Efeu - Die Kulturrundschau

Blutorgie mit Tuba

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03.09.2018. Immersion hatte von Anfang an etwas Autoritäres, meint der Tagesspiegel, doch mit dem Berliner Mauer-Spektakel "Dau" wird sie stalinistisch. Die NZZ begeistert sich für den Genueser Pragamatismus und Renzo Pianos Entwurf einer neuen Brücke für die Stadt. Der Standard folgt den migrantischen Spuren in der deutschsprachigen Literatur. Nach  Luca Guadagninos Remake von Dario Argentos Horrorklassiker "Suspiria" kratzen sich die Kritiker in Venedig am Kopf: Ist das Blödsinn oder Camp?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.09.2018 finden Sie hier

Film

Weltwunder Tilda Swinton in Luca Guadagninos "Suspiria"

In Venedig wurde Luca Guadagninos Remake von Dario Argentos Horrorklassiker "Suspiria" gezeigt: Anders als Argentos Film über eine deutsche Ballettschule, in der eine Hexe das Regiment führt, spielt Guadagninos mit Tilda Swinton als Oberhexe besetzter Film nicht in Freiburg, sondern im Berlin des Deutschen Herbsts 1977 und taucht entsprechend tief ein ins Gewebe der Nachkriegs-BRD, erklärt Tim Caspar Boehme in der taz: "Im Radio laufen Nachrichten zur Landshut-Entführung, die Ballettschule steht direkt an der Mauer, und ein jüdischer Psychoanalytiker namens Klemperer, der in Westberlin praktiziert, fährt regelmäßig in den anderen Teil der Stadt auf seine Datscha." Wobei Boehme das alles etwas zu "krude" ist. Auch SZ-Kritikerin Susan Vahabzadeh winkt angesichts der politischen Konstellationen des Films ab: "Auf einen solchen Blödsinn muss man erst mal kommen."

Vehement widerspricht Andreas Busche vom Tagesspiegel: Dieses "Remake changiert brillant zwischen Arthouse und Camp, zwischen dem Ancien Régime eines Hexenkults und der autoritären Bundesrepublik." Auch wegen des "elegischen Kalter-Krieg-Grau" ist "dieses Blutballett ist zum Sterben schön." Horror-Freund Dietmar Dath äußert sich in der FAZ ähnlich begeistert: Dieser großartige Schauspielerinnen-Film, ruft er, ist hochambioniert, gerät aber nie ins Stolpern. Er "atmet vielmehr mal rasselnd, mal glatt, immer feurig, er seufzt, kichert irr, klagt und schreit überzeugend. ... Besonderes Lob verdient, wie immer, das Weltwunder Tilda Swinton, diesmal als Hohepriesterin, die Zigaretten raucht, als brauchte man dafür kein Feuer, sondern nur den Willen, dass sie brennen sollen. In Nebenrollen erfreuen Ingrid Caven und, besonders reizend, Angela Winkler. Für die Damen gibt Guadagnino handwerklich sein Bestes; die akrobatische Kontrapunktperfektion der Kreuzschnitte zwischen Tanz und Tod, die Torsionen, das Umstülpen der Physis in der Gewalt." Und Beatrice Behn feiert den Film auf kino-zeit.de als "durchdrungen von feministischen Ideen."

Weitere Nachrichten aus Venedig von Andreas Busche gibt es hier, von Dietmar Dath dort. Und kino-zeit.de berichtet tapfer mit einem ganzen Schwung von Vlogs und Kritiken.

Weitere Artikel: Lorina Speder spricht für den Freitag anlässlich einer Ausstellung in Köln mit dem ethnologischen Filmemacher Michael Oppitz über dessen in den 80ern in Nepal entstandenen Film "Schamanen im Blinden Land". Für die Berliner Zeitung hat sich Christina Bylow mit dem Schauspieler Tobias Moretti zum Gespräch getroffen. Besprochen werden die auf Heimmedien veröffentlichte Horrorkomödie "Theater des Grauens" mit Vincent Price (SZ) und die Serie "Insatiable" (Freitag).
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Kunst

Die so im Trend liegende "Immersion" hatte für Tagesspiegel-Kritiker Rüdiger Schaper schon immer etwas Autoritäres, aufdringlich Vereinnahmendes: "Das immersive, partizipative Spiel ist abgekartet und oft banal." Mit dem Dau-Spektakel jedoch, bei dem der russische Kunstunternehmer Ilya Khrzhanovsky für seinen stalinistischen Disney-Park in Berlin die Mauer wiederaufbauen will, erreicht sie ihren intellektuellen Tiefpunkt: "Man muss sehen, was da geschieht. Die Berliner Festspiele und viele andere Persönlichkeiten des Kulturlebens begeben sich hinein in einen russischen Finanz- und Kunstkomplex und schweigen zum Elend ihrer Kollegen im Putin-Reich... Hier bietet sich nun eine Begriffsklärung an: Immersion bedeutet Unterwerfen. Die 'Dau'-Unterstützer verbeugen sich vor der Allmachtsfantasie eines Künstlers, der eine Sehnsucht nach totalitären Strukturen erfüllt. Künstler probieren, weil es ihnen wohl in der Demokratie langweilig wird, ein bisschen Diktatur aus."

Besprochen wird die Ausstellung des Schweizer Fotografen Werner Bischof im Museum im Bellpark in Kriens (die Daniele Muscionico in der NZZ als Beispiel einer dringlichen Autorenfotografie würdigt).
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Bühne

Alan Lucien Øyens "Neues Stück II" des Tanztheaters Wuppertal. Foto: Mats Bäcker / Tanz im August

Als den in jeder Hinsicht heißesten Tanz im August aller Zeiten bilanziert Dorion Weickmann in der SZ das Berliner Festival, das große Auftritte von Wayne McGregor, Constanza Macras und dem "unwiderstehlich frivolen Theatertier" Benjamin Pech bot: "Tröstlich, dass zumindest das krisengebeutelte Tanztheater Wuppertal die Bürde der eigenen Vergangenheit allmählich abstreift. Das Berliner Gastspiel mit Alan Lucien Øyens unlängst uraufgeführtem 'Neues Stück II' wirkt fast wie eine Erlösung. Endlich dürfen die Tänzer, die noch mit der 2009 verstorbenen Pina Bausch gearbeitet und seitdem ihr choreografisches Erbe gepflegt haben, etwas Neues beginnen. Dürfen so reif, so alt, so schön, so hinreißend sein, wie sie heute sind, statt in Rollenpanzern festzustecken, die ihnen längst zu klein geworden sind." Im Tagesspiegel nahm Sandra Luzina ein Bad in Melancholie. Für Michaela Schlagenwerth in der Berliner Zeitung zeigt das Stück, wie falsch der Rauswurf der Intendanten Adolphe Binder war. In der taz schreibt Astrid Kaminski.

Mit Milo Raus Dokumentarstück "Die Wiederholung" hat die Berliner Schaubühne ihre Saison eröffnet. Mit der Rekonstruktion eines Mordes einem belgischen Homosexuellen gelangt für Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung Raus Thesentheater an seinen Tiefpunkt, mit einer "erschreckend ignoranten Oberflächenbehandlung". Laut SZ-Kritikerin Mounia Meiborg tappt Rau voll in die Tarantino-Falle: "Irgendwie wirkt sie auch sexy, die Gewalt."

Besprochen werden Hermann Nitschs "Sinfonie für großes Orchester + Aktion" (die Christian Schachinger im Standard als "Blutorgie mit Tuba" würdigt), die Uraufführung von Lucy Kirkwoods "Moskitos" am Staatstheater Kassel (FR), Kornél Mundruczós Inszenierung von Hans Werner Henzes "Floß der Medusa" bei der Ruhrtriennale (FAZ) sowie Sam Mendes' und Ben Powers Inszenierung von Stefano Massinis "The Lehman Trilogy" am Londoner National Theatre ("auf allerhöchstem Niveau", wie Gina Thomas in der FAZ versichert).
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Literatur

In einem großen Überblick für den Standard folgt Sabine Scholl den Spuren, die migrantische Erfahrungen in der deutschsprachigen Literatur hinterlassen haben. Unter anderem beobachtet sie "eine Generation von Schriftstellern, für deren Aufwachsen der Jugoslawienkrieg prägend war und die diese Geschehnisse in die Wahrnehmung ihrer Leser trägt, wie die wortgewandte und aktivistische Jagoda Marinić oder Saša Stanišić, dessen Buch 'Wie der Soldat das Grammofon reparierte' aus der Sicht eines bosnischen Kindes über Krieg und Flucht berichtet. Auch er spricht vom produktiven Einfluss der Zweisprachigkeit auf sein Schreiben. Für die in Dalmatien aufgewachsene Marica Bodrožić geht sogar alles Denken über Orte und Zugehörigkeiten von den jeweiligen Sprachen selbst aus. Die Autorin kam als Zehnjährige nach Deutschland und empfindet es als Bereicherung, beim Schreiben mehrere komplexe Zeichensysteme zur Verfügung zu haben. Damit erschafft sie einen eigenständigen poetischen Kosmos, der sich von einem Vergleich zwischen Herkunfts- und Schreibsprache gelöst hat."

Für den Standard berichtet der Schriftsteller Mario Schlembach von seinem Aufenthalt in Thomas Bernhards Haus in Ottnang: "Die erste Nacht schlafe ich kaum. Gelsen, Hornissen, Spinnen: Ungeziefer befallen meinen erhitzten Körper."

Weitere Artikel: In der NZZ führt Beatrice von Matt durch die Welt der Diplomatenliteratur. In der FAZ berichtet Thomas David von seinem Treffen mit dem Schriftsteller László Krasznahorkai, der verspricht, dass sein Ende September auf Deutsch erscheinender Roman "Baron Wenckheims Rückkehr" sein "erster humorvoller Roman" sei. Cornelia Geißler reist für die FR mit Lukas Rietzschel nach Görlitz, über das der junge Schriftsteller ein Buch geschrieben hat (fotografische Eindrücke von der Reise gibt es im Ullstein-Blog). Der WDR hat die 26 Folgen der von den Feuilletons bereits begeistert angekündigten Hörspieladaption von Hilary Mantels Roman "Brüder" online gestellt.

Besprochen werden Helene Hegemanns "Bungalow" (Standard), Flix' in der DDR spielender Spirou-Comic (SZ), Mana Neyestanis Comic "Die Spinne von Maschhad" (taz), Ursula Krechels "Geisterbahn" (Tagesspiegel), Erika Thomallas Studie "Die Erfindung des Dichterbundes. Die Medienpraktiken des Göttinger Hains" (Freitag), Toni Morrisons Essayband "Die Herkunft der Anderen: Über Rasse, Rassismus und Literatur" (Freitag), Patrisse Khan-Cullors' "#BlackLivesMatter. Eine Geschichte vom Überleben" (Freitag), Luce d'Eramos "Der Umweg" (Freitag), Michael Kumpfmüllers "Tage mit Ora" (Tagesspiegel), Stephen Parkers Brecht-Biografie (FR), Hannah Höchs Adressbuch "Mir die Welt geweitet" (Tagesspiegel), Ruska Jorjolianis "Du bist in einer Luft mit mir" (FR), Wolf Wondratscheks "Selbstbild mit russischem Klavier" (online nachgereicht von der FAZ) und neue Krimis, darunter Alan Parks' Debüt "Blutiger Januar" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Marleen Stoessel über Diana Kempffs "In den Niederungen":

"In den Niederungen
als frostig der herüberwehende Wind
..."
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Architektur

Gabriele Detterer ist eine große Liebhaberin des Genueser Pragmatismus, und zeigt sich deshalb in der NZZ auch begeistert vom Angebot des Architekten Renzo Piano, der Stadt nach der Tragödie eine neue Brücke zu bauen: "Nicht zuletzt das politische Amt des 2013 zum Mitglied des Römer Senats auf Lebenszeit ernannten Architekten lässt ihn nicht blindlings vorpreschen.  Die Brückenbauidee tituliert er nicht als Projekt, sondern als unentgeltliches Hilfsangebot für die Stadt, deren fragiler Körper sich auf brutale Weise offenbarte. Die Initiative von Renzo Piano verdeutlicht einmal mehr, dass die Erfolgsgeschichte seiner weltweit realisierten, aufsehenerregenden Bauten ihn nicht der Heimatstadt entfremdet hat - im Gegenteil: Nichts spektakulär in die Höhe Gebautes, sondern die Umwandlung des alten Industriehafens in ein attraktives Freizeitareal mit Kulturbauten wurde zum bedeutendsten baulichen Zeichen, das der Architekt und sein Genueser Studio RPBW bisher in der ligurischen Hauptstadt setzen konnten."

Als einen der "lustvollsten Stadträume Europas" feiert Wojciech Cjaja das neue Museum Amos Rex in Helsinki.
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Musik

Christian Wildhagen schließt sich beim Luzern Festival seinen begeisterten Berliner Kollegen an, was das Zusammenspiel der Berliner Philharmoniker mit ihrem künftigen Leiter Kirill Petrenko betrifft: Der Dirigent geht nämlich im Nu "aufs Ganze - von Berührungsängsten keine Spur. Und auch die Berliner verschanzen sich nicht etwa in abwartender Zurückhaltung; sie machen ihrem künftigen Chef, im Gegenteil, eine regelrechte 'Liebeserklärung', indem sie so engagiert, ja regelrecht euphorisiert spielen, als fühlten sie sich kollektiv befreit vom Druck der Rattle-Jahre. Das führt im ersten Konzert zu einer Wiedergabe von Beethovens Siebter, die förmlich birst vor Energie und Dynamik."

Weitere Artikel: In der Austropop-Reihe des Standard befasst sich Karl Fluch mit Rainhard Fendrich. Ueli Bernays schreibt in der NZZ zum Tod des Jazzmusikers Randy Weston. Und für Pitchfork hat Stephen Thomas Erlewine das Debüt von The Band nochmal aus dem Schrank geholt.

Besprochen werden der Auftakt des Berliner Musikfests, bei dem Pierre Boulez' "Rituel" und Igor Strawinskys "Sacre du printemps" gespielt wurden (taz, Tagesspiegel), Helena Hauffs Album "Qualm" (Zeit), Anna Calvis "Hunter" (Spex, Tagesspiegel), ein Konzert des Jazzpianisten Omer Klein (FR) und das neue Clueso-Album (FR). In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Philipp Krohn über "Such a Shame" von Talk Talk.

Archiv: Musik