Efeu - Die Kulturrundschau

Aus dem Kerker des kollektiven Menschen

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19.09.2018. Die Welt freut sich über die Wiederentdeckung der schwermütigen Malerin Lotte Laserstein. In der NZZ sieht David Claerbout im Bild die Macht des Proletariats. In der FR denkt Olga Martynova darüber nach, was die Literatur dem Individuum schuldet.  Die Zeit feiert die Jazzcombo Shake Stew, die auch da Melodien spielt, wo andere Bässe schlagen. FAZ, SZ und Berliner Zeitung verdammen Erik Poppes Film "Utøya 22. Juli", der aus dem Massenmord des Anders Breivik ein frivoles Spektakel macht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.09.2018 finden Sie hier

Kunst

Lotte Laserstein: In meinem Atelier, 1928. Foto: Lotte-Laserstein-Archiv / Städel Museum



Noch so eine vergessene Malerin: Lotte Laserstein. Das Städel Museum widmet ihr eine Ausstellung. Hans Joachim Müller freut das sehr, dennoch überlegt er in der Welt, ob Laserstein als Frau im Strudel der Geschichte unterging, oder als Künstlerin, die nie den Skandal suchte, sondern eher Stille und Schwermut: "Das unterscheidet Lotte Laserstein. Ihre Unzuständigkeit fürs Willensmenschliche. Ihr auffälliges Desinteresse an der Erzwingungskultur, die künstlerischer Fortschritt heißt. Es kommt einem von heute aus gesehen wie wundersamer Trotz vor, dieses völlig selbstverständliche, nie problematisierte Festhalten an der Gegenstandsgewissheit der realistischen Tradition. Nie hat Laserstein einen Grund gesehen, sich vom Strom der Moderne mitreißen zu lassen oder sich bekenntnishaft gegen den Sog zu wehren."

In seiner Arbeit "Olympia" zeichnet der belgische Film- und Fotokünstler David Claerbout  den Zerfall des Berliner Olympiastadions in Echtzeit auf, was sich über eine Zeitspanne von tausend Jahre erstrecken soll. Im NZZ-Interview mit Angelika Drnek spricht über das Ende der Fotografie als Glaubensmedium, die Zeit in der Kunst und die Verunsicherung in der Bildkultur: "Wenige sind sich bewusst, dass die Fotografie im Auge des Sturms steht. Sie hat immer noch einen 100-prozentigen politischen und sozialen Einfluss, selbst in unserer Hyperdemokratie, in der ein Schnappschuss ein Gesetz ändern kann. Die schnelle Bildkultur ist eigentlich das Resultat der Macht des Proletariats. Das Proletariat, ohne Macht über das Wort, hat sich das Bild erfunden, damit man miteinander reden kann. Und das Bild hat sich als etwas viel Schnelleres als das Wort erwiesen. Die Verunsicherung liegt in diesem Verhältnis. Denn diese Sprache verunsichert die Machthaber, sie wird nahezu als nukleare Gefahr gesehen. Mit Bildkultur lässt sich keine Politik machen."

Weiteres: Andrea Köhler umreißtin der NZZ, wie es um das Metropolitan Museum in New York steht, dessen Leitung der Österreicher Max Hollein jetzt übernimmt. Guardian-Kritiker Adrian Searle vergnügt sich in einer Ausstellung über den Witz in der Kunst, die ohne Fischli und Weiss auskommt, aber natürlich nicht ohne Kalauer über Schafe liebende Waliser.

Besprochen werden die beiden Tintoretto-Ausstellungen in der Galleria dell'Accademia und im Palazzo Ducale in Venedig (SZ) und die Schau "Bestandsaufnahme Gurlitt" im Berliner Gropiusbau, die Werke aus dem Kunstfund des Nazi-Kunsthändler Hildebrand Gurlitt zeigt (taz).

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Bühne

Besprochen werden das Gastspiel "No President" des Nature Theater of Oklahoma bei der Ruhrtriennale (FAZ), Ewald Palmetshofers Neufassung von "König Arthur" für das Theater Basel (SZ) und das dokumentarische Stück "Auf der Straße" am Berliner Ensemble (taz).
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Literatur

Mit zehn Thesen zum Umgang mit der Gegenwartsliteratur wirft die Schriftstellerin Olga Martynova in der FR Medien und Kritik Wahrnehmungsschwächen, mangelnde Auseinandersetzungslust und eine allgemeine Neigung zur Kapitulation vor literarischen Ansprüchen vor. Darunter These 7: "Kollektive Fragestellungen und kollektive Überzeugungen sind immer in ihrem Kern falsch. Das einzige, was die Literatur einem Leser schuldig ist: seinen individuellen Menschen aus dem Kerker des kollektiven Menschen zu befreien. Aber falsche Fragestellungen, wie zum Beispiel die nach der Rolle der Autoren mit Migrationshintergrund, oder Versuche, Probleme der Gegenwart mit der Nacherzählung der Nachrichten zu lösen (in voller Überzeugung, dass das 'politisch zu sein' bedeute), lenken die Literatur von ihrer eigentlichen Aufgabe ab: von der sprachlichen Arbeit, ohne die der Mensch aufhört, sich und die Welt, wenn auch unzulänglich, aber irgendwie doch zu begreifen."

Im MDR Kultur feiert Matthias Schmidt Lukas Rietzschels Debüt "Mit der Faust in die Welt schlagen" über zwei Brüder, die sich in der rechten Szene verfangen, als "den Roman über den Osten der 2000er-Jahre schlechthin", das nicht zuletzt über jüngste Ereignisse in Sachsen Aufschluss gebe. Verrätselt lakonisch wirkt Lars Weisbrods online nachgereichte Rezension in der Zeit: "Hilft Literatur noch? Helfen vom Wind aufgeblähte Regenjacken und Erinnerungen ans Schamottenwerk? Helfen sie in dieser Stunde?"

Weitere Artikel: Für die Berliner Zeitung spricht Cornelia Geißler mit dem russischen Schriftsteller Dmitry Glukhovsky, für den die Debatten in den Sozialen Medien "die moderne Form des Samisdat" darstellen. Im Freitext-Blog auf ZeitOnline findet sich Stephan Loses Erzählung "Magda bummelt". Lothar Müller (SZ) und Edo Reents (FAZ) schreiben Nachrufe auf den Schriftsteller Ulrich Schacht.

Besprochen werden unter anderem Hélène Gesterns "Der Duft des Waldes" (FR), die Boris-Pasternak-Werkausgabe (NZZ), Stephan Thomes "Gott der Barbaren" (online nachgereicht von der FAZ), Assaf Gavrons "Achtzehn Hiebe" (NZZ), Michal Hvoreckys "Troll" (SZ) und Andreas Unterwegers Erzählband "Grungy Nuts" (FAZ).
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Musik

Für die Zeit hat sich Ulrich Stock fünf Tage lang an die Fersen der Jazzcombo Shake Stew geheftet, die er bis vor kurzem noch gar nicht kannte, aber nun umso sagenhafter findet. Das Besondere: Mit Mathias Koch und Niki Dolp gibt es zwei Schlagzeuger. "Damit der eine einen Schlag setzen kann, muss der andere ihm die Zeit geben. Zu zweit wie einer zu klingen: Das bringt Wucht und Farbe. Um den Druck zu erhöhen, gibt es neben den Basstrommeln eine dritte, noch tiefere. Alle sind unterschiedlich gestimmt - Melodien auch da, wo sonst keine sind. An den Seiten wechseln die Instrumente. Die Bassisten spielen akustisch und elektrisch in allen Kombinationen, gezupft und gestrichen. Gestrichener E-Bass, Psychedelik pur, wenn einer wie Oliver Potratz es macht ... Und darüber die drei Bläser, weich und voll, süffig schwelgend, woher nehmen sie diese Linien? So vertraut, dabei aus völlig unterschiedlichen Richtungen, mal mysteriös gleitend nach Art des Ornette, mal hymnisch fanfarenhaft." Einen kleinen Live-Eindruck vermittelt dieses Video:



Weitere Artikel: Marietta Steinhart resümiert auf ZeitOnline die Emmys 2018, bei denen in diesem Jahr die Politik eine weniger prominente Rolle spielte als im vergangenen Jahr. Für die SZ porträtiert Arne Perras Kahchun Wong, den neuen Chefdirigenten der Nürnberger Symphoniker.

Besprochen werden der von Christian Zacharias dirigierte Saisonauftakt an der Elbphilharmonie (Tagesspiegel), eine Berliner Aufführung von Karlheinz Stockhausens "Mantra" durch Pierre-Laurent Aimard und Tamara Stefanovich (Tagesspiegel) und neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album ">>>" von Beak>, auf dem sich laut SZ-Kritikerin Juliane Liebert "Krautrocknostalgie, veredelt mit Sonic-Youth-Catchiness, ein paar Noisetupfern und Nöligkeit" findet. Hier ein von der Band abgesegnetes Fanvideo:

Archiv: Musik

Film

Die Kritiker ärgern sich über Erik Poppes bereits zur Berlinale kontrovers diskutiertem "Utøya 22. Juli", für den sich der norwegische Filmemacher einen besonderen Clou ausgedacht hat: Der Massenmord des Rechtsterroristen Anders Breivik wird hier konsequent aus Perspektive der Opfer gezeigt, in einer langen, dank Digitalsimulation ungeschnitten anmutenden Plansequenz, ohne dabei den Mörder konkret zu zeigen oder dessen Namen zu nennen. Simple Spektakeldenke, schreibt Lukas Stern in der Berliner Zeitung: "Ich soll empfinden können, wie es war, ich bekomme die Todesangst ins Nervenkostüm gespritzt, ich soll das Gefühl haben, dabei zu sein, potenziell, virtuell Opfer zu sein." Für FAZ-Kritiker Andreas Platthaus hat das Konzept des Films "einen frivolen Zug", nämlich "die Überlagerung seines ethischen Anspruchs durch den ästhetischen. In Schönheit sterben ist immer dann, wenn man es wörtlich verstehen muss, ein verdammenswerter Aspekt des Kinos. Im Fall von 'Utøya 22.Juli' triumphiert zudem die Illusion filmischer Perfektion über die reale Verdorbenheit der Tat." Tobias Kniebe hält den Film in der SZ für ein "cineastisches Kabinettstückchen", hinter dem er "ein gewaltiges Autorenego" vermutet: Poppe "schafft sich fiktionale Spielfiguren, damit er sie nach Belieben über die Insel des Grauens jagen kann, als immersive Erfahrung, fast wie ein Videospiel, bei dem nur ein einziger Spieler eine Waffe hat. Und dennoch glaubt er offenbar, damit wahrhaftig zu sein, sogar 'wahrhaftiger als ein Dokumentarfilm'."

Die Zahl der Kinos und der Leinwände ist in den letzten Jahren zwar wieder gestiegen, doch die Ticketumsätze brechen mitunter dramatisch ein. Philip Grassmann, einst Chefredakteur des Freitag, mittlerweile Kinobetreiber in Hamburg, warnt in seinem früheren Blatt daher vor einer "Kinokrise" und fordert von seiner Branche "mehr Experimentierfreude". Ganz neu sind seine Vorschläge nicht: Wunschfilme für das Publikum und bessere Filmvermittlung durch die Kinobetreiber. "Die Zeitungen und Webseiten reduzieren ihre Filmberichterstattung immer weiter. ... Wer aber immer seltener weiß, welcher Film interessant sein könnte - wie soll er da dem Kino treu bleiben? Wie so oft liegt in dem Problem auch die Lösung. Denn wer, wenn nicht wir Kinomacher, könnte dem Publikum besser erklären, warum es sich für einen Film interessieren soll? Schließlich haben wir ihn ausgewählt. Die Programmkinos haben die Expertise und die Glaubwürdigkeit, Empfehlungen zu geben."

Die Autorin und Filmemacherin Marceline Loridan-Ivens ist gestorben, meldet Libération. In einem Film von Jean Rouch sprach sie in einem langen Monolog über Auschwitz - eine der ersten längeren filmischen Äußerungen über die Judenvernichtung. Später drehte sie mit ihrem Mann Joris Ivens und machte eigene Dokumentarfilme. In mehreren Büchern schrieb sie über ihre Geschichte. Sie war eine enge Freundin von Simone Veil, die sie im Lager kennengelernt hatte.

Weitere Artikel: Bert Rebhandl hat für die FAZ das Filmfestival in Toronto besucht, von dem er nach Steve McQueens "Widows", Barry Jenkins' "If Beale Street Could Talk", Alex Ross Perrys und Elisabeth Moss' "Her Smell" und Anthony Maras' "Hotel Mumbai" sehr glücklich berichtet: "An mutigen Entwürfen herrscht im Weltkino kein Mangel." Fritz Göttler (SZ) und Andreas Kilb (FAZ) gratulieren Jeremy Irons zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Eli Roths "Haus der geheimnisvollen Uhren" (Standard), Oliver Haffners "Wackersdorf" (taz) und Jennifer Deschamps' von Arte gezeigte Doku "Inside Lehmann Brothers - Whistleblower packen aus" (FAZ), die der Sender auch auf Youtube gestellt hat:

Archiv: Film

Architektur

Nicht aus Holz, sondern aus Beton, aber ohne vertikale Wand: Kengo Kumas V&A Museum Dundee

Die Zeit hat Martin Tschechnes Interview mit Kengo Kuma online gestellt, in dem der japanische Architekt über sein V&A-Museum in Dundee spricht, über das richtige Maß und das Bauen mit Holz: "Das Bedürfnis nach Maß und Geborgenheit bestimmt noch immer meine Planungen als Architekt. Auch das ist sehr japanisch, denn obwohl unser Land einen größeren Waldanteil hat als Brasilien, gibt es relativ wenig Holz für großflächige Bretter und Balken. Unsere Berge sind einfach zu schroff und steil für dicke Bäume. Dafür haben japanische Handwerker einzigartige Fertigkeiten beim Bau von schlanken, stabilen und übrigens auch erdbebensicheren Holzkonstruktionen entwickelt. So etwas finden Sie auf der ganzen Welt nicht noch einmal."

Susanne Güsten trifft für den Tagesspiegel syrische Stipendiaten des Deutschen Archäologischen Institut in Istanbul, die für den Wiederaufbau des zerstörten Landes geschult wurden, wie etwa den jungen Architekten Ahmad Masri, der sich als Restaurator fortbildete: "Inmitten der Schlacht von Aleppo vermaß und dokumentierte Masri drei Jahre lang die historischen Bauten der Altstadt, die zum Unesco-Weltkulturerbe zählt. Heute lebt der 27-Jährige in der Türkei und bereitet sich darauf vor, dieses Kulturerbe eines Tages wieder aufzubauen."
Archiv: Architektur