Efeu - Die Kulturrundschau

Heiteres Inferno des globalen Kapitalismus

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20.08.2018. Bei den Salzburger Festspielen wirft Ulrich Rasche mit den Persern" von Aischylos eine gewaltige Kriegsmaschinerie an. Politisches Theater auf der Höhe Zeit nennt das die Nachtkritik. Die Welt sieht Jammer und Schauder voll im Trend. Die SZ fragt jedoch, ob wir das Denken allmählich satt haben. In der NZZ beklagt der polnische Künstler Artur Zmijewski die politische Überfrachtung der Kunst. Und die taz erinnert sich an das gemütlich-ramschige Berlin, durch das Franka Potente als Lola vor zwanzig Jahren rannte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.08.2018 finden Sie hier

Bühne

Ulrich Rasches Inszenierung der "Perser" Foto: Bernd Uhlig / Salzburger Festspiele


Bei den Salzburger Festspielen hat Ulrich Rasche die "Perser" des Aischylos auf die Bühne gebracht. Das Drama erzählt von der verheerenden Niederlage, die das Heer der Perser 480 v. Chr. bei Salamis erlitt. Gewohnt laut und anstrengend fand Andrea Heinz in der Nachtkritik die von Rasche angeworfene Kriegsmaschienerie, aber auch politisches Theater auf der Höhe der Zeit: "Der Mensch als kleines Rädchen in der Maschine des Lebens, so in etwa könnte man das vielleicht zusammenfassen. Ein kleines Menschlein in der großen Masse, ausgesetzt den Parolen, Stimmungen und Emotionen, dem Sog der Menge. Natürlich ist das politisch. Sorgsam wird hier gesprochen, die (sensationellen!) Schauspieler*innen wägen jedes Wort, sprechen es achtsam aus, so dass wieder zu erkennen ist, was für eine Wucht so ein gesprochenes Wort haben kann, was für eine Macht. Aber eben auch, was für eine Gefahr in so einem gesprochenen Wort steckt." Einen Triumph nennt auch Stephan Hilpold im Standard die Inszenierung und den Regisseur "den strammen Chorführer des deutschsprachigen Theaters": "Seit Einar Schleef hat niemand mehr solch machtvolle, den Atem raubende Chöre auf die Bühne gebracht und damit der Masse ein Gesicht gegeben." In der Welt sieht Björn Hayer schon einen neuen Trend zum archaischen Stil: "Wir werden in unserer entfremdeten Spätmoderne wieder sensibel für Jammer und Schauder, zwei Uranliegen des klassischen Theaters." In der FAZ sieht Simon Strauß Rasches "Drang zum Gesamtkunstwerk" allenfalls ein wenig überreizt.

SZ-Kritiker Egbert Tholl macht dagegen grundsätzliche Vorbehalte geltend: "Wenn der Schock wirkt, dann kann man dem Regisseur seine desillusionierte Sicht auf die Welt glauben und an dieser verzweifeln, denn 'Die Perser' erzählen immerwährend gültig von Hybris und Verblendung. Lässt man sich nicht überrumpeln, überwältigen, in seiner Empfindung steuern, dann bleibt nichts. Wie jede gute Propaganda setzt Rasche auf Emotion, nicht auf Intellekt. Vielleicht hat er deshalb momentan diesen Erfolg, weil viele Theatergänger das (postdramatische) Denken satt haben und wegen großer Gefühle und Pathos ins Theater gehen wollen, wo dann die Götter und 'die Vorsehung' ein sensationelles Revival feiern."

Christoph Marthalers "Universe, Incomplete". Foto: Walter Mair/Ruhrtriennale 2018




Jenseits aller Debatte wurde bei der Ruhrtiennale in Bochum Christoph Marthalers Musiktheater "Universe, Incomplete" nach Charles Ives aufgeführt, in der NZZ bejubelt Daniele Muscionico das Mammutprojekt als "alchemistisches Klangwunderwerk" und "ersten unumstrittenen künstlerischen Höhepunkt der Ruhrtriennale. In der FAZ erlebt Patrick Bahners "den Geist der Gemeinschaftsbildung aus Eigensinn". Überragend findet auch Ulrich Amling im Tagesspiegel den Abend: "Der Regisseur kombiniert aus tiefer musikalischer Einsicht vielerlei Ives' zum unfertigen Universum hinzu, traumverlorene Choräle, angeführt von der wunderbaren Tora Augestad, Ragtime-Einwürfe in Sportuniformen, gewaltige Eruptionen der unsichtbaren Bochumer Symphoniker in extrastarker Besetzung. Musikalisch ist dieser Abend ein großes Glück, weil diesen Aufwand so schnell keiner mehr mit so viel Hingabe betreiben wird."

Weiteres: FR-Kritiker Hans-Klaus Jungheinrich erkennt beim diesjährigen Festivalssommer in Salzburg eine Tendenz zu "aufgedonnerten Bühnenevents".

Besprochen werden Wayne McGregors Choreografie "Autobiography", der beim Tanz im August in Berlin seine DNA zur Musik der amerikanischen Produzentin Jlin tanzen ließ (taz, Tagesspiegel) und Shakespeares "Macbeth" in der Übersetzung von Heiner Müller in Weimar (Nachtkritik)
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Architektur

Beate Scheder stellt in der taz das Mammut-Projekt "Bauhaus Imaginista" vor, das dem Wirken der Architektur-Avantgarde nach Japan, Russland, Brasilien, Nigeria und Indien folgt. Christian Thomas freut sich in der FR über eine Wiederbelebung des Archäologischen Gartens in Frankfurt.
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Kunst

Populisten missbrauchen Mittel der Kunst, etwa die Grenzüberschreitung oder den Skandal für ihre Belange, ärgert sich der polnische Künstler Artur Zmijewski im NZZ-Gespräch mit Jörg Scheller: "Wir sind es gewohnt, dass Politiker Kunst politisieren und Künstlern vorschreiben wollen, was sie zu tun haben. Doch nun treten auch gewöhnliche Leute auf den Plan. Durch die sozialen Netzwerke sind sie mächtig geworden. Ihre 'Meinungen' sind gefährlich. Denn in Wahrheit handelt es sich meist um Verurteilungen. Sie erpressen dich: Pass auf, du bewegst dich an der Grenze der Moral! Erkläre mir, was deine Kunst soll! Wenn nicht, geschieht dir etwas! Das ist eine neue Situation. Wenn es um sogenannte skandalöse oder subversive Kunst geht, werden, ähnlich wie in Extremfällen von #MeToo, Einzelpersonen angegriffen und blossgestellt. Die Hemmschwelle, Menschen vorzuverurteilen und zu bestrafen, sinkt." "

Besprochen wird die Ausstellung "Lust der Täuschung" in der Kunsthalle München (SZ).
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Design

In der NZZ glossiert Klaus Bartels über die Etymologie des Worts "Design": "Schauen wir tief ins Designer-Glas, erscheint da im Grunde ein lateinisches signum, 'Zeichen', das im Euro-Wortschatz vielfach fortlebt, so bei uns über ein verkleinerndes sigillum im 'Siegel', sodann über das Verb signare im 'Signieren' und der Lehnübersetzung 'unterzeichnen' sowie, des Kreuzeszeichens wegen, im 'Segnen', schließlich über ein spätes Adjektiv signalis im 'Signal'."
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Literatur

Nicht ohne Trauer berichtet die Schriftstellerin Kapka Kassabova im Standard von einer Rückkehr an einen bulgarischen Strand, den sie zuletzt in den 80ern besucht hatte, als Bulgarien noch kommmunistisch war: "In Gesellschaft schwitzender, aufgeregter Russen, junger Skandinavier, pickelig vor Hormonen, blasshäutiger Familien aus anderen nördlichen Breiten betrat ich bulgarischen Boden. Aus dieser lebhaften Hafenstadt wurden die Konsumententouristen Europas wie Dosenfleisch in die pulsierenden Strandorte von Goldsand und Sonnenstrand verschickt. Meine Rote Riviera war zu einem heiteren Inferno des globalen Kapitalismus geworden.

Für den Freitag hat sich Jan C. Behmann mit Christine Becker, der Witwe Jurek Beckers getroffen, um über die Postkarten ihres Mannes zu sprechen, die sie jetzt gesammelt als Buch veröffentlicht hat. Er habe "das Genre des professionellen Postkartenschreibens" in Texas entwickelt, sagt sie. " Er wollte mehr unterhalten als Informationen mitteilen. Die Empfänger bekommen kleine, teils erfundene Geschichten gesendet. Erst in den 90ern, in denen er die meisten Karten verschickte, begann er, die Texte zu konzipieren."

Weitere Artikel: Schriftsteller Burkard Spinnen schildert im Welt-Gespräch Richard Kämmerlings die Schwierigkeiten, von Unternehmern zu schreiben. Sabine Reithmaier hat für die SZ nachgeblättert, wie die Schriftstellerin Ricarda Huch 1919 auf die Ermordung Kurt Eisners reagiert hat. In der NZZ träumt Angelika Brauer schlecht von Türen, die ins Schloss fallen. Schriftsteller Peter Stamm schreibt auf ZeitOnline über einsame Besuche im Schwimmbad.

Besprochen werden unter anderem Hannes Bajohrs "Halbzeug: Textverarbeitung" (taz), Michael Kleebergs "Der Idiot des 20. Jahrhundert" (Tagesspiegel), Franz Hessels wieder aufgelegtes Romandebüt "Kramladen des Glücks" (Jungle World), Maike Wetzels Debütroman "Elly" (SZ),  Rodrigue Péguy Takou Ndies "Die Suchenden" (Freitag) und Helene Hegemanns "Bungalow" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans Christoph Buch über Immanuel Weißglas' "ER":

"Wir heben Gräber in die Luft und siedeln
Mit Weib und Kind an dem gebotnen Ort.
..."
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Film

20 Jahre ist es schon wieder her, dass Franke Potente in Tom Tykwers "Lola rennt" durch Berlin rannte. Jenni Zylka hat sich den Film für die taz nochmal angesehen und dabei ein paar melancholische Beobachtungen gemacht: Nicht nur wäre die Prämisse des Films in der heutigen, von Digitalkommunikation geprägten Zeit kaum mehr plausibilisierbar, sondern auch die Stadt bietet nicht mehr die Kulisse von einst: Denn Lola rennt durch die "leere, gemütlich-ramschige, menschenlose Umgebung des ungentrifizierten Bezirks Mitte. Lola rennt, Berlin pennt. ... Als einer der letzten RegisseurInnen eines Berlin-Films hatte Tykwer die Stadt also wie eine geräumige Theaterbühne nutzen können - später, nach Einzug der TouristInnen und Smoothie-Ketten, musste man die verbleibende Enge entweder erzählerisch einbauen und sich auf bestimmte, kartografisch mehr oder weniger undefinierte Orte beschränken."

Weitere Artikel: Nadine Lange berichtet im Tagesspiegel vom 24. Filmfestvial in Sarajevo. Besprochen werden Gus van Sants "Don't Worry, weglaufen geht nicht" (Freitag), Jan Bonnys gestriger "Polizeiruf 110" mit Matthias Brandt ("eine kluge Variation auf das Krimigenre", urteilt TV-Krimi-Experte Matthias Dell auf ZeitOnline), Norbert Pötzls Buch über den Klassiker "Casablanca" (Tagesspiegel), Jennifer Fox' "The Tale" (ZeitOnline) und neue Veröffentlichungen auf Heimmedien, darunter Raoul Walshs "Die Teufelsbrigade" und André de Toths "Gegenspionage", beide mit Gary Cooper (SZ).
Archiv: Film

Musik

Der Auftakt des Lucerne Festivals ist geglückt, freut sich Christian Wildhagen in der NZZ. Insbesondere Alina Ibragimovas Mendelssohn-Konzert mit dem Chamber Orchestra of Europe unter Bernard Haitink wurde zum Ereignis: Die Geigerin "gehört zu jener jüngeren Musikergeneration, die sich gleichermaßen in der Originalklangbewegung wie in der klassischen Aufführungspraxis zu Hause fühlt. Obendrein ist sie Primaria des auf historischen Instrumenten spielenden Chiaroscuro-Quartetts. Beides hört man - an ihrem feinen, eher kleinen, aber genau fokussierten Ton und an ihrer Spielweise, die einen restriktiven, niemals pauschalen Vibrato-Gebrauch mit dem Wissen verbindet, welch eigentümlich herben Reiz gerade vibratofreie, manchmal schneidend lineare Töne in die Musik bringen können."

Weitere Artikel: Stephanie Grimm resümiert in der taz das Berliner Festival Pop-Kultur, wo die Band Die Türen "das Publikum zum Festivalabschluss zu einem Mitsing-Mantra gegen die Angst animierte. Und die ist ja bekanntlich die Wurzel von so viel Hässlichkeit. Trost stiften. Auch das kann Popkultur. Und ganz beiläufig gesellschaftlichen Dialog ermöglichen, jenseits von Fake News und sozialer Spaltung." Gerrit Bartels ärgert sich im Tagesspiegel darüber, dass sich Farid Bang und Kollegah nach der großen Aufregung um den Echo auf ihrem neuen Album uneinsichtig zeigen und die Fans das Album auf Platz 1 der Charts gehoben haben. Für die Welt porträtiert Marion Hahnfeld den Countrysänger John Schmid, der auf Pennsylvania Dutch, einer im Deutschen gründenden Mundart, singt. Von einer sehr enttäuschenden Wiederbegegnung mit Prodigys 1997 veröffentlichtem Album "The Fat of the Land" berichtet Jesse Doris auf Pitchfork. Für die Jungle World spricht David Kirch mit dem syrischen, vor dem IS nach Berlin geflohenen Rapper Don Victory über seine Erfahrungen. Mathias Fiedler ist für die Jungle World nach Bulgarien gereist, wo sich zu den Klängen der derben Schlagersänger Honk und Ikke Hüftgold all jene deutschen Touristen eintreffen, denen es am Ballermann mittlerweile zu gesittet zugeht. Alexander Weidemann gratuliert Robert Plant in der FAZ zum Siebzigsten.

Besprochen werden Mitskis Album "Be the Cowboy" (Pitchfork), Nicki Minajs "Queen" (Tagesspiegel), Carlos Santanas Berliner Konzert (Tagesspiegel, Berliner Zeitung), Justin Timberlakes Wiener Konzert (Standard) und Ariana Grandes Album "Sweetener" (Tagesspiegel), der Berliner Auftritt von Scritti Politti (taz) und ein Konzert des Anke Helfrich Trios (FR).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Uwe Ebbinghaus über Snoop Doggs und Pharrells Stück "Drop It Like It's Hot":

Archiv: Musik