Efeu - Die Kulturrundschau

Oratorium und Hexensabbat

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25.08.2018. Als "herrliche Zumutung" erleben die Kritiker Sasha Waltz' "Exodos" beim Tanz im August. In der FR erzählt der Regisseur Achim Freyer, was die koreanische Oper mit der DDR verbindet. Die Musikkritiker singen Leonard Bernstein Hymnen zum Hundertsten. In der NZZ erinnert der polnische Autor Artur Becker an den Dichter Zbigniew Herbert. Und die taz ist nach der Ausstellung "Berlinzulage" ganz dankbar, dass die anarchischen Berliner Achtziger vorbei sind.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.08.2018 finden Sie hier

Bühne

Bild: Exodos. Sasha Waltz & Guests © Carolin Saage
Es ist geradezu "perfide", wie gut es Sasha Waltz gelingt, mit dem Unwohlsein, das Assoziationen auslösen können, zu spielen, schreibt Nachtkritikerin Frauke Adrians beeindruckt von Waltz' Performance "Exodos" beim Tanz im August, die sich mit allen Spielarten von Flucht bis Ausgehen beschäftigt: "Tänzer, eingesperrt in perfekt ausgeleuchteten, nicht einmal schulterbreiten Plexiglaskästen; exquisite und doch Unbehagen auslösende Ausstellungsstücke, als hätte Gunther von Hagens bloß vergessen, das Menschenmaterial in Scheiben zu schneiden. Mit ihrer Befreiung aus den Kästen beginnen die Tänzer ein reizvoll verwirrendes Spiel: Weil das Publikum - wenn auch nur im ersten Teil des Abends - frei umherwandern darf und sogar für Komparsentätigkeiten herangezogen wird, weiß bald kein Besucher mehr so recht, wer zum Ensemble gehört und wer nicht. Viele werden Teil suggestiver Tableaus, wenn eine Tänzerin ihnen lächelnd ein Kinderskelett zum Streicheln hinhält, sie stumm um Hilfe beim Gepäcktragen bittet oder die Umrisse ihrer Füße auf dem Boden mit Kreide markiert, als handle es sich um Spuren eines Unglücks." Als "herrliche Zumutung" trotz überdeutlicher Bilder erlebt auch FAZ-Kritikerin Wiebke Hülster den Abend. Und in der SZ meint Dorion Weickmann, Waltz gelinge ein "Hybrid aus Oratorium und Hexensabbat".

Auf europäischen Bühnen herrschen teils "verheerende" Arbeitsbedingungen, schreibt Stefan Weiss im Standard. Bei den Klassikfestspielen in Erl, berichten ehemalige Beschäftige, würden vor allem Musiker aus Weissrussland verpflichtet, die mitunter gerade mal 150 Euro pro Woche verdienen. Probezeiten würden zudem massiv überschritten und: "Als 'schwierig' geltende Arbeitnehmer werden zwischen den Theatern gelistet.' So habe ein Kollege von Jankowitsch sein Engagement an der Wiener Staatsoper verloren, und es sei ihm davon abgeraten worden, dagegen vorzugehen, 'weil er sonst keine Verträge mehr in Deutschland bekomme'. Weiters gebe es einen Gagenindex: Deutsche Theater führen demnach Listen, auf denen vermerkt wird, wie viel ein Darsteller wo verdient."

Im FR-Interview mit Stefan Schickhaus spricht der Bühnenbildner und Regisseur Achim Freyer darüber, wie er in Seoul den ersten koreanischen Wagner-"Ring" inszeniert, wie schwer es für koreanische Regisseure ist, eigene Operninszenierungen durchzusetzen und über die Parallelen zwischen der DDR und dem geteilten Korea: "Wenn man sich abschließt, verliert man den Kontakt zur Entwicklung in der Welt. Ich habe nordkoreanische Revuen gesehen, die mich stark an DDR-Aufmärsche erinnerten, alles uniformiert und martialisch. Dabei könnte koreanische Kultur so stark sein! Aber sie ist in beiden Ländern, in Nord und Süd, völlig verschüttet. Beide setzen auf eine andere, künstliche Ästhetik, nur nicht auf die eigene Tradition und Folklore."

Weitere Artikel:Im taz-Interview mit Eva-Christina Meier sprechen Heidi und Rolf Abderhalden, die vor über dreißig Jahren das "Mapa Teatro" in Bogota gründeten, über das Ende von 50 Jahren Gewalt in Kolumbien, ihre Rolle als Künstler und Zeitzeugen und Theater zwischen den Konflikten von Paramilitärs und Farc-Guerilla: "Obwohl wir über ein ausgeprägtes soziales Empfinden verfügen, haben wir uns nie in irgendeiner politischen Partei engagiert." Besprochen werden das szenische Konzert "Im Haus der herabfallenden Knochen" der Bands Khoi Khonnexion und Kante auf Kampnagel (nachtkritik), die Inszenierung "Diamante. Die Geschichte einer Free Private City" von Mariano Pensotti & Gruppo Marea bei den Ruhrfestspielen (nachtkritik) und Schorsch Kameruns "Nordstadt Phantasien" bei der Ruhrtriennale (taz).
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Film

Auf Zeit Online hat sich Matthias Dell mit der Produzentin Nanni Erben an einen Tisch gesetzt hat, um sein Missfallen an den "Weimar"-Tatorten  zu klären. In der Welt erzählt Drehbuchautor Andreas Pflüger unterdessen, warum er gerade ziemlich frustriert das Handtuch geworfen hat. Er schildert nicht nur den Abgrund der Unterfinanzierung und die Drehbuchhölle, bei der wegen diffuser Angaben zwischen fünf und zehn Fassungen geschrieben werden müssen, sondern auch den Schrecken der "Kleinen Gruppe der ARD", bei der die Fernsehspielchefs der Sendeanstalten zusammen kommen und über die geplanten Folgen abstimmen. "Nicht wenige Autoren kennen folgende Dramaturgie: Erster Akt. Der Redakteur, der gerade den Feinschnitt ihres neuen Films gesehen hat, ruft Sie an und schwärmt von Ihrer Arbeit. Zweiter Akt. Derselbe Mann kriegt das Votum der Kleinen Gruppe auf den Tisch, in dem der Film in die Tonne gekloppt wird, und plötzlich ist das, was gestern in den Himmel gelobt wurde, nur noch Murks. Ich kannte Redakteure, die mich an einem Tag umarmt und am nächsten mit Missachtung gestraft haben. Aber der dritte Akt kann auch so aussehen: Die Einschaltquote ist super, und der ganze Sender hat Sie wieder lieb."

Weitere Artikel: Susanne Ostwald stellt in der NZZ Lili Hinstin vor, die ab Dezember die Nachfolge Carlo Chatrians beim Filmfestival in Locarno antreten wird: "Eine überraschende, aber äußerst interessante Wahl, die das Locarno Festival durch neue Impulse und Schwerpunkte künstlerisch weiter voranbringen könnte." In der taz stimmt Tim Caspar Boehme auf die kommende Woche startenden Filmfestspiele in Venedig ein, das sich in seiner 75. Ausgabe - anders als etwa Cannes - sehr offen gegenüber Netflix zeigt. Christian Jooß-Bernau erinnert in der SZ an die Münchner "Raumpatrouille"-Dreharbeiten. Der Standard meldet erste Details zur Viennale.

Besprochen werden Andreas Dresens "Gundermann" (FR, mehr dazu hier und dort) und Alexa Karolinskis Dokumentarfilm "Lebenszeichen" über das jüdische Berlin (Tagesspiegel).
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Literatur

Der polnische Schriftsteller Artur Becker singt in der NZZ ein Loblied auf seinen Landsmann, den 1998 gestorbenen polnischen Dichter Zbigniew Herbert und insbesondere auf dessen Gedichtband "Rovigo". Becker staunt über Herbert, der sich, trotz zahlreicher Aufenthalte im Westen, immer wieder zurück hinter den Eisernen Vorhang begeben hat, und noch in unscheinbaren Orten wie Rovigo Splitter und Schätze aufgelesen hat: Im gleichnamigen Band findet Becker alles, was "Herbert und seine Denke für mich ausmacht: die gnadenlose Kritik an den Schurken, die das 20. Jahrhundert ideologisch vergiftet haben", aber auch "die verzweifelte Suche nach Gott, der sich dem Dichter leider nicht offenbaren will, weder auf Erden noch am Himmel; die Zerbrechlichkeit der Schönheit und Liebe, die beide von unserer Unwissenheit und/oder unserem Hass vernichtet werden können, wie man es am Beispiel des Achilles-Mythos sehen kann (...) die Liebe zur flüchtigen Schönheit der Jugend und der jungen Frauen - eine Schönheit, die man nicht besitzen kann, obwohl man ihr täglich begegnet; die ästhetische Erhebung und Erlösung durch die Kunst, die es trotz den vergänglichen Taten und Werken des Menschen immer wieder schafft, zu überleben, als könnte nur sie die Ewigkeit endlich einfangen, sie sogar erklären bzw. materialisieren."

Auf ZeitOnline schildert der 20-jährige, seit 2015 in Berlin lebende Amin Al Magrebi die Gegenwart seines Heimatlands Syrien: ein bedrückendes Trümmerbild, in dem die Stunde der Plünderer geschlagen hat. "Soldaten in Uniform und Söldner plündern Hand in Hand, schleppen davon, was immer sie in die Finger bekommen; Fernseher, Kühlschränke, Waschmaschinen, Gasflaschen, Sofas, Teller, Löffel, Gabeln, sogar die Elektrokabel werden aus den Wänden gerissen. Wertvolles Kupfer. ... Verbrannte Autos. Verbrannte Reifen. Verbrannte Gehwege. Verbrannte Bäume. Verbrannte Träume. Verbrannte Erinnerungen. Ich suche den alten Laden, wo ich mir früher Eis gekauft habe. Ich kann ihn nicht mehr finden. Das Gehen auf Asche ist schwerer als das über glühende Kohlen. Die Häuser sehen überall gleich aus. Die Asche sieht überall gleich aus. Die Asche erzählt immer die gleiche Geschichte."

Weitere Artikel: Richard Kämmerlings spricht in der Literarischen Welt mit Michael Lentz über dessen neuen Roman "Schattenfroh". Für die FAZ hat sich Hannes Hintermeier mit Schriftsteller Friedrich Ani zum Gespräch über dessen Biografie als Sohn eines Syrers in Bayern und die bayerische Politik und Mentalität im Allgemeinen getroffen. Ulrike Baureithel berichtet im Tagesspiegel von der Böll-Woche im Literaturforum Berlin. Denis Scheck fügt seinem Welt-Literaturkanon Fjodor Dostojewskis "Verbrechen und Strafe" hinzu. Julya Rabinowich erinnert sich in ihrer Standard-Kolumne an die eigene Hochzeit. In der SZ erinnert Thomas Steinfeld an die Veröffentlichung von Siegfried Lenz' "Deutschstunde" vor 50 Jahren. Außerdem bringt die Literarische Welt einen Auszug aus David Sedaris' Buch "Calypso".

Besprochen werden Inger-Maria Mahlkes "Archipel" (taz), Helene Hegemanns "Bungalow" (Berliner Zeitung, FAZ), Liao Yiwus "Drei wertlose Visa und ein toter Reisepass" (Welt), Masande Ntshangas "positiv" (NZZ), Ally Kleins "Carter" (taz), diverse Veröffentlichungen von und über Leo Lania (NZZ), Ré Soupaults Memoiren "Nur das Geistige zählt. Vom Bauhaus in die Welt" (Tagesspiegel) und Rachel Cusks "Outline"-Trilogie (Freitag).
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Musik

Heute wäre Leonard Bernstein 100 Jahre alt geworden. Für die NZZ ist Eleonore Büning nach Tanglewood gereist, wo man den Komponisten seit Wochen ausgiebig mit Konzerten und Aufführungen feiert (mehr zu Bernsteins Verhältnis zu Tanglewood hier). Bernstein "schrieb Musik mit Empathie, unter Einfluss", erklärt Büning im weiteren. "Komponierte tonal eingängige Melodien, während in Europa die serielle Musik diskutiert wurde. Akzeptierte keine Grenzen zwischen E- und U-Musik, betrachtete Genres und Stiltraditionen als Verfügbarkeiten. Man hat ihm das beizeiten als Eklektizismus angekreidet."

Im Tagesspiegel würdigt Ulrich Amling die Lebenslust und Leutseligkeit Bernsteins: "Während Karajan eine Hälfte des Restaurants absperren ließ, um ungestört essen zu gehen, war für Bernstein der Austausch auf einer Party die natürliche Daseinsform, Zigarette und Scotch immer zur Hand. Und was ist ein Konzert schon anderes als geteilter Genuss, die Fortsetzung jenes Flirtens, Umarmens und Küssens, das für Bernstein selbstverständlicher Ausdruck von Neugier und Lebenslust war." Passt, pflichtet Ljubiša Tošić im Standard bei: Bernstein "besetzte das dionysisch-ekstatische Rollenfach. Sein hochproduktiver Dauerstress, den er in Herzlichkeit packte, darf dabei auch mit einander behindernden Sehnsüchten erklärt werden: Bernstein war ein Dirigent, der darunter litt, nicht ausreichend Komponierzeit zu besitzen. Er war ein Komponist, der die Einsamkeit des Schreibenden schätzte und doch am liebsten Leute um sich scharte. ... Er war ein erfolgreicher Komponist, den es wurmte, nur mit dem Musical 'West Side Story' assoziiert zu werden." Weshalb sich Thomas Vitzthum in der Welt sehr freut, dass neben der "West Side Story" zunehmend auch wieder andere Bernstein-Arbeiten mit Aufmerksamkeit bedacht werden. Und Michael Jäger befasst sich im Freitag detailliert mit Bernsteins Prokofjew-Einflüssen. Und Simon Rattle ist sich in der NMZ sicher: Heute "würde er Stücke über die Flüchtlingskrise schreiben, über deren Grausamkeit."

Auch Google hebt im Google Doodle natürlich auf "West Side Story" ab:



Weitere Artikel: Christian Gohlke widmet sich in der NZZ der symbiotischen Beziehung zwischen den Wiener Symphonikern und den Salzburger Festspielen: "So unentbehrlich die Philharmoniker für Salzburg sind, so notwendig erscheinen umgekehrt die Festspiele für das Orchester - und zwar nicht bloss als Einnahmequelle (über die Höhe der Honorare wird allseits diskret geschwiegen), sondern mehr noch als künstlerische Frischzellenkur." In der Berliner Zeitung gibt Johannes von Weizsäcker Zwischenstandsmeldungen vom noch bis Sonntag dauernden Berlin Atonal Festival, wo etwa beim "etwas gespenstischeren Techno" der Kölnerin Lena Willikens "gut geschunkelt wurde." Ueli Bernays resümiert in der NZZ das Zürich Open Air, wo unter anderem Kendrick Lamar auftrat. Iris Alanyali schreibt in der Welt einen Nachruf auf den "Hitparade"-Moderator Dieter Thomas Heck.

Besprochen werden "Neckout" von Zooanzoo (Jens Uthoff verspricht in der taz "eine dichte Soundcollage aus TripHop, R&B, Psychedelicpop und Punk"), Sophie Hungers "Molecules" (FAZ), ein Auftritt von Frank Peter Zimmermann und Martin Helmchen (FR), ein Konzert von Marius Müller-Westernhagen (FR) und Burt Glinns Fotoband über die Beat-Generation (Welt).
Archiv: Musik

Architektur

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel hat sich Udo Badelt mit dem türkischen Architekten Murat Tabanlioglu getroffen, der das einst von seinem Vater Hayati entworfene und kürzlich auf Geheiß Erdogans abgerissene Atatürk-Kulturzentrum am Taksim-Platz neu - und wiederum auf Wunsch Erdogans - aufbauen soll. In der Berliner Zeitung stellt Nikolaus Bernau einige der Bauten vor, die dieses Jahr beim Berliner Architektur-Preis zur Auswahl stehen.
Archiv: Architektur
Stichwörter: Atatürk Kulturzentrum

Kunst

Bei aller Freiheit, die die Stadt einst bot, ist sich Tilman Baumgärtel in der taz beim Betrachten der Westberliner Konzeptkunst und Performances der Achtziger, die im Künstlerhaus Bethanien derzeit in der Ausstellung "Berlinzulage" zu sehen sind, nicht sicher, ob er sich dieses Berlin wirklich zurückwünschen soll - etwa beim Anblick der Fotografien von Michael Hughes: "Ein Panzer auf dem Kurfürstendamm, der abgebrannte Kreuzberger Bolle-Supermarkt nach der Randale am 1. Mai 1987, eine polizeiliche Räumung des Kinderbauernhofs an der Adalbertstraße, die beschmierte Fassade des neugebauten Schwimmbads am Spreewaldplatz, Häuser in der Oranienstraße, die aussehen, als sei es Mai 1945."

Weitere Artikel: In der Welt berichtet Annegret Erhard von der mit russischen Geldern finanzierten Biennale in Riga, die derzeit unter dem Motto "Everything was forever, until it was no more" stattfindet: "Gepaart mit Ruinenromantik und mehrfach gebrochener Historie entsteht ein Panorama postheroischer Botschaften, die im besten Fall eine überzeugende Ästhetik des Widerstands gefunden haben, im schlechteren nur zaghafte Larmoyanz."Als "Eliteschule des Sehens" erlebt Stefan Trinks in der FAZ die Ausstellung "Aus Rembrandts Werkstatt" im Berliner Kupferstichkabinett, für die der Rembrandt-Kenner Holm Brevers nachweisen konnte, dass zahlreiche einst Rembrandt zugeschriebene Zeichnungen aus den Händen seiner Schüler stammten.

Besprochen wird eine Ausstellung mit Bildern der Illustratorin Rotraut Susanne Berner im Hannoveraner Museum für Karikatur und Zeichenkunst Wilhelm Busch (FAZ).
Archiv: Kunst