Efeu - Die Kulturrundschau

Trivial und feminin

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11.09.2018. The Nation stellt zwei führende Figuren des Pariser Impressionismus vor: Mary Cassatt und Berthe Morisot. Der Tagesspiegel bringt einen Offenen Brief gegen Ilya Khrzhanovskys Mauer-Projekt. Auf Dazed kann Blood Orange gar nicht genug kulturelle Aneignung empfehlen. Die FAZ freut sich, dass das Berliner Staatsballett endlich internationalen Rang erreicht. Und der taz zeigt die Insolvenz des Stroemfeld Verlags, dass Verlage mehr öffentliche Unterstützung brauchen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.09.2018 finden Sie hier

Kunst

Marie Bracquemond, Sur la terrasse à Sèvres, 1880. Musée du Petit Palais, Geneva. Foto: Erich Lessing/Art Resource, NY


Barry Schwabsky hat für das amerikanische Magazin The Nation die von Laurence Madeline kuratierte Wanderausstellung "Women Artists in Paris, 1850-1900" besucht und einen frischen Blick auf die Phase des Impressionismus gewonnen, der sich von Paris aus in die ganze Welt verbreitete. Zu den besten Malerinnen der Zeit gehören für ihn Mary Cassatt und Berthe Morisot: "Es ist letztlich folgerichtig, dass unter den Künstlern an der Spitze des Impressionismus zwei Frauen stehen. Das ganze Bemühen der Impressionisten - ihre Ablehnung der schreienden Rhetorik der Historienmalerei und des Heldentums mythischer Protagonisten und die damit einhergehende Fokussierung auf den Alltag, den häuslichen Bereich sowie die Sphäre der Freizeit und der Unterhaltung - war es, als Erben Chardins den primären künstlerischen Blick auf Dinge zu verlagern, die bisher als trivial und feminin angesehen wurden."

In einem Offenen Brief wehren sich Lea Rosh, Wibke Bruhns, Michael Cullen und andere gegen den Plan des russischen Künstlers Ilya Khrzhanovsky, die Mauer als Kunstprojekt wieder aufzubauen, berichtet der Tagesspiegel und zitiert: "Menschen einer Stadt, die in wenigen Jahrzehnten zwei Diktaturen durchlitten haben, brauchen gar keine Belehrung darüber, was eine Diktatur bedeutet. Wir hatten sie ja schon. Die Herren, die sich dieses unselige Projekt ausgedacht haben, sollten sich bei Herrn Putin für den zu Hausarrest gezwungenen Serebennikow und den hungernden Sensow einsetzen und den inhaftierten Nawalny unterstützen. Dann können sie wahrscheinlich die Knasterfahrung am eigenem Leib erleben."

Außerdem: In Tokio lernt SZ-Kritiker Andrian Kreye, dass der in Europa so geschätzte und einflussreiche Künstler Katsushika Hokusai in Japan fast nur von Comicfans geschätzt wird. Besprochen werden die Ausstellung "What´s love got to do with it" der amerikanischen Künstlerin Lutz Bacher im wiedereröffneten Düsseldorfer K21 (FAZ, SZ) und Gregor Mayers Schiele-Biografie "Ich ewiges Kind" (NZZ).
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Literatur

In der taz beklagt Rudolf Walther die Insolvenz des Stroemfeld Verlags, mit der auch Peter Kurzecks zweiter Nachlassband und Klaus Theweleits dritter Pocahontas-Band auf der Strecke zu bleiben drohen: "Zu den Vorzeichen der alles andere als überraschenden Insolvenz gehört, dass öffentlichen Bibliotheken das Geld ausging für die teuren Werkausgaben und dem deutschen Verlagszweig - im Unterschied zum schweizerischen - die kontinuierliche Unterstützung durch öffentliche Gelder und Stiftungen wie bei der Basler Keller- und der Walser-Ausgabe versagt blieb."

Weiteres: Auf ZeitOnline erzählt die kurdisch-syrische Autorin Widad Nabi in einem so kurzen wie schockierenden Text, wie sie mit Ingeborg Bachmann nach einem Selbstmordversuch ins Leben zurückfand. In der Welt findet es der israelische Autor Assaf Gavron ganz richtig, dass es jetzt auch in Deutschland Computerspiele geben darf, in denen Hakenkreuze gezeigt werden. NZZ-Kritiker Christian Gasser betont, dass anspruchsvolle Graphic Novels vielleicht die mediale Aufmerksamkeit dominieren, die Comic-Branche jedoch von Serien-Klassikern wie Tintin, Asterix und Spirou lebt. NZZ-Kritikerin Stefana Sabin führt in das Werk des jiddsichen Schriftstellers Moische Kulbak ein, an den mehrere Neuausgaben erinnern. Gregor Dotzauer liest in seiner Tagesspiegel-Kolumne die Zeitschrift "Die Dritte Natur".

Besprochen werden Frederika Amalia Finkelsteins Roman "Überleben" (SZ), Henning Mankells Roman "Der Sprengmeister" (SZ), Gregor Mayers Schiele-Buch "Ich ewiges Kind" (NZZ), Juli Zehs Roman "Neujahr" (FR), Norbert Sachsers "Der Mensch im Tier" (FAZ) und Perry Andersons "Hegemonie" (FAZ).
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Bühne

Im weißrussischen Minsk haben orthodoxe Aktivisten eine Aufführung von Richard Strauss' Oper "Salome" verhindert, berichtet im Tagesspiegel Liudmila Kotlyarova. In einem Brief an den Präsidenten, die Staatsanwalt und die russisch-orthodoxe Kirche beklagten sich die Aktivisten über die Verletzung ihrer religiösen Gefühle. Und sie riefen "die Verantwortlichen dazu auf, 'korrigierende Anpassungen in der Staatsideologie und der Arbeit des Kulturministeriums vorzunehmen' und ähnliche 'Meisterwerke', die geistige Sicherheit und Einheit der Nation bedrohen, zu verbieten. Dem Brief legten sie eine 'kulturelle Studie' bei, in der die Oper als 'Blasphemie' bezeichnet wird ... Sie sprechen sogar von einer Straftat und fordern eine Bestrafung des Chefregisseurs Michail Pandzhavidze, da der Komponist Richard Strauß und Autor des Dramas Oscar Wilde schon längst tot sind." Die Aufführung wurde daraufhin abgesagt.

"Half Life"


Vollkommen hingerissen ist FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster von dem Ballettabend "Celis/Eyal" - nach den Choreografen Stijn Celis und Sharon Eyal benannt - dem ersten großen Abend des Staatsballetts Berlin unter der neuen Leitung von Johannes Öhmann: Sie sieht die Truppe auf dem Weg zu einem ganz neuen Format: "Natürlich waren das aufgrund des kurzen Vorlaufs keine Uraufführungen, sondern zwei in Schweden entstandene großartige zeitgenössische Ballette. Aber zwei auf unterschiedliche Weise radikale Stücke, brillant getanzt von einer nicht wiederzuerkennenden Truppe, beweisen gleichsam aus dem Stand, dass das neue Staatsballett, dessen Ko-Direktion Sasha Waltz ab 2019 übernimmt, internationale Geltung erringen kann. Endlich!"

Im Tagesspiegel ist Sandra Luzina nur halb zufrieden: "Celis Choreografie ist ein Leichtgewicht, zu unspektakulär für einen Neubeginn", meint sie. "Doch Öhman hat noch ein Ass im Ärmel. 'Half Life' von Sharon Eyal und ihrem Partner Gai Behar ist eine Extravaganza, wie gemacht für Berlin. Die dekadenten Kreaturen auf der Bühne bewegen sich monoton im Puls des Techno. Der druckvolle Sound stammt von dem Techno-DJ Ori Lichtik. Eyal, die zunächst Tänzerin und später Hauschoreografin bei der Batsheva Dance Company war, hat einen unverwechselbaren, betont manierierten Tanzstil entwickelt. Ihre Stücke kreisen um das Verhältnis von Kollektiv und Individuum."

Besprochen werden außerdem zwei Aufführungen bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen: Jette Steckels Inszenierung von Ewald Palmetshofers Neu-Dramatisierung des Gerhart-Hauptmann-Stücks "Vor Sonnenaufgang" (nachtkritik) und Dušan David Pařízeks Adaption von Christoph Heins Roman "Trutz" (nachtkritik), Rene Polleschs "Cry Baby" am Deutschen Theater Berlin (nachtkritik, FAZ), die Eröffnung der Theatersaison im Schauspiel Frankfurt mit Eugene O'Neills "Der haarige Affe" und Ewald Palmetshofers "Räuber. Schuldenreich" (FR), die Eröffnung der Saison am Berliner Gorki-Theater mit zwei Stücken im Radius der Metoo-Debatte: Yael Ronens Mitmachstück "Yes but no" und Suna Gürlers "You are not the hero of this story" (nachtkritik, SZ), Daniel Kehlmanns Flüchtlingsdrama "Die Reise der Verlorenen" am Wiener Theater in der Josefstadt (SZ), Joachim A. Langs Film "Mackie Messer" über Brechts Dreigroschenfilm (der nachtkritikerin Gabi Hift überhaupt nicht gefallen hat) und Péter Eötvös' Bühnenwerk "Try sestry" an der Oper Frankfurt ("Insgesamt ist es Dorothea Kirschbaum vorzüglich gelungen, die epochen- wie milieuspezifische unendliche Langeweile geradezu zum belebenden Moment zu machen, nicht zuletzt in turbulenten Simultan-Szenen ... Während Eötvös' Partitur sarkastisch karikierende Passagen und auratisch empfindsame Elemente im russischen Akkordeon-Timbre, schier magischen Klangverbindungen und geradezu Madrigal-Reminiszenzen in der Balance hielt", lobt FAZ-Kritiker Gerhard R. Koch).
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Film

Auf ZeitOnline feiert Oliver Kaever Debra Graniks Film "Leave no Trace", in dem die Regisseurin - wie schon in "Winter's Bone" - ein nüchternes Bild der amerikanischen Provinz zeigt: "Dennoch liegen dieser Geschichte eine unerwartete Solidarität und ein Gemeinsinn zugrunde, wie man sie in Trumps Amerika gerade an den hier gezeigten Orten womöglich nicht erwartet hätte." Sam Adams verteidigt auf Slate.fr Errol Morris' in Venedig und Toronto gezeigte Doku "American Dharma" gegen den Vorwurf, Steve Bannon eine Plattform zu bieten (Variety hatte den Film als "toothless bromance" bezeichnet).

Besprochen werden Wolfgang Fischers Film "Styx" über eine Ärztin, die bei einem Atlantiktörn auf ein Flüchtlingsboot trifft (Critic) und die auf Funk laufende queere Serie "Straight Family" (FAZ).
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Musik

Dev Hynes alias Blood Orange spricht mit Durga Chew-Bose von Dazed über sein neues Album - und über "kulturelle Aneignung", nur andersrum: "Ich komme zuerst von klassischer Musik. Ich spielte Cello, Piano und Orchestersachen. Meine ersten Einflüsse waren weiß, Leute, die mich gehasst hätten, wenn ich in der selben Zeit gelebt hätte wie sie. Aber ich musste. Ich nahm von ihnen, was ich konnte. Ich stahl von ihnen. So sehe ich die Dinge: Ich stehle, was ich brauche und mache es passend für meine eigene Welt." Die Fotos in dem Interview sind übrigens von Wolfgang Tillmans.

Und hier das wirklich hübsche Video zu "Charcoal Baby":



Nach dem Selbstmord des Musikers Mac Miller fürchtet Brice Miclet auf Slate.fr, dass Depressionen und Drogen eine ganze Generationen von Rap-Musiker dahinraffen könnte, deren Musik introvertierter, düsterer und selbstbezogener denn je sei: "Das zeigt sich nicht nur im Stil. Es gibt einen Haufen Gründe, die einen erfolgreichen Künstler in ein schwarzes Loch stürzen, und die Droge Lean ist einer davon. Noch vor zehn Jahren war diese Melange aus Hustensirup und Soda auf den Rap im Süden oder in Chicago beschränkt, heute ist sie überall. Mac Miller war süchtig danach."

Weitere Artikel: Christian Wildhagen huldigt in der NZZ dem immer stärker ins Patriarchenhafte wachsenden Bernard Haitink, der in diesem Jahr das Festival von Lucerne überstrahlt mit einer wegweisend lichten Aufführung von Mahlers Neunter. Stefan Ender porträtiert im Standard den Dirigenten Stefan Gottfried, der seit 2016 das Concentus Musicus leitet. Für Welt-Kritiker Elmar Krekeler ist das Album "Re:member", das der Neoklassiker Ólafur Arnald mit Hilfe seines Softwareprogramms Stratus komponiert hat, höchstens eine "sanfte Revolution": "Man hört in die Mechanik des Klaviers, hört Wasser rauschen. Arnalds balsamiert weiter die Welt." Im Standard-Interview mit Michael Wurmitzer spricht die Veranstelterin Marlene Engel über die Clubkultur, die in Wien kaum noch Raum findet. Julian Weber berichtet in der taz vom Meakusma-Festival im belgischen Eupen, das dem selten Gehörten Raum gibt. Gerrit Bartels tummelt sich für den Tagesspiegel auf dem Berliner Lollapalooza-Festival.

Besprochen werden der DJ-Mix "Running Back", der an den Hamburger Club Front erinnert (SZ) und Paul McCartneys Album "Egypt Station" (Standard).

Archiv: Musik