Efeu - Die Kulturrundschau

Kurz gesagt: Eleganz

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15.09.2018. In der Berliner Zeitung vermisst Stephan Wackwitz schmerzlich etwas Lässigkeit und Pragmatimus in deutschen Diskursen. In der FAZ sieht Hans Christoph Buch die Geier über den Parolen des sandinistischen Nicaragua kreisen. NZZ und Nachtkritik sehen in Zürich Barbara Freys klugen, leicht unterkühlten "Hamlet". Die taz übersteht mit Pierre-Laurent Aimard verletzungsfrei die gehämmerten Cluster in Stockhausens Klavierstück 9.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.09.2018 finden Sie hier

Literatur

Nach Jahrzehnten als Institutsleiter von Goethe-Instituten im Ausland spricht der Schriftsteller Stephan Wackwitz Interview mit Harry Nutt in der Berliner Zeitung über seine Rückkehr nach Deutschland, den schrillen Diskurs und das Fehlen von Lässigkeit, Pragmatismus und Ironie - "kurz gesagt: Eleganz": "Es gibt in Deutschland eine Art epistemologische Unsitte, nämlich die Gewohnheit, jede Aussage sofort ins Grundsätzliche hinein zu modulieren. Und sie dadurch apokalyptisch zu formatieren. Da wird dann die nationalsozialistische Apokalypse vor den Toren gesehen oder man sieht umgekehrt das goldene Zeitalter anbrechen mit 'Menschen, die uns geschenkt werden'. Ich halte beide Positionen im Kern für unpolitisch. Es sind eher Ausdrucksformen einer Art politischer Theologie."

In Nicaragua sieht der Schriftsteller Hans Christoph Buch über den Propagandatafeln die Geier kreisen. Buchstäblich und im übertragenen Sinne. Daniel Ortega und seine Frau Rosario Murillo überziehen das Land mit einer beispiellosen Welle des Terrors, seit April wurden 485 Menschen getötet: "Die Revolution frisst ihre Kinder: Tag für Tag ziehen Scharen friedlicher Demonstranten durch die Straßen Managuas und anderer Städte, bewacht von vermummter Polizei und schwerbewaffneten Paramilitärs. Die auf Tausenden T-Shirts wiederkehrende blau-weiße Fahne Nicaraguas hat die schwarz-roten Banner der Regierung verdrängt, deren an DDR-Propaganda erinnernde Friedensparolen niemand mehr glaubt. Nachts werden sie mit regimefeindlichen Slogans übermalt, in denen 'Daniel - verpiss dich' und 'Hau ab, Chayo' gefordert wird - Chayo heißt die First Lady im Volksmund. Und die auf Verkehrsinseln errichteten Kreuze für die Märtyrer des Studentenprotests werden, von Soldatenstiefeln zertrampelt, jeden Morgen neu aufgestellt."

Besprochen werden unter anderem John Connollys Biografie über Stan Laurel (Standard), Heinz Helles Roman "Die Überwindung der Schwerkraft (NZZ), Wolfgang Englers und Jana Hensels Ost-Erkundung "Wer wir sind" (SZ), Helene Hegemanns Roman "Bungalow (taz), Daan und Thomas Heerma van Voss' Krimi "Zeuge des Spiels" (taz), Michael Lentz' Roman "Schattenfroh" (Tagesspiegel) und Ingrid Haslingers Kulturgeschichte der Wiener Küche (FAZ).
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Bühne

Szene aus "Hamlet" in Zürich. Foto © Matthias Horn


Am Zürcher Schauspielhaus hatte Barbara Freys Inszenierung des "Hamlet" Premiere, mit Jan Bülow in einer Doppelrolle als Hamlet und Geist des ermordeten Vaters. "Es ist ein kluger Streich, den umhergeisternden Untoten und seinen blutsverwandten Widersacher mit ein- und demselben Schauspieler zu besetzen, um Hamlets ausweglose Situation zu unterstreichen", meint nachtkritikerin Kaa Linder. "Das doppelte Spiel von Geist und selbst ermächtigtem König spiegelt das dramatische Motiv der Mehrdeutigkeit wider, die sich wiederum in der Figur von Hamlet kondensiert. Intrigen, vorsätzliche Täuschung und gestellte Theaterszenen durchziehen den Plot und machen auch vor dem Bühnenbild (Bettina Meyer) nicht Halt."

"So viel Unterkühlung war selten an einem dänischen Hof ... Freys Hamlet ist auch eine Zuschauerzerreißprobe", schreibt in der NZZ eine leicht verhaltene Daniele Muscionico. "Doch das macht durchaus Sinn, ihr Konzept ist in Erz gegossen: Sie nimmt Shakespeares Geist beim Wort, 'Remember me!'. Der Satz, mit dem der Wiedergänger des ermordeten Königs Hamlet zur Rache auffordert, scheint die Regisseurin übersetzt zu haben: Erinnere dich meiner. Es gibt ein Theater, das eine Bedeutung hat über das Individuum hinaus im Hinblick auf kollektive Versäumnisse. Es gibt ein Theater, das in Bezug steht zu unserer Gesellschaft, die den Geist der Geschichte, der Schuld und der Scham, ins Unbewusste auslagert. Hier, auf meiner Bühne, werden die Geister beschworen und erlöst. Frey macht moralische Kunst, Theater als Anstalt der Bewusstwerdung."

Im Standard unterhält sich Karl Fluch mit Laibach, die beim Steirischen Herbst ihre Version des Musicals "The Sound of Music" aufführen. Die Gruppe gibt sich entspannt: "Wir wissen, dass Österreicher den Film hassen, weil sie denken, er rücke ihr Land in ein seltsames Licht. Aber Leute wie Fritzl (das negative Pendant des Trapp-Vaters), Sigmund Freud (Trapps Analytiker) oder Bundeskanzler Kurz (Trapps geheimes Kind?) sowie ihre Außenministerin Karin Kneissl (eine zeitgenössische Maria Trapp) oder der beliebte Nationalist Jörg Haider geben Grund zur Annahme, dass 'The Sound Of Music' das Land nicht ganz falsch abbildet. Nicht zu vergessen den 'fanatischen Österreicher' Adolf Hitler."

Hier ein kleiner Vorgeschmack:



Außerdem: Im Gespräch mit der taz stellt Milo Rau sein neues Volkstheater in Gent vor - eine kleine Befreiung: "Der Schauspieler ist in Flandern ein Künstler, der mitdenkt. Der Ballast der Vergangenheit ist viel geringer. Den Theater-Kanon Flanderns kannst du an einem Nachmittag lesen. Da musst du dir deine Klassiker selbst schreiben."

Besprochen werden Olga Neuwirths Musiktheater "Lost Highway" nach David Lynch in der Oper Frankfurt (FR), Georges Feydeaus "Der Floh im Ohr" am Staatstheater Wiesbaden (FR), Anne Teresa De Keersmaekers Choreografie zu Bachs "Sechs Brandenburgischen Konzerten" an der Volksbühne Berlin (Welt), Stephan Kimmigs Inszenierung der Semi-Oper "König Arthur" von Henry Purcell und John Dryden in einer Neudichtung von Ewald Palmetshofer am Theater Basel (nachtkritik), die Uraufführung von Karen Breeces Stück "Auf der Straße" am Berliner Ensemble (nachtkritik), Liv Ann Youngs "Antigone" nach Brecht und Sophokles in der Zürcher Gessnerallee (nachtkritik), Demis Volpis Inszenierung von Mozarts "Don Giovanni" in Weimar mit Kirill Karabits am Pult der Staatskapelle (nmz) und die Uraufführung von Daniel Glattauers Stück "Vier Stern Stunden" in den Kammerspielen der Josefstadt in Wien (Presse, Standard).
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Kunst

Peter Truschner schreibt im Perlentaucher-Fotolot einen Nachruf auf den im Alter von nur 60 Jahren gestorbenen Fotobuch-Verleger Hannes Wanderer: "Sein Tod ist nicht nur ein persönlicher Schmerz, er versinnbildlicht vielmehr den Untergang einer Ära und einer Art und Weise, sich künstlerischen Werken zu nähern." Angelika Affentranger-Kirchrath unterhält sich für die NZZ mit dem Künstler Albrecht Schnider über dessen Arbeit.

Besprochen werden die Wiener Ausstellung "Porträts der Entwurzelung" mit Madame d'Oras Fotografien von Menschen in österreichischen Flüchtlingsheimen 1945 (Presse), eine Ausstellung der britischen Künstlerin Anthea Hamilton in der Wiener Secession (Standard), eine Ausstellung des Malers Nagasawa Rosetsu (1754-1799) im Zürcher Museum Rietberg (FAZ), die Ausstellung "Bestandsaufnahme Gurlitt" im Martin-Gropius-Bau in Berlin (FR) und eine Ausstellung des Werks von Jörg Immendorff im Münchner Haus der Kunst (SZ).
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Film

In der New York Times stellen Manohla Dargis und A.O.Scott zwanzig Frauen vor, die Filmgeschichte geschrieben haben und deren Namen man sich ab jetzt merken kann. Manohla Dargis berichtet auch vom Toronto Film Festival. Die FR stellt Daland Seglers bericht über das in Frankfurt geplante Fassbinder Center online.
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Stichwörter: Filmgeschichte

Architektur

In der SZ stellt Laura Weißmüller Kengo Kumas spektakuläres neues Victoria & Albert Museum im schottischen Dundee vor (mehr dazu im Guardian und bei der BBC). Hitzige Diskussionen hat dagegen Erich Strolz' neues, sehr dunkles Haus der Musik in Innsbruck ausgelöst, berichtet Wojciech Czaja im Standard.
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Musik

Als große Schule des Hörens erlebte taz-Kritiker Tim Caspar Boehme das Musikfest Berlin, bei dem der Pianist Pierre-Laurent Aimard den Schwerpunkt zu Karlheinz Stockhausen bestritt: "Die heftigsten Werke sparte er sich für die zweite Hälfte des Abends. Dem aus aleatorisch aneinandergefügten atomisierten Teilen bestehenden Klavierstück 11 folgte das um einen beharrlich wiederholten dissonanten Akkord gebaute grandiose Klavierstück 9, das sich gegen Ende hin immer zartere Passagen gestattet. Furioser Beschluss dann die kraftstrotzende Nummer 10, für die Aimard - fingerlose - Handschuhe überzog, um die mit Faust und Arm gehämmerten Cluster und die flirrenden Glissandi verletzungsfrei zu bestehen. Elektrisierend und famos!" Vom Musikfest berichtet im Tagesspiegel auch Ulrich Amling.

In der taz wiegt sich Philipp Weichenrieder zu den Sounds des Londoner Musikers Gaika, der auf seinem "Basic Volume" Frustration in Energie umwandele: "Sanfte Synthesizertöne perlen auf, dann erheben sich Fanfaren. Eine druckvolle Bassdrum pumpt schubweise los, gleichzeitig beginnt der britische Künstler zu singen. Zum catchy Sound croont Gaika nichts weniger als einen Aufruf zum Widerstand: 'I wanna see youths in rebellion / You in rebellion / I wanna see you in rebellion.'" Hier sein "Immigrant Sons":



Weiteres: Als Höhepunkt des Festspielsommers feiert Christian Wildhagen in der NZZ Andris Nelsons' Gastspiel mit dem Boston Symphony Orchestra in Luzern. FAZ-Kritiker Wolfgang Fuhrmann lauscht auf dem Musikfest Frankfurt György Ligetis "Atmosphères".

Besprochen werden unter anderem das Album "Collapse" von Aphex Twin (ZeitOnline), weitere Popneuerscheinungen (ZeitOnline) und Scott Xylos "Find Us When You Get There" (Spex).

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