Efeu - Die Kulturrundschau

Sie denkt so wütig

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10.09.2018. Zum Abschluss der Filmfestspiele von Venedig wurde der Goldene Löwen an Alfonso Cuaróns "Roma" vergeben. Die FR feiert die Qualität des Festivals, der Standard fürchtet jedoch nach diesem Erfolg für Netflix eine Neukalibrierung der Branche. Nachtkritik und SZ feiern zum Saisonauftakt am Deutschen Theater in Berlin mit René Pollesch eine tolle Pyjama-Party. Die SZ erlebt in Peking, wie Theater aufrütteln kann. Und die Jungle World berichtet,  wie sich Techno-Clubs in Georgien vor homophoben Übergriffen schützen müssen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.09.2018 finden Sie hier

Film

Ausspannen nach dem Festival: Szene aus Alfonso Cuaróns "Roma"

Zur allgemeinen Zufriedenheit wurden die Filmfestspiele von Venedig am Wochenende mit einem Goldenen Löwen für "Roma" beschlossen, Alfonso Cuaróns von der Kritik gefeierte, persönliche Auseinandersetzung mit dem Mexiko seiner Kindheit in den 70ern (alle Auszeichnungen hier im Überblick). Zwar ist der Film, anders als viele behaupten, keine genuine Netflix-Produktion, doch hat sich der Streamer frühzeitig die Vertriebsrechte daran gesichert. Ins Kino wird der Film wohl dennoch kommen - alles andere wäre angesichts dieser "raumtiefenbetonten Schwarz-Weiß-Bilder" sinnlich ein herber Verlust, schreibt Tim Caspar Boehme in der taz.

Gerade dieser Kinostart ist Susan Vahabzadeh und Thomas Steinfeld in ihrer Abschlussbetrachtung in der SZ ein Dorn im Auge: Zwar drängen die großen Streamer auch ins Kino, doch "verdienen sie ihr Geld anderswo. Und die Festival-Einreichungen sind da nur Prestigeobjekte, wenn sie sich nicht rechnen, macht das nichts. ... Schon jetzt klagen Verleiher, dass die Gewinne, die mit Filmen erzielt werden, zwar sinken, die Rechte aber immer teurer werden. Wer sein Geld tatsächlich mit Kino verdient, kann sich das nicht leisten." Im Standard ist sich Dominik Kamalzadeh derweil sicher: Diese Auszeichnung "wird die Funktion von Filmfestivals neu kalibrieren. Sie werden Streaming-Plattformen so lange mitberücksichtigen müssen, wie diese Autorenfilme produzieren."

Um die Kunst immerhin steht es erstmal gut: Was für ein Jahrgang, was für eine wunderbare Spätlese, jubelt Daniel Kothenschulte begeistert in der FR: "Selten war ein Wettbewerb so voller guter Filme, und auch in den Nebenreihen gab es Meisterwerke." Was allerdings auch einen besonderen Schatten auf die Tatsache wirft, dass mit Jennifer Kents "The Nightingale" nur ein einziger Film einer Frau ins Rennen um den Löwen ging: Dabei wäre Mary Harrons Charles-Manson-Film "Charlie Says", in eine Nebensektion verbannt, ohne weiteres wettbewerbstauglich gewesen, schreibt Kothenschulte. Andreas Busche pflichtet ihm im Tagesspiegel bei und ärgert sich, dass das Festival in Sachen Geschlechterparität den "Gestaltungsrahmen eher nachlässig genutzt" hat. Bei allem geteilten Ärger findet es Dietmar Dath in der FAZ allerdings auch beachtlich, dass es den Männern im Wettbewerb immerhin geglückt ist, auffällig viele vielschichtige Frauenfiguren auf die Leinwand zu bringen. Und Rüdiger Suchsland präsentiert auf Artechock mit Laszlo Nemes' "Sunset" ein spätes Fundstück aus Venedig.

Weitere Artikel: Für die FAS hat Peter Körte mit Susanne Wolff über ihre Rolle in Wolfgang Fischers Film "Styx" gesprochen, in dem sie eine Seglerin spielt, die nach einem Sturm und einer Begegnung mit einem Flüchtlingsboot in ein moralisches Dilemma gerät. Matthias Kolb berichtet in der SZ über die Weltpremiere von Michael Moores Anti-Trump-Film "Fahrenheit 11/9" in Toronto, in dem der Dokumentarfilmemacher auch energisch mit den Demokraten abrechnet.

Besprochen werden Stefan Bohuns Dokumentarfilm "Bruder Jakob, schläfst du noch?" (Standard), die kroatische Netflix-Serie "The Paper" (FR), Andreas Dresens "Gundermann" (NZZ) und neue Heimmedien-Veröffentlichungen, darunter Peter Solans "Der Boxer und der Tod" von 1962 mit Manfred Krug in der Hauptrolle (SZ, unsere ausführliche Kritik hier).
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Bühne

"Gechillt und dagegen": Sophie Rois und Schuspielstudentinnen in René Polleschs "Cry Baby" am DT. Foto: Arno Declair

Großartig findet Peter Laudenbach in der SZ die Pyjama-Party, mit der René Pollesch die neue Saison am gediegenen Deutsche Theater eröffnet - mit einer Sophie Rois, die unermüdlich gegen das ehrgeizige Pack und den Zwang zur Wachheit wettert, und mit einem fantastischen Chor: "Die knallbunten Pop-Seidenpyjamas (Kostüme: Tabea Braun) sehen so toll aus, dass man sich in seiner Tagesbekleidung im Zuschauerraum sofort albern vorkommt." In der Nachtkritik wundert sich Gabi Hift zwar über die politisch entspannte Botschaft des Stückes, kürt aber Sophie Rois, die mit Grandezza die Diva, den Prinz von Homburg und eine Beckett-Figur zugleich gibt, zur Königin aller Clowns: "Jeder Satz entspricht einer erkennbaren Absicht, sie denkt so wütig, dass man das Hirn in Schwaden rauchen sieht, und ist dabei immer zuversichtlich."

Kai Strittmatter erzählt bewegt von dem kleinen Aufruhr, den die Berliner Schaubühne mit Ibsens "Volksfeind" in Peking auslöste. Kaum hatte Badearzt Dr. Stockmann das hineingeschmuggelte antikapitalistische Manifest "Der kommende Aufstand" verlesen, war im Zuschauerraum der Teufel los: "15 Minuten lang riefen die Zuschauer die Gründe für ihre Sympathie mit der Hauptfigur zur Bühne hoch. 'Weil wir für die Redefreiheit sind'. 'Weil Chinas Medien auch nicht die Wahrheit sprechen.' 'Weil unsere Regierung hier genauso verantwortungslos handelt'."

Besprochen werden Herbert Fritschs prächtig ausgestattete Inszenierung von Mozarts "Così fan tutte" an der Hamburger Oper (Welt, FAZ), Klaus von Heydenabers Oper "Im Amt für Todesangelegenheiten" am Luzerner Theater (NZZ), Anna Badoras "Kaufmann von Venedig" am Wiener Volkstheater (bei dem das Publikum seinen Shylock küren darf, was Ronald Pohl im Standard für einen gravierenden Fehler hält), der Saisonauftakt am Schauspiel Frankfurt (bei dem Ewald Palmetshofers Stück "Räuber. Schuldenreich" laut FAZ-Kritiker Simon Strauß wieder gut machte, was mit Eugene O'Neills "Haarigem Affen" vergeigt worden war), von Ewald Palmetshofers Hauptmann-Adaption "Vor Sonnenaufgang" bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen (Nachtkritik), Sharon Eyals Choreografie "Half Life" mit dem Berliner Staatsballet an der Komischen Oper (taz, Berliner Zeitung), Yael Ronens #MeToo- Stück "Yes But No" am Maxim Gorki in Berlin (Tagesspiegel) und weitere Premieren in Berlin (Berliner Zeitung).
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Kunst

Nagasawa Rosetsu: Drache, 1786, Detail aus einer Reihe von sechs Schiebetüren, Muryōji, Kushimoto. Bild: Museum Rietberg

Nach der NZZ feiert heute auch Donna Schons in der taz die große Schau über den japanischen Maler Nagasawa Rosetsu im Zürcher Museum Rietberg und betont, wie einzigartig nicht nur seine Tuschezeichnungen von Drachen, Tigern und Kranichen sind, sondern auch ihre Präsentation in Europa: "Die Werke aus dem Jahre 1786 zählen in Japan als wichtiges Kulturgut, ihre Ausfuhr ist kompliziert. Dem Züricher Museum Rietberg ist es nun erstmals gelungen, sie nach Europa zu holen. Da der Muryōji-Tempel an der Westküste Japans momentan renoviert wird, sind seine eindrucksvoll gestalteten Schiebetüren nun für acht Wochen im Museum für außereuropäische Kulturen zu sehen."

Im Guardian empfiehlt Laura Cumming die Schau "I Object", die Ian Hislop, der Chefredakteur des Satiremagazins "Private Eye" im British Museum kuratiert hat und bei der niemand auf die Idee kommen könne, Comedy mit der Kunst des Widerspruchs zu verwechseln: "At its best, scholarship and satire come together in this show to encourage and inspire. Who can forget the photocollage of two Iranian women in hijab fighting over the state dress controls, a man's bearded face shatteringly superimposed on both. The man being Ramin Haerizadeh, the brave artist himself."
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Literatur

Die Welt hat Richard Kämmerlings' großes Gespräch mit Philipp Weiss vom Wochenende online nachgereicht, der mit seinem fünfbändigen Menschheitsgeschichts-Epos "Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen" gerade auf über 1000 Seiten sein Romandebüt vorlegt hat. Chronologisch durcharbeiten müsse man diesen Ziegelstein allerdings nicht unbedingt, versichert der österreichische Schriftsteller: Er selbst lese "immer nur fragmentarisch, auszugsweise, sehr verstreut, erratisch, meistens Dutzende Bücher parallel... Man kann kreuz und quer lesen oder auch parallel. Und auch nur einen rauspicken. Wenn jeder Band für sich steht und seine eigene Welt und Perspektive entwickeln kann, kann jeder auch als Ausgangspunkt für die anderen dienen. Ich betrachte das Ganze eher als Netzwerk."

Weitere Artikel: Schriftsteller Iso Camartin singt im kulturhistorischen NZZ-Essay ein Loblied auf die Einbildungskraft, die uns "bedrängt, für alles Gesehene und Erfahrene jene innere Anschauungsform zu finden, die erlaubt, uns auf der Welt einigermaßen erträglich einzurichten." In Frankfurt hat Nino Haratischwili ihren neuen Roman "Die Katze und der General" vorgestellt, berichtet Andrea Pollmeier in der FR. Sebastian Borger berichtet in der FR von Khaled Hosseinis Präsentation seiner Erzählung "Am Abend vor dem Meer". Cornelia Geißler erkundigt sich in der Berliner Zeitung bei Schauspieler Burghart Klaußner, wie es dazu kam, dass er mit seinem Roman "Vor dem Anfang" jetzt auch literarisch debütierte. Im Feature für Dlf Kultur widmet sich Martin Hartwig den Brüdern Strugatzki.

Besprochen werden unter anderem Nora Krugs Comic "Heimat" (Tagesspiegel), Karen Duves "Fräulein Nettes kurzer Sommer" (Berliner Zeitung), Michael Köhlmeiers "Bruder und Schwester Lenobel" (Zeit), Thomas Machos kulturhistorische Studie "Das Leben nehmen: Suizid in der Moderne" (Standard), Anita Brookners jetzt ins Deutsche übertragenes Debüt "Ein Start ins Leben" von 1981 (FR) und Julia von Lucadous Debüt"Die Hochhausspringerin" (ZeitOnline).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans Christoph Buch über Jan Volker Röhnerts "Akzente":

"Ich wollte dir Goethe
am Handy zitieren
wie er die Hexameter
..."
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Musik

Musikwissenschaftler Victor Ravizza untersucht in der NZZ, welchen Einfluss Johannes Brahms' Reise nach Italien auf dessen Werk hatte, kommt dabei aber zu dem etwas enttäuschenden Ergebnis: "Musikalische Souvenirs waren nicht seine Sache ... Brahms verstand seine Aufgabe als Verfasser 'dauerhafter Musik', freilich auf der Basis des Bewusstseins ihrer eigenen Spätzeit. Italien konnte ihm zu alledem nichts beitragen."

Irene Eidinger und Thorsten Mense berichten in der Jungle World, mit welchen Maßnahmen sich Techno-Clubs in Georgien vor homophoben Übergriffen aus der Gesellschaft verschanzen: Wer rein will, "muss sich vorab mit Namen, Ausweisnummer und Facebook-Profil anmelden. Ein Mitarbeiter sichtet die Profile, bevor Einladungen verschickt werden, und Dutzende Türsteher, die mit ihren Quarzhandschuhen nicht sonderlich queer wirken, passen in der Nacht auf, dass nur die Eingeladenen den Club unter dem Fußballstadium Dinamo Arena betreten. Warum, weiß ein Gast Anfang 20 zu berichten: 'Da draußen ist Feindesland.' Lange Zeit galt Georgien als eines der homophobsten Länder des Ostens."

Weitere Artikel: Für die SZ hat sich Arne Reimer mit Saxofonist Wayne Shorter zum Gespräch über dessen neues, von einem dicken Comic flankierten Album "Emanon" getroffen. Nadine Lange berichtet im Tagesspiegel vom Berliner Lollapalooza-Festival. Und viel zu lang, um für den Efeu ausgewertet zu werden, aber definitiv ein Leckerbissen: Das Fischer-Verlagsblog Hundertvierzehn hat als Leseprobe aus Roger Willemsens für Oktober angekündigte Essaysammlung "Musik!" einen großen Aufsatz des Publizisten über John Coltrane online gestellt.

Besprochen werden ein Berliner Konzert der Münchner Philharmoniker unter Valery Gergiev, dem Bruckner an diesem Abend laut Udo Badelt im Tagesspiegel allzu "grob, plakativ und überlaut" gerät, wohingegen FAZ-Kritiker Gerald Felber der Aufführung immerhin eine "zeitlos wolkige Monumentalität" attestiert, Michael Wehmeyers Kino-Dokumentarfilm "Embryo - The Journey of Music and Peace", den tazler Thomas Mauch insbesondere all jenen ans Herz legt, "die gern mal langhaarigen Menschen beim Tanken zuschauen wollen", die dreiteilige Arte-Musikdokureihe "Musik in Zeiten von Krieg und Revolution" (FR), das neue Eminem-Album (FR), der Auftakt der Frankfurter Goethe-Festwoche, die einen Schwerpunkt auf das Verhältnis des Dichters zur Musik legt (FR), die neuen Alben von Paul Simon und Paul McCartney (Tagesspiegel) sowie weitere neue Musikveröffentlichungen, darunter eine umfangreiche Kollektion mit Aufnahmen der Sängerin Régine Crespin, worunter sich laut FAZ-Kritiker Jürgen Kesting mit Hugo Wolfs "Verschwiegene Liebe" auch eine "schwarze Perle" befindet:

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