Efeu - Die Kulturrundschau

Bis die Quinte ihr Machtwort spricht

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04.09.2018. Die SZ blickt geschockt nach Rio de Janeiro, wo ein Brand das bedeutendste ethnologische Museum Lateinamerikas zerstörte. Kleinlich nationalistisch nennt die NZZ Forderungen, die Kunst wieder nach kultureller Zugehörigkeit zu sortieren. Die FAZ erkennt mit Balthus die Tragödie des Anti-Avantgardisten. Die taz beobachtet, wie die Mode die Kunst vereinnahmt. Die FR erkundet in Venedig eine große Filmruine.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.09.2018 finden Sie hier

Film

Archetypen der Fronier: Joaquin Phoenix und John C. Reilly sind die "Sisters Brothers"
Mit dem Goldgräber-Western "The Sisters Brothers" hat Jacques Audiard seinen ersten amerikanischen Film gedreht, der mit John C. Reilly, Joaquin Phoenix und Jake Gyllenhaal sehr vorweisbar besetzt ist. Jetzt hatte der Film in Venedig Premiere: Insbesondere "Ironie und Witz" des Films sind es, die SZ-Kritiker Thomas Steinfeld an dem Film begeistern. Lutz Meier, der für den Perlentaucher vor Ort ist, fragt sich prinzipiell, warum der Western mit einem Mal wieder so prominent bei den Festivals vertreten ist: Schließlich lief zuvor schon ein Western der Coen-Brüder. Allerdings lässt es Audiard an der "präzisen Unterschwelligkeit" der Coens mangeln: "Auch das elegante Spiel mit den Stimmungen vermisst man im Vergleich. Es ist eine schnörkellose Western-Geschichte, die ihre Spannung aus den Beziehungen ihrer Hauptfiguren zieht." Dominik Kamalzadeh hingegen staunt im Standard, "wie geschmeidig der Film den Archetypen der Frontier einen Dreh verleiht. Die Brüder Sisters sind fiese Schurken, keine Frage, aber der Film bricht deren harte Schale allmählich auf."

Um Orson Welles' nie fertiggestellte New-Hollywood-Parodie "The Other Side of the Wind" zählt zu den großen Legenden der Filmgeschichte (hier in der Magazinrundschau brachten wir bereits Näheres). Jetzt hatte der Film nach über 40 Jahren und komplettiert von Netflix in Venedig Premiere, welche laut FR-Kritiker Daniel Kothenschulte allerdings "eher glanzlos" ausfiel: Problematisch "ist der Spagat zwischen Selbstironie und Selbstverliebtheit", der Welles einfach nicht glücken wollte. "Endlose Partyszenen, eine muffige Eifersuchtsgeschichte (Lili Palmer hat einen Kurzauftritt als Ehefrau) und Michel Legrands uferlose Filmmusik und überflüssige digitale Effekte zeigen diese große Filmruine 'The Other Side of the Wind' nicht von ihrer besten Seite. Dennoch kann man froh sein, dass die über tausend Filmrollen endlich das Pariser Depot verlassen konnten. Vielleicht findet sich ja wirklich nochmal ein Filmgenie, das etwas daraus macht. Oder sollen wir gar Netflix, Hollywoods Lieblingsfeind, die Schuld geben?" Hier einige Eindrücke aus dem Film:



Weiteres vom Fest: Rüdiger Suchsland berichtet für Artechock vom Festvial und bemerkt dort eine Tendenz, sich wieder den 70ern zuzuwenden. Und Tazler Tim Caspar Boehme hat derweil viel Freude an den ersten zwei in Venedig gezeigten Episoden der Serienadaption von Elena Ferrantes Romanzyklus "Meine geniale Freundin".

Derweil zuhause: Jana Hensel kann sich in der Zeit den allgemeinen Begeisterungen für Andreas Dresens "Gundermann" und Annekatrin Hendels "Familie Brasch" - beides Filme über die Geschichte der DDR - nicht ohne weiteres anschließen: Die Filme wirken "in sich verkapselt und wie stillgefroren in einer längst vergangenen Zeit. Beide weichen den sich aus ihren jeweiligen Stoffen ergebenden, tiefer liegenden Fragen leider aus." Dresen etwa jener danach, warum Gundermann überhaupt Stasi-Mitarbeiter wurde, und Hendel wiederum lässt die Frage nach der jüdischen Remigration in die DDR im Falle der Familie Brasch unbeantwortet: "Wirklich weit eindringen in ihre Stoffe wollen beide nicht, sie verharren in einem eher konventionellen Blick auf die Vergangenheit."
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Kunst

In Rio de Janeiro ist in der Nacht zu Montag das Museum für Natur und Ethnologie abgebrannt, das größte seiner Art in Lateinamerika. In der SZ versucht Boris Hermann, den Verlust für das geschockte Brasilien zu ermessen: "Das Haus beherbergte eine geologische, botanische, paläontologische und archäologische Sammlung. Zu seinen bedeutendsten Stücken gehörten die Knochen von Luzia, einem der ältesten menschlichen Fossile, das jemals auf dem amerikanischen Kontinent gefunden wurde. Luzias Alter wurde auf 11 500 bis 13 000 Jahre geschätzt. Seit ihrer Entdeckung 1975 geht die Anthropologie davon aus, dass die sogenannte Neue Welt deutlich älter ist, als lange angenommen wurde. Zu den Attraktionen des Nationalmuseums zählten außerdem einige der ältesten Dinosaurierfossilien des Kontinents, darunter das einzige bekannte Skelett eines Maxakalisaurus. Man könnte diese Liste lange fortführen, von der wichtigsten Sammlung indigener Kunst und Kultur Brasiliens, über die größten anthropologische Bibliothek des Landes bis hin zu ägyptischen Mumien, griechischen Statuen und etruskischen Artefakten."

Bei gerauberter Kunst muss die Provenienzforschung natürlich prüfen, ob, wem und wie sie zurückgegeben werden muss, meint Philipp Meier in der NZZ, ansonsten hält er jedoch wenig von Forderungen nach Rückgaben gemäß kultureller Reinheitsgebote: "Kunst ist von universeller Bedeutung. Und weil dies so ist, kann sie auch überall auf der Welt Genuss und Wertschätzung erfahren", meint er: "Oder wäre es doch besser, zu fordern: 'Afrikanische Kunst den Afrikanern', 'Chinesische Kunst den Chinesen' und 'Schweizer Kunst den Schweizern'? Wer die Rückführung von Kunst im großen Stil fordert, denkt kleinlich nationalistisch. Und wer so denkt, wird in der Konsequenz wohl auch Menschen dorthin zurückführen wollen, wo er glaubt, dass sie hinzugehören haben."

Weiteres: Anlässlich der großen Balthus-Retrospektive in der Fondation Beyeler verteidigt Andreas Kilb den Maler gegen Moralisten und Sittenwächter, macht aber auch deutlich, dass die Lust am Skandal an Grenzen führt: "Die Tragödie des Anti-Avantgardisten Balthus besteht darin, dass seine Provokation, wie die seiner Gegner, auf Dauer zur Pose erstarrt." Seufzend verfolgt der Historiker Volker Reinhardt in der NZZ, wie alle Welt Leonardo da Vinci für sich oder seine Disziplin vereinnahmt. Dabei war er ein Underdog, geprägt vom Willen zur Andersartigkeit: "Leonardo machte alles gegen den Strich, gegen alle Konventionen, Regeln, Erwartungshaltungen und Dogmen." Eva-Christina Meier stellt in der taz das Netzwerk "Artist at risk" vor, das Residenzen für verfolgte Künstler vergibt.

Besprochen werden die Ausstellung zum "Berlin Art Prize" in den Räumen von The Shelf (taz) und Arbeiten der Fotografin Loredana Nemes in der Berlinischen Galerie (Berliner Zeitung).
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Bühne

Besprochen werden Luise Voigts Adaption von George Orwells "1984" am Staatstheater Oldenbourg (Nachtkritik), James Goldmans "The Lion in Winter" im English Theatre in Frankfurt (FR), ein Abend mit She She Pop im Frankfurter Mousonturm (FR), Milo Raus Dokustück "Die Wiederholung" an der Berliner Schaubühne (Tagesspiegel, Nachtkritik, FAZ), Albert Camus' "Caligula" in einer Fassung von John von Düffel mit Ben Becker am Landestheater Salzburg (Standard, SZ).
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Literatur

Beim Auftakt seiner Stadtschreiberschaft in Bergen hat Schriftsteller Clemens Meyer das Publikum enorm begeistert, berichtet Swantje Kubillus in der FR. Bernhard Schulz hat für den Tagesspiegel eine Veranstaltung besucht, bei der Daniel Kehlmann, Andrea Wulf und Rüdiger Schaper über Alexander von Humboldt diskutierten. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus dem Buchgestalter Franz Greno zum 70. Geburtstag. Außerdem bringt die FAZ Daniel Kehlmanns Dankesrede zum Schirrmacher-Preis.

Besprochen werden Francesca Melandris "Alle, außer mir" (taz), Helene Hegemanns "Bungalow" (Freitag), Christoph Heins "Verwirrnis" (Standard), die Ausstellung "Das Jüdische an Mr. Bloom" in Zürich (Tagesspiegel), Ronald Webers Peter-Hacks-Biografie (Berliner Zeitung), Michael Lentz' "Schattenfroh" (Zeit), Amos Oz' Essays "Liebe Fanatiker. Drei Plädoyers" (NZZ), Burghart Klaußners Romandebüt "Vor dem Anfang" (Tagesspiegel), Matt Ruffs "Lovecraft Country" (SZ), Eckhart Nickels "Hysteria" (SZ) und Heinz Strunks Erzählband "Das Teemännchen" (FAZ).
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Design

In der taz hält Donna Schons nichts vom Kunstpurismus, aber wie die Mode immer stärker in den Kunstkontext drängt, findet sie doch befremdlich, wie etwa bei einer Performance in Palermo, für die die Künstlerin von Balenciaga ausgestattet wurde: "Es erinnert ein wenig an die Praxis von Luxusmarken wie Prada und Louis Vuitton, pompöse Kunstsammlungen zu eröffnen und so kulturelles Kapital zu gewinnen. Dem Idealbild einer autonomen Kunst, die anders als Modelabels keiner ökonomischen Logik folgt, entspricht jenes Bild nicht. Als ich mich mit einem Freund nach der Performance darüber unterhalte, zuckt dieser mit den Schultern: 'Ich habe gar nicht erkannt, dass ihre Kleidung von Balenciaga ist'. Damit bringt er das Designkonzept von Balenciaga unter dem aktuellen Creative Director Demna Gvasalia auf den Punkt: Es ist eine konzeptionelle Form des Modedesigns, die maßgeblich auf einem Eingeweihtsein basiert. Gvasalia appropriiert Bernie Sanders' Wahlkampflogo und druckt es auf Hoodies und überdimensionale Daunenschals, näht ein Hemd an die Vorderseite eines T-Shirts und verkauft das Resultat für 1.290 Dollar. Und fertigt eine Lederkopie der ikonischen blauen Ikea-Einkaufstasche, die noch mal fast das Doppelte des Shirts kostet."

Annabelle Hirsch bespricht in der taz Terry Newmans Coffee-Table-Book über den Kleidungsstil legendärer Autoren (hier eine Leseprobe).
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Musik

Auf "hohem künstlerischen Niveau" wurden am Wochenende beim Lucerne Festival zwei Stockhausen-Kompositionen aus den siebziger Jahren aufgeführt, bei denen sich, wie Jürg Huber berichtet, die Frage danach stellte, ob Musik sich aufs ästhetische Ereignis des bloßen Klangs reduzieren lässt oder metaphysische Fragen nach der Religion dringlich werden. Zumindest für den Connaisseur ging der Abend allerdings gut aus, erfahren wir: Das Stück "Inori" entwickelte eine "mitunter soghafter Wirkung", in "Mantra" gab es "meditative Passagen und traumverlorene Nachtmusiken von irisierender Schönheit zu hören. ... Doch ist es auch eine eminent pianistisch gedachte Musik mit Lust an Virtuosität und manchmal etwas altbackenem musikalischem Humor, wenn sich Pianist und Pianistin mit kleinen Sexten duellieren, bis die Quinte ihr Machtwort spricht."

Weiteres: Für die NZZ hat Marco Frei am Rande des Lucerne Festivals ein Seminar bei Wolfgang Rihm besucht. Alexandra Föderl-Schmid meldet in der SZ, dass ein öffentlich-rechtlicher Sender in Israel erstmals Wagner gespielt hat und sich nach zahlreichen Hörer-Reaktionen dafür entschuldigt hat. FAZ-Kritiker Patrick Bahners philosophiert beim Besuch des Beethovenfests in Bonn über historische Aufführungspraxis. Wolfgang Sandner schreibt in der FAZ zum Tod des Jazzpianisten Randy Weston.

Besprochen werden das Abschlusskonzert des Rheingau Musikfestivals mit Yannick Nézet-Séguin und seinen Rotterdamer Philharmonikern (FR) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine Bach-Aufnahme von Vikingur Olafsson, der laut SZ-Kritiker Helmut Mauró "auch für die spielt, die in spröder Trägheit gefangen ihr tristes intellektuelles Dasein führen."
Archiv: Musik