung "Eva und die Zukunft" aus dem Jahr 1986 im Forum Frohner in Krems (Standard) und die Ausstellung "A Fragile Beauty" des Künstlers Günther Förg im Stedelijk Museum in Amsterdam (SZ) und Carla Sozzanis Fotosammlung in der Helmut Newton Stiftung (taz).
Archiv: Kunst

Film

Sehr vielversprechend findet Andreas Busche vom Tagesspiegel den von Monika Grütters' Kulturministerium auf den Weg gebrachten Entwurf einer Vereinbarung der Länder, für die Rettung des hiesigen Filmerbes in den kommenden zehn Jahren insgesamt 100 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Nicht nur gefühlt allen fünf bis zehn Jahre neu restaurierten Prestige-Filmen sollen die Mittel zur Verfügung stehen: Vielmehr "erfolgt die Mittelvergabe zu gleichen Teilen nach konservatorischen, kuratorischen und wirtschaftlichen Kriterien. Mit dieser Mischung will man dem veralteten Gedanken eines 'Filmkanons' entgegenwirken. ... Auch die Sicherung von akut gefährdeten Filmtiteln wird gefördert, dann, wenn die Materiallage kritisch aussieht, etwa aufgrund fortgeschrittenen chemischen Verfalls. Ein Drittel der Gelder soll für solche Notfälle bereitgestellt werden." Zu hoffen bleibt, dass die Digitalisate im Anschluss auch niedrigschwellig online zur Verfügung stehen.

Kinobetreiber Christian Bräuer von der AG Kino wünscht sich derweil auf Spiegel Online naheliegenderweise, dass die Filmförderung marktkompatibler fördern, bzw. das Marketing eines Films frühzeitig mitdenken sollte: Man müsse "den Förderanteil für die Sichtbarmachung der Filme massiv erhöhen. Notwendig wäre daher eine ganzheitliche Ausrichtung der Filmförderung von der Ideenentwicklung bis zum Start im Kino. In Hollywood wäre es undenkbar, dass die Studios (oder Netflix) Filme produzieren, nicht aber zugleich deren Vermarktung mitdenken. In Europa ist dies anders: Während die Budgets der Filmproduktion steigen, sinken die Herausbringungsetats der einzelnen Filme. Das System ist außer Balance. Filme werden so immer öfter halbherzig in die Kinos gebracht, Marketing beschränkt sich auf Plakate und Trailer. Flops mit Ansage sind die Folge."

Weitere Artikel: In Locarno ist Lukas Foerster mit einem Mal "Schlaflos in Seattle", wie er im Cargo-Blog berichtet. Besprochen werden der von Anita Eichholz' zusammengestellte Kompilationsfilm "Zeitreise mit Lona von Lieres und Wilkau (1896-1979)", der auf privaten Filmaufnahmen basiert (taz), Gabriele Muccinos Komödie "Zu Hause ist es am schönsten" (SZ), Bettina Oberlis in Locarno gezeigter Schweizer Heimatfilm "Le vent tourne" (NZZ) und Sacha Baron Cohens Comedyshow "Who is America?" (NZZ).
Archiv: Film

Literatur

Im Freitext-Blog auf ZeitOnline meditiert der Schriftsteller Friedrich Ani über den Bayer in Zeiten von 30.000 Leute starken Anti-CSU-Demos in München. Christian Eger erinnert in der Berliner Zeitung an die Geschichte des Intelligenzbad Ahrenshoop, der sich die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift für Ideengeschichte widmet. Der Tagesspiegel schreibt zum Tod des irischen Lyrikers Matthew Sweeney.

Besprochen werden unter anderem Maxim Billers "Sechs Koffer" (Standard), Nicole Krauss' "Waldes Dunkel" (NZZ), Manuele Fiors Comic "Die Tage der Amsel" (taz), Nick Drnasos Comic "Sabrina" (Freitag), Varujan Vosganians Erzählband "Als die Welt ganz war" (Standard), Joe Ides Thriller "Stille Feinde" (Standard), Jan Koneffkes Gedichtband "Als sei es dein" (Tagesspiegel), Matthias Heines Sprachstudie "Letzter Schultag in Kaiser-Wilhelmsland" (Tagesspiegel) und Julia von Lucadous Debütroman "Die Hochhausspringerin" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

In der FAZ stellt Christina Fleischmann die moldauische Theaterautorin Nicoleta Esinencu vor, die mit ihren Stücken in Europa erfolgreicher ist als in ihrem Heimatland: "Betonwände im Halbdunkel, die tiefe Decke, der abgekratzte Putz. Dieser Ort heißt, wie er aussieht: Bunker. Hier zeigt Nicoleta Esinencu derzeit ihr aktuelles Stück 'Recviem pentru Europa', Totenmesse für Europa. 'Wenn wir bei der Aufführung auch keinen Strom haben, müssen wir improvisieren', sagt sie. Ihre 39 Jahre alte Stimme klingt kratzig, immer schwingt ein wenig Berufsironie mit. Die Schauspieler lachen. Sie kennen das schon, Räume, in denen der Strom und im Winter die Heizung ausfällt. Theater made in Moldova."

Besprochen wird Hans Neuenfels' Salzburger Inszenierung von Tschaikowskys Spielsucht-Oper "Pique Dame" ("vielschichtig gebrochen finder sie Christian Wildhagen in der NZZ, "überzuckert" Helmut Mauro in der SZ, Tagesspiegel, Standard, FAZ).
Archiv: Bühne

Architektur

Der zweitplatzierte Entwurf der AI Space Factory in der 3D-Printed Habitat Challenge der Nasa.

In der NZZ weiß Antje Stahl nicht recht, ob sie lachen oder weinen soll, wenn sie sich die Entwürfe ansieht, mit denen die Nasa den Mars besiedeln will. Nur Kuppeln und Zylinder! Dazu passen die Fantasien solcher Herren wie Elon Musk: "Wir müssten sicherstellen, dass wir genügend 'Samen der Zivilisation' woanders aufbewahrten, sagte er, um sie dann wieder zurück auf die Erde zu bringen. Wenn sich darin kein phallozentrisches Weltbild zeigt, haben wir uns auch nur eingebildet, dass Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten geworden ist. Wie einst der bildende Künstler wollen nun diese Unternehmer in Gottes Fußstapfen treten: Mutter Natur ist dem Untergang geweiht, alles, was sie kann, Zellen schenken, teilen, zum Menschlein oder Pflänzchen heranwachsen lassen, wird die von ihnen kontrollierte Technik bestellen. Ihr Raumkathedralenschiff ist eine kleine Nachbildung der Erde. Darin behüten sie den männlichen Samen der Schöpfung."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Nasa, Mars, Trump, Donald, Musk, Elon