Efeu - Die Kulturrundschau

Diese ganzen Obertöne

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16.08.2018. Die Welt bewundert dänisches Design. Der Freitag sitzt im Städel Museum Menschen an Bushaltestellen gegenüber, die Ursula Schulz-Dornburg in aller Welt fotografiert hat. In der NZZ fragt der Chicagoer Philosoph Jason Hill anlässlich der Debatte über kulturelle Aneignung: Welche authentische Erfahrung mit Sklaverei hat ein heutiger Afroamerikaner? In der Berliner Zeitung lernt der Techno-DJ Henrik Schwarz Sounddesign von dem niederländischen Metropole Orkest. Und in der SZ erzählt der syrische Schriftsteller Adel Mahmoud vom Fund eines Notizhefts mit Briefen von Kindern.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.08.2018 finden Sie hier

Design

Spaltekande; Entwurf Form: Eva Stæhr-Nielsen, 1932; Glasur: Nathalie Krebs; Ausführung: Saxbo Stentøj, 1937 - 1945. Foto: Punctum/Bertram Kober
Bei Design denkt man immer an Italien, aber Skandinavien ist mindestens genauso wichtig, lernt Tilman Krause (Welt) in einer Ausstellung über dänisches Design im Leipziger Grassimuseum. "Denn noch vor dem allgemeinen Skandinavienboom, für den die Modulmöbel von Ikea aus Schweden oder die groß gemusterten Marimekko-Textilien Finnlands stehen, kam in deutschen Wohnzimmern Dänemark zum Zug. Mit seinen kleinen, beweglichen Teakholz-Sideboards, mit gebogenen Hölzern, die sich so gut zu Stühlen oder Liegen verarbeiten ließen, aber auch mit seinen wie schwerelos wirkenden Polstersesseln und Sofas wehte plötzlich ein frischer Luftzug durch die deutschen Interieurs, die doch damals noch oft im Banne einer stickigen Schutz- und Trutzburgmassigkeit standen."
Archiv: Design

Kunst

Das freie Spiel wird in der Kunst immer seltener. Viel öfter will sie moralisch belehren oder blind amüsieren, bedauert Gabriele Detterer in der NZZ: "Vergegenwärtigt man sich, dass spielerisches Tun seit Urzeiten als Triebfeder von Kulturschöpfung und zivilisatorischer Entwicklung wirksam war, dann offenbart gerade verspielt-spielerische Kunst einen Einblick in ein Kulturverständnis, das sich radikal im Umbruch befindet. Haben also Kunstschaffende, die sich im 'Sandburgenbau' verlieren und das Publikum weder belehren noch unterhalten noch in eine bestimmte Haltung hineindirigieren wollen, bald ausgedient? Noch experimentieren sie mit Formen, Farben, Materialien, Licht und Raum und schaffen außeralltäglich Phantastisches, das die Besucher zu eigenen originellen Ideen anregt. Let's play!"

Ursula Schulz-Dornburg, Gyumi - Erevan (aus der Serie: Transit Orte, Armenien), 2004. Städel Museum. © Ursula Schulz-Dornburg


Jahrelang reiste die Fotografin Ursula Schulz-Dornburg durch die Welt und fotografierte Menschen an Bushaltestellen. Eine Ausstellung dieser Fotos ist jetzt im Frankfurter Städel Museum zu sehen und Freitag-Kritikerin Anika Meier empfiehlt jedem, sich das anzusehen: "Viele Stühle stehen herum. Sie laden ein, Platz zu nehmen, und signalisieren, dass die Arbeiten diese Zeit brauchen. Und so sitzt und steht man den sitzenden und stehenden Menschen an den Bushaltestellen in Armenien gegenüber. Die Fotos sind zwischen 1997 und 2011 zufällig entstanden, als Schulz-Dornburg nach der Auflösung der Sowjetunion dort war, um Klöster zu fotografieren. Plötzlich waren da vor ihr im Nirgendwo diese Haltestellen, marode, aus der Zeit gefallene Gebilde. Menschen, meist Frauen, warten, schick gekleidet, zurechtgemacht, als würden sie die große Reise in eine bessere Zukunft antreten und alles Zerfallende und Bröckelnde hinter sich lassen wollen."

Weiteres: Rolf Brockschmidt besucht für den Tagesspiegel das Kunstmuseum Voorlinden bei Den Haag. Besprochen werden außerdem eine Ausstellung mit "magischem Realismus" von Dix, Grosz, Mammen u.a. in der Tate Modern (Standard) und eine Ausstellung der Sammlung Bernard Arnaults in der Pariser Fondation Louis Vuitton (Tagesspiegel).
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Bühne

"Kulturelle Aneignung" ist heute ein Vorwurf, der - wie vor einer Woche in Kanada - selbst Regiegrößen wie Ariane Mnouchkine oder Robert Lepage zu Fall bringt. Lepages Stücke "Kanata" über den Umgang Kanadas mit seinen Ureinwohnern und "Slav" mit historischen Liedern afroamerikanischer Sklavenarbeiter konnten in Quebec und Montreal nicht aufgeführt werden nach Protesten, es seien dabei zu wenige Angehörige von Minderheiten repräsentiert. "Dass Lepage mit SLAV und Kanata ausdrücklich Empathie für das Schicksal von Minoritäten wecken wollte, spielt dabei keine Rolle", schrieb Julian Bernstein im Standard. "Ausschlaggebend ist, dass etwa in 'Slav' lediglich zwei der sieben Darsteller schwarz sind, der Rest weiß, inklusive des Stars der Aufführung, der Sängerin Betty Bonifassi." In der NZZ von heute findet der Chicagoer Philosoph Jason Hill das ganze Konzept von "kultureller Aneignung" völlig absurd: "Diese Art des Tribalismus will die Zugehörigkeit zu einer Gruppe durch einen Lackmustest bestätigen, der auf authentischer Erfahrung beruht. Die Ironie besteht darin, dass schwarze Sänger, die heute Sklavenlieder vortragen, dies auf eine Art und Weise tun, die kaum mehr mit der realen Erfahrung zu tun hat, aus der diese Lieder hervorgingen. Viele der Sänger mögen faktisch wesentlich mehr mit Betty Bonifassi gemein haben als mit ihren längst verstorbenen Vorfahren."

Betty Bonifassi mit "Voodoo Guingette":



Weitere Artikel: Im Standard stimmt Ljubisa Tosic schon mal auf Henzes Oper "The Bassarids" ein, die am Donnerstag in Salzburg zu hören sein wird. Hans-Christoph Zimmermann berichtet im Freitag von der Ruhrtriennale. Katja Baigger stellt in der NZZ den syrischen Theaterautor Mohammad Al Attar vor, dessen Stück "Aleppo. Portrait of an Absence" beim Zürcher Theaterspektakel aufgeführt wird. Dorion Weickmann berichtet in der SZ begeistert vom Berliner Festival "Tanz im August".

Besprochen werden Jürgen Flimms Inszenierung von Saverio Mercadantes "Didone abbandonata" mit Alessandro De Marchi am Pult in Innsbruck (Mercadante, lernt Presse-Kritiker Walter Weidringer, ist "das Missing Link zwischen dem Belcanto Rossinis und der frühromantischen italienischen Oper Donizettis und Bellinis", NZZ), Rossinis "Barbier von Sevilla" bei den Bregenzer Festspielen (nmz), Jaha Koos Stück "Cuckoo" beim Hamburger Kampnagel-Festival (nachtkritik) und die Ausstellung "Hitler. Macht. Oper" im Nürnberger Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände (Tagesspiegel).
Archiv: Bühne

Literatur

In der SZ-Reihe "Stimmen aus Syrien" berichtet der Schriftsteller Adel Mahmoud vom Fund eines Notizhefts mit anrührenden, von Kindern geschriebenen Briefen. Überreicht wurde ihm das Heft in einem Restaurant im Umland von Damaskus, wo zuvor lange Zeit Kämpfe getobt haben. "Ich las meinen Reisebegleitern vor. Wie die Klassenlehrerin von ihren Schülern eine Definition von Liebe verlangt und eines der Kinder schreibt: 'Wenn dich jemand liebt, spürst du das, weil er deinen Namen anders ausspricht als alle übrigen Menschen. Du spürst, dass dein Name geborgen und sicher in seinem Mund ist." Und auf einer anderen Seite: 'Die Liebe ist es, die dich lächeln lässt, selbst wenn du todmüde bist.'"

Weitere Artikel: Tilman Krause berichtet in der Welt von einer vom Land Brandenburg geschmissenen Landpartie für Journalisten auf Fontanes Spuren. Besprochen werden María Cecilia Barbettas "Nachtleuchten" (FR), Michael Kumpfmüllers "Tage mit Ora" (SZ), Stanislaw Strasburgers "Der Geschichtenhändler" (FAZ) und eine Ausstellung in Heidelberg zu Stefan Georges Wirkungsgeschichte (FAZ).
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Stichwörter: Mahmoud, Adel, Syrien, Damaskus, Adele

Film

Manövriert durch eine komplexe Maschinerie: Denzel Washington in "Equalizer 2"
Auch ein schwächerer Film von Antoine Fuqua ist immer noch sehenswert, schreibt Lukas Foerster im Perlentaucher zum Kinostart von "Equalizer 2", in dem Denzel Washington - es ist sein erstes Sequel! - einmal mehr einen Vigilanten von fast superheldenartigen Qualitäten spielt: "Wie aus dem Fluss des Großstadtverkehrs und der smooth in ihn eingepassten teuren Hollywoodbilder sich langsam Figuren und Dramatik herausschälen: Das ist die schönste Passage in 'The Equalizer 2'. Das langsame Hochfahren einer komplexen Maschinerie, deren exaktes Funktionsprinzip verborgen bleibt hinter einer detaildichten, fast schon hyperrealen Oberfläche." Für den Tagesspiegel bespricht Andreas Busche den Film.

Weitere Artikel: Susanne Ostwald porträtiert in der NZZ die beiden Filmemacherinnen Florine und Kim Nüesch. Bernhard Blöchl schreibt in der SZ über die Brüder Jakob und Tom Lass, die mit ihren improvisierten Filmen im deutschen Kino für viel Aufsehen und Aufmerksamkeit sorgen. Der Berliner Filmrauschpalast würdigt den im Juli gestorbenen Kameramann Roby Müller, schreibt Andreas Hartmann in der taz.

Besprochen werden Annekatrin Hendels Dokumentarfilm "Familie Brasch" (FAZ, Berliner Zeitung, Perlentaucher), Gus van Sants Biopic "Don't worry, weglaufen geht nicht" über den querschnittsgelähmten Cartoonisten John Callahan (Tagesspiegel, taz), Marc Forsters "Christopher Robin" (SZ), Alexandra Deans Dokumentarfilm "Geniale Göttin" über Hedy Lamarr (SZ), Ferzan Özpeteks "Das Geheimnis von Neapel" (taz, FAZ), Jakob Lass' "So was von da" (Standard), Joseph L. Mankiewicz' auf DVD veröffentlichter Film "No Way Out" von 1950 (taz), und die Serie "Patrick Melrose" mit Benedict Cumberbatch (NZZ).
Archiv: Film

Musik

Mit großem Enthusiasmus berichtet Techno-DJ Henrik Schwarz in der Berliner Zeitung von seiner Zusammenarbeit mit dem niederländischen Metropole Orkest, in dessen Zuge er die Vorzüge des Musizierens jenseits digitaler Register und "eine große Bewusstheit im Sounddesign" für sich entdeckt hat: "Man schaut plötzlich wie durch eine Lupe, hat enorme Kontrolle über diese ganzen Obertöne. Und auf einmal können diese Musiker rhythmische Sachen, die dein Synthesizer nicht kann, du kommst plötzlich sozusagen an winzige Details, die dem Synthesizerklang verschlossen bleiben − sie können praktisch alles spielen." Live sieht das zum Beispiel so aus:



Weitere Artikel: Daniel Gerhardt wirft sich auf ZeitOnline der Rapperin Nicki Minaj zu Füßen. Für die taz porträtiert Robert Mießner den derzeit in Berlin weilenden Elektrokünstler Alvin Curran. Im Tagesspiegel erinnert Michael Mönninger an den Berlin-Kreuzberger Rocksänger Heiner Pudelko, der am kommenden Samstag 70 Jahre alt geworden wäre: Er "war der leibhafte diabolus in musica". Ueli Bernays (NZZ) und Marcus Weingärtner (Berliner Zeitung) gratulieren Madonna zum 60. Geburtstag.

Besprochen werden das Berliner Konzert der Dirty Projectors (taz), das neue Album "Space Gun" von Guided By Voices (Standard), das neue Album von Zooanzoo (Jungle World), ein Konzert von Noname (taz) und ein Konzert der norwegischen Ungdomssymfonikerne bei Young Euro Classic (Tagesspiegel).
Archiv: Musik