Efeu - Die Kulturrundschau

Wohlgeruch statt Raubtieratem

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18.09.2018. In der SZ spaziert Horst Bosetzky ein letztes Mal durch die Berliner Bleistreustraße. Der Standard lernt im Centre Pompidou von Franz West das heiter-produktive Nichtstun. Die NZZ plädiert gegen allzu viel Lockerheit und für ein bisschen mehr Stilbewusstsein. In der Berliner Zeitung erklärt Peter Eötvös Stockhausen zu Besten, was der Musik im 20. Jahrhundert passieren konnte. Ebenda ruft Paul Weller den von der Politik Enttäuschten zu: Packt selber an!
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.09.2018 finden Sie hier

Kunst

Franz West, Auditorium (1992)


Anne Katrin Feßler hat für den Standard die große Retrospektive des österreichischen Künstlers Franz West im Centre Pompidou besucht: Hier herrscht "Wohlgeruch statt Raubtieratem", stellt sie fröhlich fest. "Das Gesicht in den Kissen seines Bettes verborgen - so stellt sie [Kuratorin Christine Macel] den 1947 Geborenen erst einmal als sympathische Type mit dem Lebensmotto 'Nichts zu tun und trotzdem davon leben können' vor. Aufgenommen hat das Bild Weggefährtin Friedl Kubelka, die dem sparsamen Lächler in zwei Filmporträts zumindest einige Mundwinkelkräusel abringt. Über dieser Urliege daheim in der mütterlichen Wohnung im Karl-Marx-Hof, Vorläufer aller geschweißter Diwans und Liegestätten, sieht man fein säuberlich zum Mosaik arrangierte und mit Nägelchen fixierte Zeichnungen. Skurrile Männer mit Brille und Melone performen hier, surreal wie Figuren in einem Jaques-Tati-Film, in urban-ornamentalen Kulissen. Und flugs hat Macel so wesentliche Motive des West'schen Kosmos wie das produktive Nichtstun, das performative Moment und den Humor eingeführt."

Weitere Artikel: Alejandro Martín, Kurator des Museums La Tertulia in der kolumbianischen Stadt Cali, erklärt im Interview mit der taz das anlässlich des Friedensabkommens mit der Farc aufgelegte Erinnerungsprojekt "La carretera al mar", bei dem Künstler und Zivilbevölkerung zusammenarbeiteten. Jörg Colberg schreibt in der taz den Nachruf auf den Berliner Fotobuch-Verleger Hannes Wanderer. Catrin Lorch stellt in der SZ den britischen Landschaftsmaler Paul Nash vor, der in beiden Weltkriegen als Militäkünstler arbeitete.

Besprochen werden die Ausstellung "Kreaturen nach Maß" im Museum Marta Herford (taz) und die Ausstellung "Migration bewegt die Stadt" im Münchner Stadtmuseum (Welt).
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Literatur

Am Sonntag ist im Alter von achtzig Jahren Horst Bosetzky alias -ky, gestorben, der als einer der ersten deutschen Autoren in den siebziger Jahren richtige Krimis schrieb. Die SZ bringt seinen Text "Mein Berlin", in dem Bosetzky sozusagen zum Abschied noch einmal die Schauplätze des Berliner Verbrechens besucht: "Nun zur City West. Gemeint ist das Areal um Kurfürstendamm, Breitscheidplatz und Tauentzienstraße in den früheren Bezirken Charlottenburg, Schöneberg, Wilmersdorf und Tiergarten. Hier ist, was die Kriminalität betrifft, 'imma wat los'. Fangen wir mit der Bleibtreustraße an, wo sich im Juni 1970 Klaus Speer, damals der 'Pate von Berlin', eine wilde Schießerei mit 'Perser-Eddie' lieferte. Es ging um die Macht im Revier - und das war der ganze Kudamm mit seinen Seitenstraßen. Bei Alteingesessenen ist die Bleibtreustraße seitdem die Bleistreustraße. Natürlich will ich in jedem Roman auch für meine Heimatstadt werben." Im Tagesspiegel schreibt Andreas Conrad den Nachruf auf Bosetzky, in der Berliner Zeitung verabschiedet ihn Peter Brock.

In der NZZ stimmt Roman Bucheli ein Loblied auf Etikette und Stil an, denn in der Förmlichkeit lebe es sich nicht nur ästhetisch befriedigender, sondern auch freier und leichter: "Form bedeutet nichts anderes als Arbeit an sich selbst. Sie erfordert manchmal eine größere Anstrengung, nur selten fällt sie einem mühelos und ohne Aufwand zu. Reicht bisweilen eine Krawatte, um das Widerstrebende der eigenen Person zu bändigen, so verlangen die Umstände mitunter umsichtigere Bemühungen. Einem leicht irritierbaren Gemüt jedenfalls muss das aufdringliche Ostinato einer nonchalant zur Schau getragenen Lockerheit als Provokation erscheinen."

Weiteres: Jörg Colberg trauert in der taz um den im Alter von sechzig Jahren verstorbenen Fotobuch-Verleger und Buchhändler Hannes Wanderer: "Zu Wanderers Leidenschaft gesellte sich ein Ausmaß an Großzügigkeit und Uneigennützigkeit, das in der Welt der Fotografie, gerade im Bereich der Kunst, alles andere als gang und gäbe ist." Im Tagesspiegel erklärt der Dramatiker Moritz Rinke, warum es sich bei dem Theater um den Verfassungsschutzpräsidenten gattungsmäßig nicht um ein Drama handele, sondern um eine Farce: "Typisch für eine Farce: Die Teilnehmer der Debatte stehen sich immer gespaltener, stereotyper gegenüber." Besprochen wird unter anderem Thomas Klupps Roman "Wie ich fälschte, log und Gutes tat" (Tagesspiegel).
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Film

Jake Nevins berichtet im Guardian von der Emmy-Verleihung, bei der HBO und Netflix zu gleichen Teilen die Preise abräumten; in der NY Times schreibt John Koblin. Für den Tagesspiegel schickt Martin Schwickert Eindrücke vom Toronto Film Festival.

Besprochen werden Debra Graniks Film über das Verschwinden aus der Gesellschaft "Leave No Trace" (den Andreas Busche im Tagesspiegel für Graniks bisher besten Film hält, SZ) und Eli Roth' Jugendfilm "Haus der geheimnisvollen Uhren" (Standard).
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Stichwörter: Emmys, Netflix, Hbo

Bühne

Bernhard Uske hörte für die FR erste Aufführungen beim Frankfurter Musiktheater Atmosphères.

Besprochen werden Sasha Waltz' Choreografie "Exodus" bei der Ruhrtriennale (nmz), Emmerich Kálmáns "Csárdásfürstin" an der Volksoper Wien (Standard), Dvoráks "Rusalka" am Stadttheater Klagenfurt (Standard), Henriette Hörnigks Adaption von Axel Ranischs Roman "Nackt über Berlin" in der neuen Raumbühne der Oper Halle (nachtkritik), die Uraufführung der Adaption von Wolfgang Herrndorfs unvollendetem letzten Roman "Bilder deiner großen Liebe" in der Inszenierung von Jan Gehler am Dresdner Staatsschauspiel (nachtkritik), Giuseppe Verdis "Nabucco" am Theater Regensburg (nmz), Franziska Autzens Adaption von Édouard Louis' autobiografischen Roman "Im Herzen der Gewalt" in der "Garage" des Thalia-Theaters (taz), Ingo Kerkhofs Inszenierung von "Richard III." am Staatstheater Wiesbaden (FR), Stefan Bachmanns Adaption von Daniel Kehlmanns "Tyll" am Schauspiel Köln (FAZ, SZ), Wagners "Götterdämmerung" am Stadttheater von Minden (ein "Wunder", staunt FAZ-Kritiker Josef Oehrlein), Thom Luz' Adaption des Bernhard-Romans "Alte Meister" in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin (FAZ) und Herbert Fritschs Inszenierung von Mozarts "Così fan tutte" an der Hamburger Oper (SZ).
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Musik

In der Berliner Zeitung räumt der Komponist und Dirigent Peter Eötvös etwaige Vorurteile aus, die mit der Musik von Karlheinz Stockhausen verbunden sein könnten. Seine Musik gehört schlicht zum Besten, was das 20. Jahrhundert zu bieten habe, erklärt Eötvös. Das gelte besonders für Stockhausens Anbetungsstückes "Inori", das Eötvös heute beim Berliner Musikfest aufführen wird: "Religiös ist es in seinem Ausgangspunkt. Aber es geht nicht darum, eine religiöse Atmosphäre zu schaffen. Das Stück und seine Musik wird von selbst religiös, durch die Dichte, durch die Dauer, durch den meditativen Charakter. Da komme ich wieder auf Beethoven zurück und seine 5. Sinfonie mit dem sturen Wiederholungswahn in ihrem ersten Satz. Zum ersten Mal in der Musikgeschichte ist es dort ja passiert, dass der Komponist 'nicht weiterkommt'. Stockhausen hatte den Mut, etwas ähnliches zu tun, indem er in der ersten halben Stunde von 'Inori' immer den Ton 'G' wiederholt - 'G' für 'Gott' -, um von ihm aus einen Rhythmus zu entwickeln und ganz allmählich eine Melodie aus 13 Tönen."

Ebenfalls in der Berliner Zeitung unterhält sich Dagmar Leischow mit Paul Weller über die Wut als Privileg der Jugend, den Wunsch nach Präsenz und natürlich den Brexit: "Da haben mich nicht irgendwelche Parteien enttäuscht, sondern das britische Volk. Von Politikern erwarte ich sowieso nichts mehr. Erinnern Sie sich noch an das schreckliche Feuer im Grenfell Tower? Kurz nach dem Unglück brachten Menschen aus der Nachbarschaft den Überlebenden Kleidung und Essen. All das passierte in Eigeninitiative, nicht etwa im Auftrag der Regierung. Für mich liegt in solchen Aktionen die Zukunft: Die Bürger sollten besser selber anpacken, statt sich auf die Politik zu verlassen.

Hier der Opener "The Soul Searcher" aus Wellers neuem Album "True Meanings":



Weiteres: In der NZZ jubelt Thomas Schacher Cecilia Bartoli zu, die in Luzern halbszenisch Rossinis "Cenerentola" gab: "Ihre Koloraturen kommen messerscharf, der Stimmumfang ist beeindruckend, das Parlando phänomenal." Natalie Mayroth berichtet in der taz vom Electronic Beats Festival, das seit zwei Jahren nicht mehr in Köln, sondern in Budabest stattfindet.

Besprochen werden ein Konzert der Jungen Deutschen Philharmonie mit Dieter Schnebels "Schicksalslied" bei den Goethe Festwochen in Frankfurt (SZ) und Brandon Colemans neues Album "Resistance" (SZ).
Archiv: Musik