Efeu - Die Kulturrundschau

Die Bürde des Werdens

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06.09.2018. Im Tagesspiegel kann Florian Henckel von Donnersmarck auch nicht erklären, warum er in "Werk ohne Autor" Gaskammerszenen mit Bildern von der Bombardierung Dresdens gegengeschnitten hat. Der Standard versucht mit Hilfe virtueller Realität sein Mitgefühlspotenzial zu steigern. Lasst Kinder lesen wie sie Lust haben, ermuntert in der FAZ die Kinderbuchautorin Frida Nilsson. Im Interview mit der neuen musikzeitung verspricht der neue Intendant der Semperoper Peter Theiler den Sachsen innovatives, verantwortungsvolles und zeitbezogenes Theater.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.09.2018 finden Sie hier

Film

Werk ohne Autor oder Autor ohne Werk?


In Venedig verdauen die Kritiker noch immer Florian Henckel von Donnersmarcks "Werk ohne Autor", eine Art inoffizielle Gerhard-Richter-Biografie (mehr dazu im gestrigen Efeu). Christiane Peitz reibt sich im Tagesspiegel sehr an der "kunstgewerblichen Heldenästhetik" des Films, die sie an die Ästhetik des Totalitarismus erinnert, und daran, dass die von Paula Beer gespielte weibliche Hauptfigur im letzten Akt vor allem nackt auftritt. Auf Peitz' entsprechende Nachfragen bei der Pressekonferenz - auch etwa danach, warum in dem Film Gaskammerszenen mit alliierten Bombenangriffen auf Dresden in einer Parallelmontage zu sehen sind - reagierte der Regisseur erst mit einem Gag, dann sprachlos, schließlich wirr stammelnd (zu besichtigen hier ab etwa 01:51:30). Peitz' Kollege Andreas Busche verzweifelt darüber, dass der Film nun auch für den Oscar ins Rennen geht: Dies "wird das Vorurteil bestätigen, dass aus Deutschland allenfalls restauratives Geschichtskino kommt. Von 'Toni Erdmann' zu 'Werk ohne Autor': Das deutsche Kino steht wieder am Anfang."

In der FR winkt Daniel Kothenschulte müde ab: "Kunst ist im Kino schon oft missverstanden worden, aber selten so gründlich." Auf "ein Übermaß an Subtilität" ist in diesem Film nicht zu hoffen, hält Zeit-Rezensent Hanno Rauterberg fest: "Man merkt, es geht ihm nicht um Geschichte, er benutzt sie nur. So wie er auch seine Figuren benutzt, die nicht als Subjekte ihres Lebens auftreten, eher schon wie Objekte einer Demonstration."

Heilig und nüchtern: Carlos Reygadas' Western "Nuestro Tiempo" (Bild: Match Factory)

Außerdem vom Lido: Ziemlich hingerissen ist FAZ-Kritiker Dietmar Dath von Carlos Reygadas' "Nuestro Tiempo", der von allen in Venedig gezeigten Western sein liebster ist: Dieser "Ewigkeitswestern ... schaut dem Land beim Einschlafen und Aufwachen zu wie den Menschen beim Weinen und den Tieren beim Sterben, ohne seine heilige Nüchternheit zu verlieren." Tazler Tim Caspar Boehme lobt die "Stimmung des Unbehagens" in Brady Corbets Drama "Vox Lux", in dem Natalie Portman auf "wirklich tolle" Weise einen tragischen Popstar spielt. Und SZ-Kritiker Thomas Steinfeld berichtet von Alexander Kluges Präsentation seines neuen Films "Happy Lamento", der in einer Nebenreihe läuft.

Weitere Artikel: New Filmkritik dokumentiert Stefan Ripplingers zuvor beim Neuen Deutschland erschienenes Gespräch mit Kurator Hannes Brühwiler über dessen im Berliner Kino Arsenal gezeigte Reihe über Hollywoods Schwarze Liste. In der taz empfiehlt Ekkehard Knörer den morgen Abend im Berliner Zeughauskino gezeigten Film "Am Ama Am Amazonas" des Ulmer Kollektivs Epplwoi Movie Productions. Besprochen werden Aaron Katz' auf Heimmeiden erscheinender "Gemini", der laut Perlentaucher Lukas Foerster die Mumblecore-Ästhetik und den Neo(n)-Noir zu etwas "endgültig Neuem" verschaltet, Albert Hughes' in der Steinzeit angesiedelter Coming-of-Age-Film "Alpha" (Perlentaucher, SZ), Joshua Z Weinsteins auf Jiddisch gedrehter Film "Menashe" (taz, Tagesspiegel), Arnaud Desplechins "Les Fantômes d'Ismaël" (Standard), Aron Lehmanns "Das schönste Mädchen der Welt" (NZZ) und Erik Poppes "Utøya 22. Juli" (NZZ, Welt, unsere Berlinale-Kritik hier).
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Kunst

Anlässlich der Ars Electronica, die heute in Wien eröffnet wird, informiert Roman Gerold im Standard über den neuesten Stand der Virtual Reality in der Kunst. Darunter gibt es Beispiele, die einen bei aller Gutgemeintheit ganz schön frösteln lassen, etwa der VR-Film "Carne y Arena" des Filmregisseurs Alejandro González Iñárritu: "Die Installation - angesiedelt in einem Raum, dessen Boden mit Sand bedeckt ist, um das Erlebnis zu verstärken - macht das Publikum zum Teil einer mexikanischen Flüchtlingsgruppe. Betrachter sehen sich einer Begegnung mit der US-Grenzpolizei ausgesetzt, die Soldaten zielen mit Pistolen auf den User, schreien ihn an. Diejenigen, die die gerade einmal siebenminütige Produktion erlebt haben, beschreiben sie als überaus eindringlich. 2017 wurde 'Carne y Arena' in Cannes präsentiert, später mit einem Spezial-Oscar ausgezeichnet. Er wolle eines der ältesten Probleme der Menschheit mit der neuesten Technologie ansprechen, sagt Iñárritu. Tatsächlich besteht eine wesentliche Hoffnung der VR-begeisterten Künstler darin, dass sie neue Mitgefühlspotenziale freisetzen können."

Hier ein Eindruck:



Besprochen werden die Ausstellung "Continuum" mit Werken von Roman Opalka, Jaroslaw Kozlowski und den Schwestern Schmidt Heins in der Berliner Galerie Zak/Branicka (Tagesspiegel), die Ausstellung "Im Japanfieber - Von Monet bis Manga" im Arp Museum Bahnhof Rolandseck (die den FR-Rezensenten Michael Kohler ziemlich enttäuscht hat) sowie zwei Londoner Ausstellungen zur Geschichte schwarzer MigrantInnen in Großbritannien - "Windrush: Songs in a Strange Land" in der British Library und "Black Sound" im Bernie Grants Art Centre (taz).
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Literatur

Cornelia Geißler berichtet in der Berliner Zeitung vom Auftakt des Internationalen Literaturfestivals in Berlin, wo unter anderem auch der türkische Schriftsteller Murathan Mungan auftreten wird. Mit ihm hat sich Michael Angele für den Freitag unter anderem über die Rolle der Einsamkeit beim Schreiben und die Lage in der Türkei unterhalten: "Als ich fünf Jahre alt war, gab es den ersten Militärputsch. Mit 15 gab es einen weiteren Militärputsch, und als ich 25 war, gab es den letzten Militärputsch. Meine Bedenken haben sich in dieser Zeit verstärkt. Ich kann reinen Gewissens sagen, die Situation, in der sich die Türkei heute befindet, ist die schlimmste und schwierigste. Ich glaube aber nicht, dass sie lange anhalten wird. Kein Land hält so einen großen Druck auf lange Zeit aus. Ich hoffe, wir kommen mit dem geringsten Übel davon."
 
Kinderbuchautorin Frida Nilsson plädiert in der FAZ dafür, die Kinder doch nicht mit pädagogischen Lesemaßnahmen zu behelligen, auf dass aus dem Spross später auch was wird, sondern auch ihnen das Recht auf Lesen aus Spaß zuzubilligen: "Warum müssen Kinder immer die Bürde des Werdens mit sich herumtragen?"

Weitere Artikel: In der Londoner Royal Festival Hall hat Bestsellerautor Khaled Hosseini sein neues Buch vor geradezu verliebtem Publikum präsentiert, berichtet Cathrin Kahlweit in der SZ. In einer online nachgereichten FAS-Kolumne meditiert die Schriftstellerin Katja Petrowskaja über ein auf dem Flohmarkt gefundenes Foto, das während der Wendezeit entstanden sein muss. Stefan Gmünder meldet im Standard die "erwartbare" Longlist zum Österreichischen Buchpreis.

Besprochen werden unter anderem Christoph Heins "Verwirrnis" (FR), Natascha Wodins "Irgendwo in diesem Dunkel" (Tagesspiegel), Susanne Fritz' "Wie kommt der Krieg ins Kind" (taz), Paolo Bacilieris Comic "Fun" (Welt), Luce d'Eramos "Der Umweg" (FR), Michal Hvoreckys "Troll" (Standard), Christian Torklers Romandebüt "Der Platz an der Sonne" (SZ) und Michael Lentz' Schattenfroh" (FAZ).
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Bühne

Der neue Intendant der Semperoper in Dresden, der Schweizer Peter Theiler, erklärt im Interview mit der neuen musikzeitung, was die Sachsen erwartet: "Dresden braucht ein innovatives, verantwortungsvolles und zeitbezogenes Theater, das Stellung zu den Problemen unserer Gegenwart nimmt, das heißt, auch zu zwischenmenschlichen Fragen und gesellschaftlichem Umgang miteinander. ... Ich bin ein politisch denkender Theatermacher, der der Ansicht ist, dass das Theater sowie jede Art von künstlerischer Äußerung immer Position zu Zeitfragen bezieht. Das zeichnet ja gerade die Qualität des deutschsprachigen Theaters aus, dass es spätestens seit der Aufklärung zu Lessings Zeiten aktuell auf gesellschafts- und kulturpolitische Situationen reagiert. Das muss man gar nicht explizit als politisches Theater apostrophieren."

Weiteres: Katja Baigger stellt in der NZZ die Theatermacherinnen Ursina Greuel und Tamaris Meyer vor, die neuen Leiterinnen des Sogar-Theaters in Zürich. Besprochen werden der Band "Alfred Matusche und Lothar Trolle. Grenzgänger des DDR-Theaters" von Julia Lind (nachtkritik), Paul Abrahams Operette "Ball im Savoy" im Theater Lübeck (nmz)
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Musik

Für die taz plaudert Jan Paersch mit Pianist Chilly Gonzales, der unter anderem verrät, warum er seine Konzerte so oft im Morgenmantel absolviert: "Ich habe keine Lust auf Kostümwechsel, will aber auch nicht nur im T-Shirt auf die Bühne. Ich brauche eine Superhelden-Uniform. Besser: Superbösewicht-Uniform. Bademantel überwerfen, Haare nach hinten gelen, fertig ist die Laube. Die Bartlänge ist egal. Der Bademantel transformiert mich, egal, wie ich aussehe. Dann schaue ich in den Spiegel, und zurück blickt Chilly Gonzales: 'Hello, Asshole'."



Besprochen werden Eric Friedlers Dokumentarfilm "It Must Schwing" über die Geschichte von Blue Note Records (Berliner Zeitung), ein Auftritt der Wooden Shjips (Tagesspiegel), ein Frankfurter Brahms-Abend mit Emanuel Ax, Leonidas Kavakos und Yo-Yo Ma (FR) und die Aufführung von Karlheinz Stockhausens "Inori" in Luzern (SZ).
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