Efeu - Die Kulturrundschau

Die Angst vor dem eigenen Ich

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21.09.2018. In der taz vermisst der Popjournalist Matthew Collin die subversiven Wurzeln von House und Rave. Die Welt verteidigt die Rekonstruktionsarchitektur. In der Berliner Zeitung warnt die Regisseurin Karen Breece: Obdachlosigkeit droht auch der Mittelschicht. Die NZZ sucht nach Gründen für das Scheitern des Stroemfeld Verlags. Die taz würdigt die verstorbene Grande Dame der rumänischen Konzeptkunst, die Künstlerin Geta Brătescu.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.09.2018 finden Sie hier

Musik

House und Rave entstanden in den schwarzen, schwulen Clubs im Detroit und Chicago der Achtziger. Diese subversiven Wurzeln sind heute vielerorts gekappt worden, stellte Popjournalist Matthew Collin bei seinen Recherchen für sein Buch "Rave On" fest, in dem er die egalitären Ansprüche und Standards der Vergangenheit mit dem Business der Gegenwart abgleicht. In Las Vegas war es so "bizarr", dass er dort geradezu depressiv geworden sei, erzählt er Julian Weber im taz-Gespräch: "Ich besuchte einen Club, in dem der DJ Steve Aoki aufgelegt hat. Besucher wurden nach Klassen getrennt untergebracht. Je nachdem, wer mehr Eintritt bezahlte und einflussreicher war, durfte näher am DJ-Pult sitzen. ... Mich beschlich das Gefühl, dass alle schwarzen und schwulen Untertöne aus dem Sound ausgesiebt waren, um weißen Jugendlichen den Gefallen zu tun, dass sie nicht an das Wort 'Disco' denken müssen, denn das ist für das konservative Amerika nach wie vor ein Unwort."

Besprochen werden Philipp Jedickes Doku "Shut Up and Play" über den Pianisten Chilly Gonzales (Tagesspiegel, Berliner Zeitung), ein Zürcher Gastspiel des Dirigenten Bernard Haitink (NZZ), das neue Album von The Goon Sax (Standard, taz), Paul McCartneys neues Album "Egypt Station" (Zeit), das neue Album "Towards Sun" des Simon Spiess Trios (NZZ), Konzerte von Michael Wollny (FR), und des Electric Light Orchestras (Berliner Zeitung), Robert Hilburns Biografie über Paul Simon (FAZ) und weitere neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album von Christine and the Queens (Pitchfork, ZeitOnline).

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Bühne

Im Interview mit der Berliner Zeitung sprechen Christian Clemens, einst obdachlos und aktuell Hauptdarsteller im Stück "Auf der Straße" am Berliner Ensemble, und Regisseurin Karen Breece über Wohnungslosigkeit und Armut. Breece meint: "Es sind nicht mehr nur Geschichten von den Ärmsten, sondern Wohnungslosigkeit bedroht auch die Mittelschicht. Nicht jeder, der wohnungslos ist, lebt auf der Straße. Es gibt auch junge Familien, die die Mieten nicht mehr bezahlen können und in Notunterkünften landen. Das Prekariat wächst."

Weitere Artikel: Im Standard fragt Stefan Weiss österreichische Kabarettisten, weshalb sie in ihren Programmen so häufig "Neger" sagen: "Satire ist ein Spiegel der Gesellschaft, lautet der Tenor befragter Kabarettisten. Und weil das N-Wort in der Gesellschaft noch immer weit verbreitet sei, dürfe es im Kabarett, wo der Finger in Wunden gelegt werden soll, erst recht nicht tabuisiert werden." In der Berliner Zeitung spricht Ulrich Seidler mit Volksbühnen-Urgestein Jürgen Kuttner über sein neues Programm am Deutschen Theater. In der FAZ berichtet Wiebke Hüster von der Biennale de la Danse in Lyon.

Besprochen werden Romeo Castelluccis Inszenierung der "Zauberflöte" in Brüssel (FAZ, NZZ), Wolfgang Hofmanns Inszenierung "Mala vita" am Stadttheater Gießen (FR) und zwei Inszenierungen von Lessings "Nathan der Weise" - von Oliver Frljic in Hannover und Monika Gintersdorfer am Theater Bremen (die Till Briegleb in der SZ beide als oberlehrerhaft verwirft).
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Architektur

Wieder aufgebaut wurde immer, ruft in der Welt Rainer Haubrich allen Kritikern von Rekonstruktionsarchitektur entgegen: "Auch Ikonen der modernen Architektur sind uns bis heute nur als Rekonstruktionen erhalten - etwa die Glasfassade des Bauhauses in Dessau, Erich Mendelsohns geschwungenes Universum-Kino am Kurfürstendamm oder Mies van der Rohes berühmter Barcelona-Pavillon, dessen Einzelteile 1929 demontiert worden waren und verloren gingen. Manche Gebäude kehrten schnell zurück, bei anderen zog sich der Wiederaufbau lange hin. 17 Jahre dauerte die Rekonstruktion des barocken Erbdrostenhofes in Münster einschließlich seines prächtigen Festsaales."
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Film

Witzig oder nicht-witzig? Dichotomieverhandlung in Bruno Dumonts "Quakquak und die Nichtmenschen" (Bild: Arte)
Große Freude haben die Kritiker an der Mini-Serie "Quakquak und die Nichtmenschen", mit der Bruno Dumont seinen TV-Erfolg "Kindkind" fortsetzt (hier die erste Folge bei Arte). Dass der Regisseur schwer existenzieller Dramen sich zuletzt vermehrt der Komik zuwendet, ist keine völlige Kehrtwende, erklärt Patrick Holzapfel in seinem Filmdienst-Essay über Dumont: Der Filmemacher "denkt über Komik an sich nach. ... Es ist ein Denken, das etwa die Frage der Angst vor dem Fremden ganz konkret mit Hilfe von Klonen in die Angst vor dem eigenen Ich transportiert. In seinen Arbeiten gibt es eine Annäherung von Humor und Erhabenheit. Er entführt nicht nur das Genre der Komödie aus dessen angedichteter Oberflächlichkeit, sondern löst auch die Dichotomie aus 'witzig' und 'nicht witzig' auf", womit am Ende zutage trete, "dass das Lachen immer bereits angelegt ist im Grausamen und Tragik sich aus jedem Lachen schälen könnte."

Für FR-Kritiker D.I. Frederiksson ist Dumonts Serie ohne weiteres David Lynchs "Twin Peaks" ebenbürtig. Er verspricht: "Viele werden den Fernseher nach wenigen Minuten ausmachen, entnervt von einer fremden Logik, als hätte man die erste Fernsehübertragung vom Mars gesehen, wie sich die Außerirdischen das menschlichen Leben vorstellen."

Weitere Artikel: Hollywood entdeckt Instagram, schreibt Charles Bramesco im Guardian. In der taz empfiehlt Thomas Groh Klaus Lemkes Schwabingkomödie "Amore" von 1978, die heute und am Sonntag im Berliner Zeughauskino läuft.

Besprochen werden Aneesh Chagantys Desktop-Thriller "Searching" (Tagesspiegel, unsere Kritik hier), Cary Fukunagas Netflix-Serie "Maniac" mit Emma Stone (taz, NZZ), Erik Poppes "Utøya 22. Juli" (Tagesspiegel, FR, mehr dazu hier), Oliver Haffners "Wackersdorf" (Tagesspiegel, FR) und Léa Mysius' "Ava" (SZ).
Archiv: Film

Literatur

Der Stroemfeld Verlag scheiterte auch, weil die extrem philologisch-detailhuberische Kafka-Ausgabe mit nur wenig Subventionen gar nicht zu stemmen war, schreibt der Literatur- und Kulturwissenschaftler Andreas Kilcher in der NZZ. Hinzu kommt, dass die vom Internetkritiker Roland Reuß betreute Ausgabe technisch hoffnungslos veraltet ist: "Archive digitalisieren immer mehr Handschriftenbestände und stellen sie je nach Rechtslage frei ins Internet. So kann man etwa Joseph-Roth-Handschriften in den Beständen des Leo-Baeck-Instituts frei am Bildschirm zu Hause lesen. Dass die Stroemfeld-Ausgabe technisch in die Jahre gekommen ist, zeigt sich nicht zuletzt auch an der ihr beiliegenden CD mit den Faksimiles im PDF-Format. Nicht nur werden wohl heute die wenigsten Computer noch CD-Laufwerke haben; auch das verwendete PDF-Format wird unweigerlich nur befristet lesbar bleiben."

Weitere Artikel: Tell Review bringt den dritten Teil von Sieglinde Geisels großem Gespräch mit dem Germanisten Peter von Matt, der unter anderem über Wissenschafts-Geraune und Kriterien für gute Literatur spricht. Im Logbuch Suhrkamp macht Verlagslektor Raimund Fellinger die gesammelten Briefe Robert Walsers schmackhaft.

Besprochen werden unter anderem Patrick Modianos "Schlafende Erinnerungen" (NZZ), der abschließende Teil von Virginie Despentes' "Vernon Subutex"-Trilogie (Standard), Juli Zehs "Neujahr" (Freitag), Julian Volojs und Thomas Campis Comic "Joe Shuster - Vater der Superhelden" (Tagesspiegel) sowie David Whitehouses "Der Blumensammler" (SZ).
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Kunst

Geta Brătescu, 2012 © Ștefan Sava / n.b.k. Berlin
Im Tagesspiegel schreibt Angela Lohmann zum Tod der Künstlerin Geta Brătescu, die sie als Grande Dame der rumänischen Konzeptkunst würdigt: "In der Intimität ihres Ateliers schuf sie unbehelligt von politischen Repressionen ihre avantgardistische Kunst. Immer wieder wird ihr Arbeitsraum zum Thema, etwa in der legendären Performance 'The Studio' von 1978, in der sie mit ihrem Körper den Atelierraum vermisst. Fragen nach Subjektivität und Geschlecht beschäftigen sie, später schreibt sie die Erinnerung in ihr Werk ein oder spielt mit literarischen Themen wie Goethes Faust und Brechts Mutter Courage. Über Jahrzehnte bildet sie ihr ureigenes künstlerisches Vokabular heraus. Wie viele Frauen ihrer Generation musste Geta Brătescu auf ihren Ruhm lange warten." (Nächsten Donnerstag eröffnet die n.b.k. in Berlin eine Bratescu-Schau.)

Weitere Artikel: Das umstrittene Mauer-Projekt Dau kann dieses Jahr nicht stattfinden: Die Behörden lehnten den Antrag auf Genehmigung ab, meldet der Tagesspiegel. Für die Berliner Zeitung hat sich Ingeborg Ruthe die Schau "Kommunalka 55" in der BQ-Galerie angesehen, in der die Konzeptkünstlerin Irina Rastorgueva und der Dramaturg Thomas Martin eine postsowjetische Gemeinschaftsunterkunft nachgestellt haben: "Das Ganze lässt nicht bloß den Druck der Verhältnisse spüren und offenbart einen sozialen Mikrokosmos. Ganz nebenbei hat es auch etwas von einer subversiven, antispießbürgerlichen Atmosphäre, einer Osmose von trotziger Lebensart und Ideologie."

Besprochen wird die Retrospektive des Malers Balthus in der Basler Fondation Beyeler (taz).
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