Efeu - Die Kulturrundschau

In kühner Untersicht

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.09.2018. Die Presse berichtet von einer Düsseldorfer Weltverschwörung gegen Künstlerinnen. Die Welt bummelt mit Christoph Mäckler durch die Frankfurter Neu-Altstadt. Spon kommt mit Depressionen von einem Branchentreff der Kinobetreiber. Die SZ dokumentiert Volker Brauns kapitalismuskritische Kamenzer Rede.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.09.2018 finden Sie hier

Kunst

Jacopo Tintoretto: "San Marco libera lo schiavo dal supplizio della tortura (detto anche Miracolo dello schiavo)", 1548, Gallerie dell'Accademia, Venedig. (Foto: Archivio fotografico G.A.VE, su concessione del Mibac)


Tintoretto ist ein "zeitloser Moderner", erkennt ein begeisterter Franz Zelger, der für die NZZ zwei Tintoretto-Ausstellungen - in der Accademia Venedig und im Dogenpalast - in Venedig besucht hat. "Sensationelles Aufsehen erregte Tintoretto, als sein 'Sklavenwunder' 1548 im Kapitelsaal der Scuola Grande di San Marco enthüllt wurde. ... Thema seines Pièce de Résistance war die Wundertat des heiligen Markus, der nach der Legende durch sein Erscheinen verhinderte, dass ein christlicher Sklave - auf dem vorliegenden Bild mit den Gesichtszügen des Malers - den Martertod erleiden musste. Das Geschehen erscheint wie in einer theatralischen Inszenierung. Die über dreißig, zum Teil lebensgroßen Figuren, Venezianer, Griechen und Orientalen, evozieren durch ihre Körperhaltungen den Eindruck einer Momentaufnahme. Der rettende Evangelist dringt in kühner Untersicht im Fluge in die Szene ein. Brisant ist auch der zeitgeschichtliche Bezug des Gemäldes, da damals manche Venezianer Leibeigene besaßen, Menschenhandel betrieben und Foltermethoden wie Verstümmelungen zu Strafprogrammen gehörten."

Im NRW-Forum in Düsseldorf wurde vor einigen Tagen die Ausstellung "Die große Weltverschwörung" eröffnet. Nur eine Künstlerin war beteiligt, fiel der Wiener Kuratorin Verena Kaspar-Eisert auf, die ihrem Unmut auf Facebook Luft machte, berichtet Almuth Spiegler in der Presse. Die Reaktion war so dumm wie vorhersehbar: "Die Kuratoren fühlen sich von einem 'banalen Mainstream-Feminismus' verfolgt, der durch eine Quotenforderung Künstlerinnen in ihrer Opferrolle halte, wie Waldvogel in seiner als Replik auf die Kritik formulierten Eröffnungsrede ausführte. Was die erste Reaktion vonseiten der Institution relativierte, in der versichert wurde: 'Es war ganz sicher nicht unsere Intention, weibliche Positionen von der Ausstellung auszuschließen. Es ist aber natürlich richtig, dass wir als Institution hätten hinterfragen müssen, wie es zu der überwiegend männlich besetzten Künstlerliste gekommen ist, und weitere weibliche Positionen hätten einbeziehen müssen.'" Inzwischen haben 900 Personen aus der Kunstszene einen Offenen Brief unterzeichnet, der die Missachtung von Künstlerinnen als strukturelles Problem beklagt.

Weiteres: Von der Berlin Art Week berichten Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung und Nicola Kuhn im Tagesspiegel. Jutta Berger und Anne Katrin Fessler klettern für den Standard von Oberlech aus den Berg hinauf zum neuesten Skyspace von James Turrell. Besprochen wird die große Vasarely-Ausstellung im Frankfurter Städel (FR), eine Spiegel-Installation von Rebecca Horn in der Berliner Hedwigskirche (Tagesspiegel)  und die Ausstellung "The World on Paper" in der Kunsthalle der Deutschen Bank in Berlin (Berliner Zeitung).
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Bühne

Im Standard stellt Margarete Affenzeller den seit drei Jahren in Österreich lebenden Iraker Yousif Ahmad vor, der aus Frust über das Arbeitsverbot für seinen eigentlichen Brotberuf angefangen hat, am Volkstheater Wien aufzutreten. Aber immer nur armer Flüchtling spielen, kann es auch nicht sein, erkennt er: "'Ich bin hier in Österreich nicht Yousif, sondern ein Flüchtling', konstatiert Ahmad. Inzwischen hat er ein Buch geschrieben. Auch ein Theaterstück ist in Vorbereitung. Es handelt von den Verbindungen zwischen Upperclass und Mafia. 'Davon habe ich sowohl im Irak als auch in der Türkei viel mitbekommen. Ich hoffe, dass ich dieses Theaterprojekt eines Tages umsetzen kann.'"

Weiteres: Im Interview mit der Berliner Zeitung erzählt der Schauspieler Marcel Kohler, warum er Jürgen Goschs Inszenierung der "Ödipus-Variationen" gewissermaßen nachinszenieren will. Mounia Meiborg porträtiert in der SZ Bettina Jahnke, die neue Intendantin des Theaters Potsdam. Besprochen wird Lucia Bihlers Adaption von Robert Menasses EU-Roman für das Schauspielhaus Wien (nachtkritik).
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Architektur

In der Welt ist Rainer Haubrich hin und weg von der neuen Altstadt Frankfurts, die er mit dem Architekten Christoph Mäckler erkundet. War gar nicht so einfach, Architekten dafür zu finden, erzählt Mäckler: "Die Mehrheit der Kollegen lehnte eine solche Bauaufgabe kategorisch ab, wie Mäckler erfahren musste, als er sie anrief und fragte, ob sie nicht mitmachen wollten. 'Die wären fast durchs Telefon gesprungen. Einer sagte: Ich baue doch kein Giebelhaus, und dann auch noch mit Schiefer!' Aber es fanden sich dann doch genügend Architekten..."

In der NZZ stellt Deborah Fehlmann das Schweizer Baubüro in situ vor, das abgerissene Gebäude nach wiederverwendbaren Materialien durchsucht. "'Werte erhalten', davon sprechen die Architekten immer wieder. Gemeint sind materielle Werte, aber auch emotionale und identitätsstiftende. Manchmal treffen sie Hausbesitzer oder Bauherren, die aufgrund des Interesses an ihren vermeintlich wertlosen Bauteilen plötzlich selbst anfangen, genauer hinzuschauen."

Besprochen werden die Ausstellung "Königsschlösser und Fabriken - Ludwig II. und die Architektur" im Münchner Architekturmuseum (SZ)
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Film

Mit Depressionen kommt Frédéric Jaeger von einem Branchentreff der Kinobetreiber nach Hause, berichtet er in seiner Quartalskolumne auf SpiegelOnline zum Stand des deutschen Filmbetreibs. Dort arbeiteten Kinobetreiber und Verbandsvorsitzende Jaeger zufolge daran, ein neues Förderprogramm, das insbesondere Kinos auf dem Land im Sinn der Vielfalt des Angebots stärken soll, aufzuweichen, "denn es würde die Multiplexe und Ketten, also diejenigen, die viel Geld umsetzen und entsprechend den Lobbyisten erst ihre Arbeit ermöglichen, außen vor lassen. Schlimmer noch: Es würde die Konkurrenz der Ketten, nämlich die engagierten Programmkinos stärken. Damit das nicht passiert, fallen an dem Abend Sätze wie: 'Kultur darf Spaß bringen, Bildung darf Spaß bringen!' Tatsächlich sind schon die grundlegenden Annahmen falsch: Weder muss Kultur immer Spaß machen, noch braucht Kino das Deckmäntelchen der Bildung. Meist bildet doch just das, was es gar nicht darauf abgesehen hat. Mal macht es Spaß, mal nicht, jagt stattdessen Angst ein, provoziert Sorgen, schüttelt einen durch." Ziemlich zum Schütteln findet Jaeger im Anschluss im übrigen noch die Arbeit der seiner Ansicht nach herzlich überflüssigen Filmbewertungsstelle in Wiesbaden.

Konsequent und präzise: Warwick Thorntons "Sweet Country"
Sehr beeindruckend findet Lukas Foerster im Perlentaucher Warwick Thorntons Australo-Western "Sweet Country", "ein historisch-materialistischer Western von beeindruckender Konsequenz und Präzision. Berückend ist insbesondere der unaufgeregte, gleichmäßige Rhythmus des Films. Die blutige Geschichte um den Aborigine Sam Kelly (Hamilton Morris), der Harry Marsh aus Notwehr erschießt und anschließend von einer Posse durch die Wildnis gejagt wird, entfaltet sich einerseits in geduldiger Seelenruhe, ohne übergriffige dramaturgische Zuspitzungen; andererseits kommt "Sweet Country" nie komplett in einer banal kontemplativen Attitüde zum Stillstand." In epdFilm befasst sich dazu passend Gerhard Midding mit der Geschichte der Aborigines im Film.


Kennt man alles schon: "Offenes Geheimnis" von Asghar Farhadi
In Asghar Farhadis "Offenes Geheimnis" wird "die Gegenwart durchlässig", erklärt Nicolai Bühnemann im Perlentaucher, der dem Film des iranischen Auteurs allerdings auch attestiert, "die übliche Mechanik des Farhadi-Kinos auf ungute Weise" kenntlich zu machen. Der Film, in dem Penélope Cruz ihre entführte Tochter sucht, ist "ästhetisch ganz dem Arthouse-Mainstream verpflichtet." FAZ-Kritiker Bert Rebhandl deutet den Film als "Experiment mit einem humanistischen Universalismus", kommt in filmischer Hinsicht allerdings auch eher ungesättigt aus dem Kinosaal: "Ein großer Filmemacher, der in seiner Heimat mit Sozialkritik vielleicht auch an die Grenzen eines Zensurregimes stößt, vermählt seine Erzählkunst mit den Konventionen eines bürgerlichen Familienkinos, und stößt damit an Grenzen, die der Filmtitel unfreiwillig verrät: Was er hier zeigt, ist im Wesentlichen schon bekannt." Für SZ-Kritikerin Susan Vahabzadehs Geschmack "gibt es hier ein bisschen viel Oberfläche."

Weitere Artikel: Wenke Husmann (ZeitOnline) und Julia Teichmann (Filmdienst) sprechen mit Eva Trobisch über ihren Abschlussfilm "Alles ist gut", in dem eine junge Frau ein Verhältnis dazu zu finden sucht, dass sie vergewaltigt wurde. Andreas Hartmann empfiehlt in der taz eine Dominik-Graf-Werkschau im Berliner Bundesplatzkino. Urs Bühler stimmt in der NZZ auf das Züricher Filmfestival ein. Außerdem erklärt er in der NZZ, wie sich Zürcher Kinos in der momentanen Krisenstimmung für die Zukunft wappnen. Besproch wird Michael Herbigs "Ballon" (FR).

Der Standard präsentiert zudem den von Lav Diaz gestalteten Viennale-Trailer:

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Literatur

Die SZ dokumentiert Volker Brauns gestern Abend gehaltene Kamenzer Rede, als "Dreinrede" eingeführt. Der in Berlin lebende Dichter und Schriftsteller wendet sich darin gegen den allzu simplizistischen politischen Aktionismus mancher seiner Nachbarn - und landet im Zuge selbst bei einer Kapitalismuskritik eher verkürzter Natur, die nach historischen Erfahrungen hässlichen Ressentiments gegenüber ebenfalls sehr aufgeschlossen ist: "Einwanderung - oder Sozialstaat: scheint die Alternative. Aber nicht die Flüchtlinge machen das Problem, sie machen es bewusst. Es sind die Steuerflüchtlinge und Renditeschlepper, wegelagernden Lobbys, das vagabundierende Kapital. Nicht der Zuzug zertrampelt das Land, sondern der Geschäftsgang. Deutschland, wo nur jeder Zweite noch tariflichen Schutz genießt, und ganze Firmen fürchten verkauft zu werden, setzt sich selbst herab. Auch verödete Dörfer sind gewissermaßen 'national befreite Zonen'. Diese schöne Erde ... Wer zerstört sie? Die Verwüstungen richten wir selber an, die Zersiedlung, Vernutzung, Devastierung der Fluren. Und die Unsicherheit und Armut sind von hier, sie wandern nicht ein. Sie haben die Staatsbürgerschaft. Und nicht Selbstbegrenzung und -beschränkung werden Ungleichheit und Unrecht überwinden."

Besprochen werden unter anderem David Schalkos "Schwere Knochen" (online nachgereicht von der FAZ), Gerhard Henschels "Erfolgsroman" (FR), ein Comic über die Geschichte der Ramones (Tagesspiegel), Maggie Nelsons "Bluets" (NZZ) und Zaza Burchuladzes "Der aufblasbare Engel" (FAZ).
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Musik

Für die Welt porträtiert Elmar Krekeler den Pianisten Joep Beving, dem das vielgescholtene Streaming mit zum Durchbruch beim breiten Publikum verhalf: Eines seiner Stücke "landete in der inzwischen legendären Spotify-Playlist 'Peaceful Piano'. Und dann konnte, musste Beving sehen, wie binnen eines Monats seine Streams von 60.000 auf fünf Millionen hochgingen. ... Irgendwann stand dann jener Mann am Tresen, der in der Deutschen Grammophon, dem beinahe weltweiten Walhall der klassischen Musik, fürs neue Repertoire verantwortlich ist, das, was man gängiger-, aber auch fälschlicherweise gern als Neoklassik bezeichnet.Und so ist Joep Beving jetzt Exklusivpianist der Grammophon. "



Besprochen werden ein Konzert des SWR-Symphonieorchesters unter Teodor Currentzis (Standard), das neue Bushido-Album (Tagesspiegel), das Debüt des Wiener Liedermachers Felix Kramer (Standard), ein Konzert der King's Singers (NZZ), ein Auftritt von Rea Garvey (FR) und weitere neue Veröffentlichungen, darunter Jóhann Jóhannssons Soundtrack zu dem Film "Mandy" (Standard). Daraus eine Hörprobe:

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