Efeu - Die Kulturrundschau

Selbstbewusst fauchend

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17.08.2018. Die SZ lernt in Kopenhagen von Rem Koolhaas, was urbane Dichte ist. Eine Ablehnung oder Ausladung ist nicht Zensur, schreibt die neue musikzeitung den Schneeflöckchen ins Stammbuch. Das neue "Fotolot" stellt die Arbeit der Fotografin Vanessa Winships vor. Das Port Magazine feiert den apokalyptischen Glamour der Künstlerin Laure Prouvost. Und: alle trauern um die große Aretha Franklin.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.08.2018 finden Sie hier

Musik

Aretha Franklin ist tot: Eine der größten Ikonen des Souls ist verstummt. Sie "war die charismatische Stimme des Souls", schreibt Claus Lochbihler in einem epischen Nachruf für die NZZ. "Sie klang nie sentimental oder nett, sondern stets sicher und stark, selbst wenn sie sich verletzlich zeigte." Ihr Organ war "ein Wunder an Virtuosität und Strahlkraft, in allen möglichen Stilen. Aus einem einzigen, halsbrecherisch in die Länge gesungenen Wort konnte Aretha Franklin ein Kunstwerk schaffen. ... Franklin erreichte mit ihrer Musik eine kathartische Wirkung, die bis heute ihresgleichen sucht. Sie überwältigte ihr Publikum. Mit einer Intensität, die ans Übermenschliche zu reichen schien, erzählte sie von den menschlichsten Dingen."

Eine schöne Detailbeobachtung macht Jan Freitag auf ZeitOnline: "Franklin hatte diesen aufmüpfigen Schalk im Soul, gepaart mit einer Bühnenpräsenz, die ganz unmittelbar mit ihrer Körperlichkeit zusammenhing. Ihre Figur war nahezu zeitlebens ein Statement für femininen Eigensinn, der das herrschende Schönheitsideal attackiert, ohne es frontal anzugreifen." Ein schönes Beispiel dafür ist, wie sie sich für ein Stück lang John Landis' Film "Blues Brothers" krallt, sich in dessen Mittelpunkt stellt - und dabei gleich noch einmal ihres Status als feministische Ikone unterstreicht:



Und Josef Engels schreibt in der Welt: "Getauft in den Wassern des Gospels und inspiriert von Martin Luther King, der im Haushalt ihres Vaters ein- und ausgegangen war wie auch Mahalia Jackson oder Sam Cooke, sang sie selbstbewusst fauchend davon, was der weibliche und der afroamerikanische Teil der USA gerade am nötigsten brauchte: Kein Mitleid, keine faulen Ausreden. Respekt." Hier eine mitreißende Live-Version des Songs:



Edo Reents erzählt in der FAZ Anekdoten von ihren ersten Aufnahmen für Atlantic im Winter 1967 zu dem Album "I Never Loved A Man (The Way I Love You)": Alle Beteiligten "erinnern sich an ein Naturwunder." Hier wurde der moderne Soul begründet, "weil hier mit anstrengungsloser Kraft und einer über jeden Zweifel erhabenen Autorität gesungen wird. ... Das Besondere an jener Aufnahme, die man binnen einer Viertelstunde im Kasten hatte, liegt in der ungeheuren Sicherheit und Macht der Intonation, an der Natürlichkeit der Phrasierung."



"Aretha Franklins Aufnahmen für Atlantic liegen auf der energischen Linie des Stax-Modells", schreibt Markus Schneider in der Berliner Zeitung. "Franklin übernimmt den starken Ausdruck ganz selbstverständlich. Doch kontrolliert sie noch mit der befreiendsten Geste ihren Gesang gerade dort, wo es scheint, als werfe sie sich rückhaltlos in den Song." Wer Aretha Franklin wirklich verstehen will, brauche allerdings nur ein einziges Album, nämlich das eher unbekannte "One Lord, One Faith, One Baptism", meint Jörg Malitzki in der Welt: "Dieses Album erklärt ihr ganzes Leben."



ZeitOnline bringt eine Bilderstrecke. Der Guardian führt anhand zahlreicher Videos durch Franklins Schaffen. Weitere Nachrufe in FR, Tagesspiegel, taz und Standard. Und auf Twitter hat eine Enkelin eine letzte, brüchige Aufnahme aus dem März dieses Jahres geteilt:


Weitere Artikel: Intendant Reto Bieri zieht im NZZ-Gespräch Bilanz nach fünf Jahren Davos Festival. Stefanie Grimm freut sich in der taz auf das heutige Berliner Konzert der Punk- und Reggae-Chronistin Vivien Goldman. Besprochen werden  das Konzert des  EU-Jugendorchesters bei Young Euro Classic (Tagesspiegel) und neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album von Mitski (ZeitOnline).
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Film

Im Walrus Magazine stellt Anna Peppard den neuesten ethnischen Marvel-Helden vor: die Inuit-Superheldin Amka Aliyak aka Snowguard. Auf Artechock erinnert sich Rüdiger Suchsland an den verstorbenen Filmhistoriker Enno Patalas. Tobias Sedlmair gratuliert in der NZZ Robert de Niro zum 75. Geburtstag.

Besprochen werden Marc Forsters "Christopher Robin" (FR, Standard, Tagesspiegel), Gus van Sants "Don't Worry, weglaufen geht nicht" (Zeit, FR), Annekatrin Hendels "Familie Brasch" (taz, Tagesspiegel, Artechock, unsere Kritik hier), Jakob Lass' Clubnacht-Film "So was von da" (SZ), Damian John Harpers Veteranendrama "In the Middle of the River" (Welt, Tagesspiegel) und "Disentchantment", die neue Serie des "Simpsons"-Schöpfers Matt Groening (FAZ).
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Kunst

Vanessa Winship: Ohne Titel. Aus der Serie "Humber". Copyright Vanessa Winship.

Zwei Qualitäten bestechen an der Arbeit Vanessa Winships, schreibt Peter Truschner in einem "Fotolot" für den Perlentaucher: "ihr poetischer Zugang zum dokumentarischen Narrativ, der bewirkt, dass eine Gruppe von Menschen, die mit leeren Eimern um Wasser anstehen, aussieht wie auf einem Bild von Caravaggio; sowie ihre Fähigkeit, am Rand des Ewiggleichen das Unverwechselbare aufzuspüren, das aus dem Vertreter einer Spezies ein Individuum macht." Die Fotografin hat gerae eine Retrospektive im Londoner Barbican Centre.

Laure Prouvost, We will feed you, 2018. Palais de Tokyo


Nikita Dmitriev, Assistenz-Kurator im Pariser Musée d'Art Moderne empfiehlt im Port Magazine wärmstens eine Ausstellung der französischen Künstlerin und Turnerpreis-Gewinnerin Laure Prouvost im Palais de Tokyo. Sie hat viel mit Hieronymus Bosch gemeinsam, schreibt er: "Die Künstler teilen viele Motive: Labyrinthe, Insekten und Arthropoden, Tiere außerhalb ihrer natürlichen Umgebung, Stillen, Kastration, Kopulation. Und es ist nicht nur die Bildsprache oder die institutionelle Position, sondern auch das intuitive Weltbild, der 'apokalyptische Glamour des verdichteten Lebens', wie es Prouvost selbst definiert, das sie mit Bosch verbindet. Die Natur - als eine titanische vereinte Masse von mineralischen und biologischen Einheiten, die die Menschen unterdrücken - ist das Hauptthema. Es ist eine Natur, die belebt, grausam und libidinös ist; sie ist zerstörerisch, mit einer gewalttätigen Erotik, Vergnügen und Leid gehen Hand in Hand; es ist eine aufgeheizte Natur, ein Tier mit tausend Gesichtern und tausend Füßen, das von Blut, Milch und Sperma überfließt; Medusa, verführerisch, demütigend und mordend."

Besprochen werden eine Werkschau des Malers Sebastian Isepp im Museum des Nötscher Kreises im österreichischen Nötsch (Standard) sowie zwei temporäre Kunstprojekte in Parks und Wäldern des Tessin (NZZ).
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Literatur

Gerrit Bartels erinnert im Tagesspiegel an den Erfolg von Siegfried Lenz' "Deutschstunde" vor 50 Jahren. Arno Widmann gratuliert in der Berliner Zeitung Herta Müller zum 65. Geburtstag.

Besprochen werden Lisa Hallidays "Asymmetrie" (NZZ), Reiner Kunzes Gedichtband "die stunde mit dir selbst" (FR), Michael Köhlmeiers "Bruder und Schwester Lenobel" (Tagesspiegel) und María Cecilia Barbettas "Nachtleuchten" (SZ).
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Bühne

Im Kulturleben werden immer wieder gern Zensur-Vorwürfe erhoben, zuletzt vom Komponisten Wieland Hoban, der eine israelkritische Komposition nicht bei den Donaueschinger Musiktagen aufführen durfte, und von den Young Fathers, die wegen ihrer Unterstützung des BDS von der Ruhrtriennale ein-, dann aus-, dann wieder eingeladen wurden (mehr dazu im Van Magazin). Martin Hufner möchte das in der neuen musikzeitung etwas gerade rücken: eine Ablehnung oder Ausladung ist nicht Zensur: "Die Young Fathers können überall dort auftreten, wo man sie gerne hören möchte, Komponist Wieland Hoban kann seine Stücke überall spielen lassen, wo man sie spielen möchte. Die Entscheidung darüber, ob man jemand einlädt oder nicht, liegt in der Hand des oder der Einladenden. Der oder die kann seine oder ihre Entscheidung transparent machen oder auch nicht. Man kann die Entscheidung dann richtig finden oder nicht. Aber Zensur ist all das keineswegs. Leider fallen auf diese Zensur-Vorwurfsmuster aber auch Programmgestalterinnnen herein, wenn sie für sich reklamieren, dass sie keine Lust verspüren, Kunst zu zensieren - so wie [die Leiterin der Ruhrtriennale] Stephanie Carp im Interview mit dem Deutschlandfunk."

Weiteres: Bernd Noack porträtiert in der NZZ den Schauspieler Philipp Hochmair, der mit seinem Ersatz-"Jedermann" in Salzburg zum Star avancierte. Der Intendant des Davos Festivals Reto Bieri zieht zum Abschied im Gespräch mit der NZZ Bilanz. Besprochen wird die Uraufführung von Thomas Larchers Kammeroper "Das Jagdgewehr" bei den Bregenzer Festspielen (Standard, nmz),
Archiv: Bühne

Architektur

Das Architekturzentrum "Blox" in Kopenhagen


Das neue, von Rem Koolhaas gebaute Architekturzentrum Blox in Kopenhagen hat viel Kritik ausgelöst: Zu riesig, zu wuchtig sei es, der Eingang verhunzt und überhaupt, warum ein niederländischer Designer? Schon wahr, meint Laura Weißmüller, die sich das Gebäude angesehen hat, in der SZ, aber "wer sich einmal durch die Glasboxen bis nach oben gearbeitet hat, wer an den lautlos vorbeigleitenden Autos und den schwitzenden Bodybuildern zu den lichten Ausstellungsräumen gelangt ist und dort mit Blick auf die umliegenden Arbeitsräume die Exponate betrachtet hat, wird ein neues Verständnis davon bekommen, was urbane Dichte bedeuten kann. Und genau das ist heute wichtig. Denn das Wort Dichte ist ja nicht nur eine wolkige Zauberformel in so gut wie jeder Diskussion zur Zukunft der Stadt. Ohne ein kluges Konzept, wie unsere Städte wachsen können, ohne weiter in die Breite zu gehen, werden sie an ihrem Boom kollabieren. Ganz zu schweigen von der Lebensqualität für ihre Bewohner, die sie zwangsläufig einbüßen werden."
Archiv: Architektur