Efeu - Die Kulturrundschau

Immerhin bin ich ein Typ

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31.08.2018. Der Tagesspiegel verliebt sich bei den Filmfestspielen in Venedig in Alfonso Cuaróns "Roma", ein Viertel in Mexiko-City. Die nachtkritik stellt Schauspielerinnen vor, die erfolgreich ins komische Fach ausgebrochen sind. Die taz hört Punk von Tünay Akdeniz. Die NZZ betrachtet den Eiffelturm mit den Augen Robert Delaunays. Großschreibung statt kleinschreibung: Barbara Köhler prangt jetzt statt Eugen Gomringer auf der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule. Die taz findet's demokratisch, die Berliner Zeitung selbstgerecht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.08.2018 finden Sie hier

Film


Unsentimentaler Blick ins Mexiko der 70er: Alfonso Cuaróns "Roma"

In Venedig wurde Alfonso Cuaróns "Roma" - eine Netflix-Produktion, die in Cannes genau deswegen abgelehnt wurde und nun im Wettbewerb am Lido läuft - uraufgeführt. Damit hat sich die Croisette eher selbst geschadet, lautet Andreas Busches Fazit dazu im Tagesspiegel: Der Film spielt im gleichnamigen Viertel in Mexiko-Stadt, der Regisseur "blickt unsentimental auf seine Kindheit in den frühen siebziger Jahren, zwischen Fußball-WM und Studentenprotesten, die paramilitärische Milizen niederschlugen. Ganz beiläufig zeichnet er dabei das soziale Panorama eines Landes im Umbruch: Roma als kindlichen Sehnsuchtsort, die Prachtmeile Insurgentes und den staubigen Slum Netzahualcóyotl, der damals aus wenigen Hütten bestand."

Auch SZ-Kritikerin Susan Vahabzadeh war sehr angetan, feiert aber insbesondere den griechischen Autorenfilmer Giorgos Lanthimos, dessen "The Favourite" über das Leben von Queen Anne "aus diesen Frauen lebendige Figuren" macht: "Dieser Film erzeugt eine unendliche Dankbarkeit für zivilisatorische Errungenschaften wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie." Tazler Tim Caspar Boehme sitzt  derweil in der Nebenreihe "Orrizonti", wo ihm insbesondere Rithy Panhs halbdokumentarischer "Les tombeaux sans noms" aus Kambodscha und Stefano Cucchis "Sulla mia pelle" aufgefallen sind.

Vom Lido ins Archiv: Volker Pantenburg berichtet auf New Filmkritik von seiner sehr detaillierten Lektüre der "Filme der Studentenbewegung 1967-1969", die bei Absolut Medien in einer DVD-Box gesammelt erschienen sind und sich insbesondere im Rückblick auf '68 als sehr erhellend erweisen: "Man sieht, wie viel von den Machtverhältnissen und Psychodynamiken sich über das bewegte Bild mitteilt (die Position der Körper im Raum, wie einer das Rednerpult umfasst, Gesten der angemaßten oder tatsächlichen Souveränität, wer steht, wer sitzt, wer hat die Macht über das Mikrofon).  ... Die Formierung und das Auseinanderfallen von Gruppen, das lässt sich hier im Minutentakt beobachten."

Weitere Artikel: Carolin Weidner empfiehlt in der taz eine Filmreihe im Berliner Zeughauskino mit in Deutschland entstandenen Werken ausländischer Filmemacher. In der Welt spricht Hanns-Georg Rodek mit Sergei Loznitsa über dessen "Donbass" (Besprechungen in Perlentaucher, FR und Filmgazette).

Besprochen werden Karim Moussaouis Episodenfilm "En attendant les hirondelles" (Jungle World), Detlev Bucks "Asphaltgorillas" (Standard, FR), Richard Eyres Ian-McEwan-Verfilmung "Kindeswohl" (FAZ, Berliner Zeitung) und der Dokumentarfilm "Geniale Göttin" über die Schauspielerin Hedy Lamarr (Standard, mehr dazu hier).
Archiv: Film

Bühne

In der nachtkritik stellt die Theaterwissenschaftlerin Anna Opel eine Reihe von Schauspielerinnen vor, die das komische Fach nutzen, sich aus klassischen oft stereotypen Frauenrollen zu befreien. Idil Baydar zum Beispiel, Dagmar Manzel, Vanessa Stern oder Caroline Peters. "Maria Happel wäre noch vor ihrer Schauspiel-Ausbildung beinahe an Genderkriterien gescheitert: 'Ich war weder groß, noch schlank, noch blond und wurde trotzdem immer zu Partys eingeladen. Ich konnte Witze erzählen und Klavier spielen.' In den 1980ern habe die junge Maria Happel, Jahrgang 1962, eigentlich nicht ins Theater gepasst, sagt sie. Sie war nicht der 'deutsche Typ'. 'Was, bitteschön, wollen Sie denn spielen?', habe man sie bei der Bewerbung an der Schauspielschule gefragt. 'Immerhin bin ich ein Typ' stellt Happel beim Gespräch im Garten des Max-Reinhardt-Seminars in Wien klar. "

Besprochen wird Gob Squads "Creation" frei nach Oscar Wilde am Hau Theater in Berlin (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Design

In der NZZ plaudert Herbie Schmidt mit einem sich sehr enthusiastisch über das eigene Produkt äußernden Mark Backé über die neue Fahrzeugmesse Grand Basel, bei der sich alles um Stil und Design von Autokarrosserien dreht.
Archiv: Design
Stichwörter: Grand Basel, Autodesign

Musik

In der engen Auslegung des Wortes spielt der türkische Musiker Tünay Akdeniz zwar gar keinen Punk, auch wenn ein Album mit Aufnahmen aus den 70ern, das jetzt auf den Markt gebracht wurde, "The Godfather of Punk" betitelt ist, erklärt Volkan Ağar in der taz: Aber in der Türkei der 70er war Punk ohnehin eher eine Frage der Attitüde: Schließlich bewegte man sich in einem "Land, dessen Regierung zu jener Zeit bereits zweimal von den Generälen gestürzt wurde, ein Land, in das damals die erste islamistische Partei ins Parlament eingezogen war, Straßenkämpfe zwischen Linken und Rechten immer heftiger wurden, bevor die Generäle einmal mehr putschten. .. Ist es das, was an Akdeniz Punk ist? Unverblümt über Sex singen, in einem Land in einer Zeit, in der der Staat brutal auf das Privatleben der Bürger zugreift, in einer Gesellschaft, die hin und her gerissen ist, zwischen Tradition, Sittlichkeit und autoritärer Modernisierung?" So jedenfalls klang das:



Weitere Artikel: In der Jungle World verneigt sich Kristof Schreuf vor Christiane Rösinger und ihrer Band Britta, die in diesem Herbst ein Best-Of veröffentlicht. Frederik Hanssen blättert für den Tagesspiegel im Programm des Musikfests Berlin, das sich in diesem Jahr mit Fragen nach der Religion, geistilicher und "durchgeistigter Musik" befasst.

Besprochen werden Sophie Hungers "Molecules" (NZZ, Spex), Mitskis "Be The Cowboy" (taz), Tomorrow Syndicates "Future Tense" (Spex), ein Konzert des Russischen Nationalorchesters in Polen (FAZ) und weitere neue Popveröffentlichungen, darunter Candi Statons Comeback-Album "Unstoppable" (ZeitOnline), das uns an diesem Morgen gut mitwippen lässt:

Archiv: Musik

Literatur

Habemus Fassadengedicht! Die Alice-Salomon-Hochschule hat in Berlin das Werk präsentiert, welches nach einer Gebäudesanierung in den kommenden Wochen ihre Außenwand fortan schmücken wird, nachdem Eugen Gomringers "avenidas" zuvor von den Studierenden des Hauses als sexistisch kritisiert wurde. Beigesteuert wird es von der Lyrikerin Barbara Köhler und es nimmt konkret Bezug auf Gomringers Gedicht. In Versalien zu lesen sein wird:

SIE BEWUNDERN SIE
BEZWEIFELN SIE ENTSCHEIDEN:
SIE WIRD ODER WERDEN GROSS
ODER KLEIN GESCHRIEBEN SO
STEHEN SIE VOR IHNEN
IN IHRER SPRACHE
WÜNSCHEN SIE IHNEN
BON DIA GOOD LUCK

Das Wort "sie/Sie" ist "ein vieldeutiges Wort", fällt Heide Oestreich dabei in der taz auf und kehrt die Korrespondenz des neuen mit dem alten Gedicht hervor: "Die Objekte machen sich selbstständig. Die Alleen, die Blumen und die Frauen. Der Text macht sich selbstständig, er verabschiedet die Perspektive des Bewunderers. Köhler setzt ein plurales Sie an die Stelle des groß geschriebenen Bewunderer/Bewunderten-Sies." Auf den Wechsel von Gomringers Min- zu Köhlers Majuskeln weist Matthias Heine in der Welt hin: Und "zu guter Letzt macht noch ein zusätzlicher typografischer Effekt das ausradierte Gedicht sichtbar: Das Schriftbild von Barbara Köhlers Werk soll so gestaltet werden, dass ein Eindruck von Durchsichtigkeit entsteht. Durch die Buchstaben schimmern einzelne Lettern der 'avenidas' durch."

Bei Petra Kohse von der Berliner Zeitung hinterlässt gerade diese selbstreferenzielle Lösung einen leicht bitteren Nachgeschmack: "Unten an der Fassade soll zusätzlich Gomringers Gedicht angebracht werden, außerdem ein Kommentar von ihm sowie ein Hinweis auf den Diskussionsprozess. Fußnoten zu den pädagogischen Zeilen Köhlers, die sich explizit korrigierend über Gomringers legen und dabei nach allen Seiten Recht zu schaffen versuchen (bis hin zum katalanischen Gruß am Ende, der gegen Gomringers Spanisch in Stellung gebracht wird). So wird, wo Kunst war, künftig Selbstgerechtigkeit prangen. Wozu?" Dlf Kultur hat sich mit Barbara Köhler über ihr Gedicht unterhalten.

Weitere Artikel: Thomas Ribi empfiehlt in der NZZ eine Lesereihe über in Zürich begrabene Schriftsteller. Und nachgereicht von gestern: Georg Seeßlens Geburtstagsgruß an Undergroundcomic-Meister Robert Crumb, der gestern 75 Jahre alt geworden ist.

Und in der Video-Reihe "Zweite Lesung" des Merkur befasst sich taz-Literaturredakteur Dirk Knipphals mit einem 1979 im Merkur erschienenen Text von Rainald Goetz über Max Frisch:



Besprochen werden unter anderem Thomas Hürlimanns "Heimkehr" (NZZ), Burkhard Müllers und Thomas Steinfelds "Deutsche Grenzen. Reisen durch die Mitte Europas" (Tell), Francis Neniks Biografie über Hasso Grabner (Freitag) und die Wiederveröffentlichung von Essad Beys "Öl und Blut im Orient. Autobiographischer Bericht" (SZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Robert Delaunay, "Air, fer, eaux", 1937. Aus der Sammlung Sam und Ayala Zacks. Foto: The Israel Museum Jerusalem


Eine Ausstellung im Kunsthaus Zürich mit Paris-Bildern Robert Delaunays feiert vor allem den Eiffelturm, den der Maler immer wieder in Szene gesetzt hat, schreibt Philipp Meier in der NZZ, Kunstkritik mit einer Liebeserklärung an Paris verbindend: "Die technische Modernität, die der Eiffelturm symbolisierte, erhielt durch sein Schaffen - das zeigt jetzt die Kunsthaus-Schau - auch ihre künstlerische Seite. Seine Malerei ist nicht mehr eine der schönen Perspektiven. Der ganze Bildraum zersplittert gleichsam im Gitterwerk und Gebälk des Turms und löst sich in kaleidoskopartigen Farb-Facetten auf. Da explodiert der Eiffelturm zwischen den Hausfassaden wie ein speiender Vulkan oder schillert wie ein grüner Libellenkörper in der Ferne. Den Turm hatte Delaunay in 'La Tour Eiffel et jardin du Champ-de-Mars' von 1922 sogar aus der Vogelperspektive fast senkrecht von oben gemalt: wie eine Nadelspitze neben dem Kreisen des Marsfelds, als hätte sich der Künstler hoch in den Himmel aufgeschwungen. Da war die Abstraktion nicht mehr weit."

Besprochen werden eine Ausstellung mit Arbeiten von Yury Kharchenko im Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück (taz) und Ausstellungen von Olaf Nicolai in St. Gallen, Wien und Bielefeld (SZ).
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