Efeu - Die Kulturrundschau

Die zitternden Nuancen historischer Erfahrung

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29.09.2018. Der Tagesspiegel meditiert anlässlich des Europäischen Monats der Fotografie über Zeit und Licht. Die SZ liegt in Paris Annie Ernaux zu Füßen. In seinem Kracauer-Stipendiumsblog feiert Lukas Foerster Claudia Weills Indie-New-York-Film "Girlfriends". Nachtkritik und SZ begutachten am Münchner Residenztheater die Revolution.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.09.2018 finden Sie hier

Kunst

Nicolai Howalt, Wavelenth 644 - o nanometer, from the series Lightbreak 2014-2017, courtesy the artist and Martin Asbaek Gallery, Copenhagen
Im Tagesspiegel stimmt Jonas Lages auf den Europäischen Monat der Fotografie ein, der seit gestern an 120 Orten in Berlin die Werke von rund 500 Fotografen vorstellt. Am besten beginnt man im c/o Berlin, wo bis Sonntag nicht nur Diskussionen zum Thema "Licht und Zeit" stattfinden, sondern auch zwei Ausstellungen zum Thema. Sehen kann man dort etwa Witho Worms' Breitbandbilder von Abraumhalden in ganz Europa: "Per Kohledruck bannt Worms sie auf eigens hergestelltes Papier, dessen Pigmente er aus der Kohle der jeweiligen Halden gewinnt. Die dargestellten Kohlekegel, auf die die Fotos verweisen, sind physisch präsent in ihrer Abbildung. Das Sichtbarmachen des Unsichtbaren ist dagegen das Thema von Nicolai Howalts 'Light Break'". Howalt arbeitet mit den Linsen des Nobelpreisträgers Niels Ryberg Finsen, der damit Ultraviolettstrahlung zur Behandlung von Hautkrankheiten bündelte. "Howalt setzte diese Linsen nun auf seine Kamera, richtete sie direkt auf die Sonne und belichtete so das Fotopapier mit UV-Strahlen. Je nach verwendeten Filtern und Wetterbedingungen umstrahlt in diesen vielen Variationen das sonst unsichtbare Licht den schwarzen Sonnenkreis. Mal zart türkis, dann wieder ausgefranst violett."

Richtig objektiv war August Sander bei Erstellung seiner großen Fotoserie "Menschen des 20. Jahrhunderts" natürlich nicht, meint in der FR Michael Kohler anlässlich der großen Sander-Retrospektive in der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur in Köln. "Sander war ein Meister der Komposition, und offenbar fand er für jeden die richtigen Worte. Vor seiner Kamera fremdeln weder Kinder noch Industrielle, noch Revolutionäre; umgekehrt versteckte er die unsicheren Blicke nicht, mit denen ihm einige Bettlerinnen um 1930 begegneten. Dass Sander sein Scheitern im Kleinen derart souverän vorzeigte, spricht dafür, dass er es auch im Großen als zwangsläufig einkalkuliert hatte."

Weiteres: Über die art berlin berichten Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung, Birgit Rieger im Tagesspiegel und Astrid Mania in der SZ. Catrin Lorch stellt in der SZ den Filmregisseur Herbert Achternbusch als Maler und Entwerfer von Stoffmustern vor. Besprochen werden die Situationisten-Ausstellung "The Most Dangerous Game" im Berliner Haus der Kulturen der Welt (taz) und die Vasarely-Ausstellung im Frankfurter Städel Museum ("Umso mehr man Victor Vasarelys Arbeiten von den Bezügen befreit, auch von den recht willkürlich gewählten Titeln, die von Orts- bis zu Sternennamen reichen, umso meditativer wird der Sog, die sie immer noch ausüben", denkt sich Till Briegleb in der SZ). In China müssen Künstler dafür bezahlen, wenn sie ihre Bilder in einem Privatmuseum zeigen wollen, berichtet Minh An Szabó de Bucs in der NZZ.

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Bühne

de Sade und Marat. Foto: Matthias Horn

De Sade als "fettes, eskapistisches Individuum", Marat als Muskelprotz - Tina Laniks Inszenierung von Peter Weiss' "Marat/Sade" am Münchner Residenztheater lässt nachtkritikerin Anna Landefeld kalt. In Fahrt kommt de Sade (gespielt von Charlotte Schwab im Fatsuit) "immer dann, wenn es darum geht, warum man auf das alles scheiße - die Revolution, auf die im Kreis laufenden Massen, die guten Absichten und so weiter: 'Ich glaube nur an mich selbst!' Hoch lebe der Liberalismus. Das sieht de Sades nimmer müdes, agitierendes Geistes-Gegenstück ganz anders: Jean Paul Marat, ein Prachtstück von einem Revolutionär: drahtig, muskulös, gespielt von Nils Strunk. Lanik lässt die beiden debattieren, verpackt die Streitgespräche in grotesken Szenen. Mal hängt Marat kotzend überm Klo unterm Kreuz. Mal will de Sade, Schöpfer der literarisch-pornografischen Gewaltfantasien schlechthin, doch glatt von diesem ausgepeitscht werden. Frei nach Erich Fromm: Lerne dich selbst und deine Mitmenschen durch Grausamkeit kennen. Bei Lanik verkommt diese Allegorie allerdings zum unbeholfenen Klamauk."

In der SZ ist Anton Rainer milder: "Wer will einen Zauberer für seinen schlecht sitzenden Anzug kritisieren, wenn er doch am Ende die richtige Karte aus dem Stapel zieht?"

Weiteres: Doris Meierheinrich besucht für den Tagesspiegel die Proben zu Andres Veiels "Let them eat money" am Deutschen Theater Berlin. Frankfurt ist Opernhaus des Jahres, meldet der Tagesspiegel. Im Theaterpodcast der nachtkritik unterhalten sich Susanne Burkhardt und Elena Philipp über die Kündigung der Intendantin am Tanztheater Wuppertal, Adolphe Binder, den Fall Jan Fabre und das Theater von Jürgen Gosch

Besprochen werden Mohammad Al Attars Dokumentartheater "The Factory" an der Volksbühne Berlin (Berliner Zeitung, nachtkritik), Thom Luzs musikalischer Max-Frisch-Abend "Der Mensch erscheint im Holozän" am Deutschen Theater Berlin (nachtkritik), Thomas Krupas Adaption von Salman Rushdies Roman "Golden House" am Theater Erlangen ("Sozialwissenschaftliche Theorien und Weltgeschichte - 9/11, Occupy, Obama singt 'Amazing Grace' - fliegen geradezu durch den Saal", freut sich nachtkritiker Andreas Thamm) und Jan Philipp Glogers Ionesco-Projekt "Ein Stein fing Feuer" in Nürnberg (nachtkritik).
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Film

Florian Henckel von Donnersmarcks traditionalistische Filmkonzeption steht ihm in seinem neuen, deutlich erkennbar an das Leben von Gerhard Richter angelehntem Film "Werk ohne Autor" eher im Weg, meint Bert Rebhandl im Standard. Nicht nur seine filmische Einbettung der Bombenangriffe auf Dresden sind zu unreflektiert, auch "für die zitternden Nuancen historischer Erfahrung, wie sie in Gerhard Richters Bildern zu erkennen sind, hat Donnersmarck kein Sensorium. So erzählt er letztendlich über sein eigenes Thema hinweg."

Im Kracauer-Stipendiumsblog des Filmdiensts berichtet Lukas Foerster von seiner Begeisterung für Claudia Weills in den Seibzigern entstandenen Indie-New-York-Film "Girlfriends", in dem ihn die kurze Einstellung eines Pferdes ziemlich umhaut: "Was hier isoliert wird, ist ein Stück ästhetische Erfahrung im Modus der Kontemplation, ein Naturschönes, das nicht zu einer stabilen, warenförmigen Postkartenansicht gerinnt, sondern brüchig bleibt, sich nur durch einen glücklichen Zufall ergibt, nicht ohne weiteres wiederholbar (oder mobilisierbar) ist. Ein Moment des Glücks, der Übereinstimmung von Innen und Außen, Psyche und Welt, Kunst und Leben." Auf Youtube gibt es ein Filmgespräch mit der Filmemacherin über ihren Film:



Weitere Artikel: Für den Filmdienst schlendert Josef Nagel durch das in der Mole Antoniella untergebrachte Filmmuseum in Turin. Das Zurich Film Festival wirft in diesem Jahr einen Blick ins Filmland Italien, berichtet Susanne Ostwald in der NZZ. Einigermaßen dämlich findet Jungle-World-Autor Dierk Saathoff viele der zum 20-jährigen Jubiläum erschienenen Würdigungen von "Sex and the City", die den verdienten Serienklassiker ziemlich in die Tonne hauen, dabei "werden viele der angeprangerten Aussagen in der Serie selbst schon problematisiert."

Besprochen werden Eva Trobischs "Alles ist gut" (Freitag, mehr dazu hier), Brad Birds "Die Unglaublichen 2" (SZ) Michael Moores in den USA anlaufender Anti-Trump-Film "Fahrenheit 11/9" (Zeit) und die Free-TV-Premiere des Serien-Großprojekts "Babylon Berlin" (NZZ, Welt, zahlreiche Kritiken und Artikel hier in unseren Presseschauen zur eigentlichen Premiere der Serie vor einem Jahr, außerdem hat die FAZ die Regisseure Hendrik Handloegten, Achim von Borries und Tom Tykwer nochmal an einen Tisch gesetzt).
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Literatur

Vor drei Jahren kannte Alex Rühle die französische, in Deutschland lange Zeit von Publikumsverlagen in der "Blütchencovernische" verramschte Schriftstellerin Annie Ernaux noch nicht, dann hat ihn Didier Eribon mit der Nase auf deren Werk gestupst und nun sitzt er als glühender Verehrer im Auftrag der SZ in ihrer sehr bürgerlichen Wohnung in Cergy vor den Toren von Paris. Die Begegnung mit den Romanen dieser "größten Autorin Frankreichs" war für ihn "einer dieser Momente, die ein Leseleben in ein Davor und Danach teilen: Wie kann man eine Autobiografie schreiben, ohne ein einziges Mal 'ich' zu sagen? Wie kann man nur so elegant und klar über soziale Herkunftsscham sprechen? Über die so feinen wie grausamen Unterschiede, die eine Gesellschaft in ein Oben und ein Unten teilen. Und sechzig Jahre eigene Erinnerungen mit kollektivem Erleben so kühn und kühl verschmelzen, dass alle spüren, dieser Text ist ein Kondensat unserer Zeit, all das hat uns geformt. Beim Lesen stieg eine Art Verpassenswut auf. ... Na, was soll's, jetzt ist sie bei Suhrkamp, und dort gibt man sich alle Mühe, die riesige Lücke möglichst schnell aufzufüllen."

Weitere Artikel: Für den Tagesspiegel hat Deniz Utlu den derzeit in Berlin lebenden türkischen Schriftsteller Murathan Mungan besucht. Denis Scheck ergänzt seinen Welt-Literaturkanon um Les Murrays Versroman "Fredy Neptune". Florian Illies erinnert in der Zeit an den vor hundert Jahren gestorbenen Erzähler Eduard von Keyserling. Die FAZ dokumentiert Arno Geigers Dankesrede zum Joseph-Breitbach-Preis.

Außerdem präsentiert die Literarische Welt die fünf Finalistinnen und Finalisten ihres Schreibwettbewerbs "Die Welt von morgen" für Nachwuchsschriftsteller: Hier die Beiträge von Zelda Biller, Alexander Schnickmann, Mareike Froitzheim, Kristin Höller und Peregrina Walter.

Besprochen werden unter anderem David Foster Wallace' Essaysammlung "Der Spaß an der Sache" (taz), Nino Haratischwilis "Die Katze und der General" (taz), Inger-Maria Mahlkes "Archipel" (Berliner Zeitung), Louise Pennys Krimi "Hinter den drei Kiefern" (FR), Stephan Thomes "Gott der Barbaren" (NZZ), das von Wanja Mues' gelesene Hörbuch zu James Baldwins Roman "Von dieser Welt" (taz), Karl-Heinz Otts "Und jeden Morgen das Meer" (SZ) und Ketil Bjørnstads "Die Welt, die meine war" (FAZ).
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Musik

In der FAZ würdigt Wolfgang Sandner Keith Jarrett der am kommenden Wochenende als erster Jazzmusiker mit dem Goldenen Löwen der Musikbiennale in Venedig ausgezeichnet wird: Jarret absolviert seine Konzerte - Studios sieht er schon seit Jahren kaum noch von innen - "in einem "Zustand der schwebenden Aufmerksamkeit ... Keith Jarretts 'Free Playing', seine assoziative Spielweise, in der die Finger mitdenken und der Künstler sich offenbar in einem ständigen, blitzschnellen Entscheidungsprozess befindet, ob er den Vorgaben seiner wohltrainierten Hände nachgeben oder sich den Angeboten verweigern soll, produziert jenen permanenten Spannungszustand, den seine Hörer so schätzen." Zu seinen gefeierten Klassikern zählt das "Köln Concert" von 1975:



Weiteres: Im BR2-Feature befasst sich Klaus Walter mit dem von  Rhian Jones und Eli Davies herausgegebenen Buch "Under My Thumb", in dem es darum geht, "warum Frauen ausgerechnet diejenigen Männer und ihre Musik lieben, die sie, im günstigsten Fall, in ein heißes Sexsymbol verwandeln und im weniger günstigen Fall in ein bescheuertes Spielzeug." Für die Spex plaudert Franziska Kreuzpaintner mit Matthew Halsall, dem Gründer des Jazzlabels Gondwana Records. In der Austropop-Reihe des Standard erinnert Karl Fluch an den vor zehn Jahren verstorbenen Hansi Lang, der seinen Durchbruch in der New-Wave-Zeit erlebte.



Besprochen werden Tim Heckers "Konoyo" (Pitchfork) und das neue Album der Band Crippled Black Phoenix (FAZ).
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