Efeu - Die Kulturrundschau

Mit einem scharfen Schnitt

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.08.2018. Die Filmkritiker begleiten in Venedig Ryan Gosling ins All. Zeit online erstarrt vor dem zähnebleckenden Irrsinn, den Sergei Loznitsa in seinem Film "Donbass" bezeugt. In Kuba protestieren Künstler gegen das neue Gesetz 349, das eine staatliche Bewilligung für den Künstlerstatus voraussetzt, berichtet die taz. In der SZ stellt der Typograf Erik Spiekermann fünf neue Bauhaus-Schriften vor. Der Tagesspiegel besucht den Comiczeichner Jason Lutes, der nach 22 Jahre seine "Berlin"-Trilogie vollendet hat.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.08.2018 finden Sie hier

Film

Unser Mann (noch nicht) im All: Ryan Gosling als Neil Armstrong in "First Man"

Am Lido haben die Filmfestspiele von Venedig damit begonnnen, Ryan Gosling ins All zu schießen. Der nämlich spielt in Damien Chazelles Eröffnungsfilm "First Man" den Astronauten Neil Armstrong, der einst den Sprung auf den Mond gewagt hatte. Der Film hingegen springt eher überschaubar und bleibt an die Konventionen des Biopics gefesselt, meint Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche, der "eine einzige Aneinanderreihung von Unvermeidlichem und Erwartbarem" sah. Immerhin rummste es sehr ordentlich: "Das Sounddesign von Ai-Ling Lee ist durchdringend. Es nagelt einen mit ohrenbetäubender Lautstärke im Kinositz fest." Außerdem notiert Busche: Zahlreiche Namen, die man eher mit Cannes in Verbindung bringt, laufen in diesem Jahr am Lido auf.

Zuvor hatten Chazelle und Gosling "La La Land" gedreht, erinnert sich Susan Vahabzadeh in der SZ. "La La Land"-Feeling komme bei "First Man" indessen nicht auf, dafür tritt der Film zu lange auf dem Fleck, insbesondere, was Armstrongs offenbar wenig dynamische Ehe betrifft. Ein bisschen poetisch wird der Kritikerin dann doch noch zumute: "First Man" erzählt "die Geschichte einer verlorenen Seele, eines Autisten im All, der sich so allein auf der Welt fühlt, dass er nur in einem einzigen Augenblick ganz bei sich zu sein scheint: in der echten Einsamkeit jener grauen Wüste auf der Oberfläche des Mondes." Und Dominik Kamalzadeh hält dem Film im Standard Chazelles Blick fürs Detail zugute: Damit "trifft er den heute verwegen wirkenden Abenteuergeist im noch analogen Zeitalter gut." FAZ-Kritiker Dietmar Dath fand den Film gar nicht mal schlecht, unkt dann aber doch ein bisschen: Für ein Festival, "bei dem der Fortschritt so weit gediehen ist, dass unter fast zwei Dutzend Beiträgen einer sogar von einer Frau inszeniert wurde (Autofahren und Wählen dürfen Frauen ja in immer mehr Ländern, und sogar von Astronautinnen hat man gehört, also warum nicht?), ist 'First Man' das Werk mit dem passenden Titel."

Tim Caspar Boehme lobt den Technikoptimus des Festivals, das sich eine eigene Sektion mit Virtual-Reality-Filmen gönnt - auch wenn man Ende der restauriert aufgeführte Stummfilm "Der Golem, wie er in die Welt kam" noch immer überzeugender ausfällt als die ersten VR-Filme. Christiane Peitz freut sich im Tagesspiegel über den Ehren-Löwn für Vanessa Redgrave. Die FR hat Daniel Kothenschultes Einstimmung aufs Festival online nachgereicht.

Inszenierung des Kriegstheaters: Sergei Loznitsas "Donbass"

Schnitt nach Deutschland, wo in dieser Woche Sergei Loznitsas dokumentarisch anmutender Spielfilm "Donbass" anläuft, für den der Filmemacher 13 Episoden aus dem russisch-ukrainischen Konflikt nachgestellt hat. "Zähnebleckenden Irrsinn" gibt es hier zu bezeugen, schreibt ZeitOnline-Kritiker Oliver Kaever. Loznitsa hat seinen in vielen dokumentarischen Arbeiten herausgebildeten strengen Stil "in virtuose Plansequenzen ohne Schnitt transformiert, die ein hohes Maß an gestalterischer Disziplin verlangen. Trotz der chaotischen Verhältnisse, die Donbass zeigt, strahlt der Film dadurch eine eiskalte Energie aus, die das Geschehen wegen der scheinbaren Ungerührtheit des Beobachtenden zeitweise noch schwerer erträglich machen." Donbass ist "für Loznitsa weniger ein konkreter geografischer Ort, an dem ein politischer Konflikt ausgetragen wird", schreibt Philipp Stadelmaier in der SZ, sondern vielmehr "die weitläufige Kulisse einer Inszenierung, eines großen Kriegstheaters."

Im taz-Interview erklärt Loznitsa Barbara Wurm, dass das Ausgangsmaterial seines Films Youtube-Amateuraufnahmen waren. Und er bekräftigt die Eindrücke, dass sein Film auch auf Vorstellungen mittelalterlicher Grotesken fußt: "Wer sagt denn, dass das (post-)sowjetische Territorium, das ich beschreibe, nicht vom mittelalterlichen Bewusstsein handelt? All diese Vasallen und Souveräne, das sind Konstruktionen, die mit der Neuzeit nichts zu tun haben." Ein großes ZeitOnline-Gespräch hatten wir gestern schon im Efeu verlinkt.

Weitere Artikel: Susanne Ostwald porträtiert in der NZZ die Schauspielerin Emma Thompson, die derzeit in Richard Eyres (in der taz besprochener) Verfilmung von Ian McEwans Roman "Kindeswohl" zu sehen ist. Silvia Hallensleben führt in der taz durch das Programm der 17. Dokfilmwoche in Berlin. Jenni Zylka (taz) und Christian Schröder (Tagesspiegel) empfehlen eine Reihe im Berliner Kino Arsenal, das sich mit Filmen auf McCarthys Blacklist befasst.

Besprochen werden Detlev Bucks Kreuzberger Gangsterfilm "Asphaltgorillas" (FAZ, Tagesspiegel, NZZ), RP Kahls auf Heimmedien veröffentlichtes Erotikdrama "A Thought of Ecstasy" (taz, critic.de, unsere Kritik hier) und die Serie "Sharp Objects" nach dem gleichnamigen Roman von Gillian Flynn (NZZ).
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Kunst

In Kuba protestiert eine kleine Gruppe von Künstlern gegen das neue Gesetz 349, berichtet Knut Henkel in der taz. "Das aus fünf Kapiteln bestehende Gesetz definiert neue Standards für künstlerische Dienstleistungen und schreibt vor, dass alle Künstler, die in der Öffentlichkeit auftreten, 'eine Bewilligung der sie vertretenden staatlichen Kulturinstitution vorweisen müssen'. Für Pacheco und die zehn Künstler, die die Beschwerde gegen die Implementierung des Gesetzes mit der Nummer 349 eingereicht haben, ist das ein Eingriff in die Freiheit der Kunst. 'Fortan entscheiden die staatlichen Institutionen, ob du Teil des Kunstbetriebs bist oder nicht. Das ist in Kuba nichts wirklich Neues, aber das Gesetz bietet zahlreiche Handhaben für die Kriminalisierung der Künstler. Es ist ein massiver Eingriff in die Freiheit der Kunst', kritisiert Pacheco."

Der goldene Erdogan in Wiesbaden ist inzwischen gestürzt, nachdem er ordentlich Stunk provoziert hatte, aber welchen Sinn hatte diese Show eigentlich, fragt Till Briegleb in der SZ: "In Wiesbaden wurde zumindest extrem viel öffentlich geredet. Wenn diese Gespräche jetzt nicht moderiert weitergeführt werden, dann war der goldene Erdoğan nur das nächste goldene Kalb einer feixenden Kunstgemeinde, die sich an Provokationsshows erfreut und zum nächsten Event weiterzieht."

Weitere Artikel: Almuth Spiegler schreibt in der Presse zum Tod des Fotografen Erich Lessing. In der FAZ berichtet Julia Smirnova von Kunstdiebstählen in usbekischen Museen durch korrupte Mitarbeiter und Politiker. Thomas Kirchner besucht für die SZ das umstrittene Kunstzentrum Kanal-Centre Pompidou in Brüssel.
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Design

Die Schrifttype Xants, entworfen von Xanti Schawinsky

Im Auftrag von Adobe hat Erik Spiekermann zum 100-jährigen Bauhaus-Jubiläum fünf nur als Skizzen und Fragmente überlieferte Bauhaus-Typografien von Xanti Schawinsky, Joost Schmidt, Carl Marx, Alfred Arndt und Reinhold Rossig digital vervollständigt. Bei der Arbeit lagen ihm "jede Menge Skizzen von Schriften, nicht umgesetzte Typografien der Bauhaus-Meister, Entwürfe, Sketche, Buchstabenfragmente, die als Schriften nie vervollständigt wurden" vor, erklärt der Typograf im SZ-Gespräch. "Um vollständige Schriften zu fertigen, hätte man damals Matrizen fräsen müssen. Das war sehr aufwendig und auch unglaublich teuer. Die Bauhaus-Leute haben damals also oft nur Schriften als Reinzeichnungen angelegt, Buchstaben auf Papier zusammengeklebt und von Hand reproduziert oder nachgebaut. Aber es waren nie komplette, gebrauchs- und druckfertige Schriften, die man hätte nutzen können." Die ersten Schriften stehen hier zur Installation via Typekit zur Verfügung.
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Bühne

Die Theaterkritiker haben nach einer Umfrage von Theater heute das Theater Basel zum "Theater des Jahres 2018" gewählt, meldet die Berliner Zeitung.

Besprochen werden Jakob Ullmanns Oper "Horos Metéoros" im silent green Kulturquartier in Berlin (nmz), die Uraufführung von Suse Wächters Puppentheater "Hört, hört! Die Bauhaus-Protokolle - der große Streit von Weimar" beim Kunstfest Weimar (nachtkritik), Björn Bickers "Das letzte Parlament (Ghost Story)" Staatstheater Mainz (nachtkritik) und Dariusch Yazdkhastis Inszenierung von Schillers "Maria Stuart" am Staatstheater Mainz (FR).
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Literatur

Für den Tagesspiegel unterhält sich Thomas Hummitzsch mit dem Comiczeichner Jason Lutes, der seine gepriesene "Berlin"-Trilogie nach nun insgesamt 22 Jahren vollendet hat. Auf das Projekt ist er gekommen, weil er sich nach ersten Arbeiten als Comicerzähler reif genug fühlte, "erzählen zu können, was immer ich wollte. Mit diesem Gedanken im Kopf stieß ich auf eine Anzeige für den Fotoband 'Das Berlin des Bertolt Brecht'. Ich habe ihn mir gekauft und sofort gewusst, dass mein nächster Comic in dieser Zeit und an diesem Ort spielen würde. Im Nachhinein würde ich sagen, dass ich mir dieses Projekt ausgesucht habe, um mich selbst mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Umstände zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust geführt haben. ... Ich wollte so tief wie möglich in das Berlin der Weimarer Republik eintauchen und habe erst einmal zwei Jahre lang nur recherchiert."

In ihrer Heimat ist Bae Suah eine literarische Größe, jetzt ist die koreanische Schriftstellerin als Writer in Residence in Zürich zu Gast, wo Hoo Nam Seelmann sie zu einem Gespräch für die NZZ getroffen hat. Unter anderem gibt die Literatin Auskunft über ihr Verhältnis zu Geschichten, von denen sie sich zwar "angezogen" fühlt. "Seit der Kindheit haben mich Fiktionen immer fasziniert. Wenn ich jedoch schreibe, versuche ich, Geschichten zu entkommen. Was ich hingegen liebe, sind Orte, wo noch kurz vorher Geschichten weilten, Morgenstunden vor dem Beginn von Geschichten, Übergänge zwischen zwei Geschichten oder auch Augenblicke, aus denen Geschichten entschwunden sind. Ich mag Literatur, die wie mit einem scharfen Schnitt aus einem Narrativ herausgeschnitten wirkt oder auch aus mehreren Bruchstücken aufeinandergeschichtet, ohne dass sie sich ganz zusammenfügen."

Weitere Artikel: In der SZ schreibt der syrische Schriftsteller Adel Mahmoud über die nicht zu bewältigende Herausforderung, in Syrien einen neuen Roman zu schreiben. Ursula März fährt für die Zeit mit Juli Zeh über Lanzerote, wo Zehs neuer Roman spielt. In der FR erinnert Jörg Schweigard an den Dichter Friedrich Lehne. Auf Zeit online gratuliert Georg Seeßlen dem Comiczeichner Robert Crumb zum 75. Geburtstag, im Tagesspiegel gratuliert Thomas Hummitzsch.

Besprochen werden unter anderem Stephen Kings "Der Outsider" (SZ), Giuseppe Tomasi di Lampedusas "Die Sirene" (Tagesspiegel), Lewan Berdsenischwilis "Heiliges Dunkel" (FAZ) und eine aufwändige Hörspieladaption von Hilary Mantels Roman "Brüder", die der WDR ab 3. September online stellen will (FAZ).
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Musik

Vielleicht zum ersten Mal "glänzt dieses Jahr das Lucernce Festival Orchestra", freut sich Clemens Haustein in der FAZ: Drei Jahre, nachdem Riccardo Chailly den Taktstock übernommen hat, habe endlich eine Annäherung zwischen Festival und Dirigent stattgefunden: "Das drückt sich in einer neue Strenge aus, in orchestraler Disziplin und Kontrolle." Mehr zu dieser Diskussion auch in unserem Efeu vom vergangenen Dienstag.

Weitere Artikel: NZZ-Kritikerin Julia Spinola ist Daniel Barenboim nach Buenos Aires hinterher gereist, wo Barenboim erstmals eine Oper im Teatro Colón dirigiert. Auf ZeitOnline schreibt Daniel Gerhardt darüber, wie sich Justin Vernon mit dem People-Festival in Berlin (mehr dazu hier), einem daran angeschlossenen Online-Radio und einem gemeinsam mit Aaron Dessner (von The National) unter dem Namen Big Red Machine eingespielten Album vom Erfolg seiner Hauptband Bon Iver emanzipiert. Eine Hörprobe:



Besprochen wird ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko, das Alexander Camman in der Zeit ähnlich hymnisch bespricht wie zuvor seine Kollegen: "Diese Umarmung wird Großes gebären."
Archiv: Musik