Efeu - Die Kulturrundschau

Das Chaos des vielen

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04.10.2018. Die Welt versinkt in dem dunkel Unerkannten der Bruegelschen Welt. Der Tagesspiegel verliebt sich in die signalhaften Farben von Lea Mysius' Debütfilm "Ava". In der NZZ fürchtet Daniel Kehlmann das Internet mehr als die KI. Außerdem möchte die NZZ lieber Musik als unterkomplexe politische Stellungnahmen von Musikern hören. Die Welt erinnert sich anlässlich Ruth Beckermanns Waldheim-Doku daran, dass Kurt Waldheim 1986 die erste erfolgreiche antisemitische Wahlkampagne der Nachkriegszeit führte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.10.2018 finden Sie hier

Kunst

Christus muss man im Gewimmel dieser Kreuztragung schon suchen: Pieter Bruegel, d.Ä., Die Kreuztragung Christi, 1564. Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie © KHM-Museumsverband


"Eine Vorstellung, wie es noch keine gab", ruft ein begeisterter Hans-Joachim Müller in der Welt nach dem Besuch der großen Bruegel-Ausstellung im Kunsthistorischen Museum in Wien. Pieter Bruegel kannte die italienischen Maler natürlich, aber deren "Sicht auf die Unordnung der Dinge, in der sich der Einzelne mit überlegener Bewusstseinskraft Durchsicht verschafft, ist Bruegel fremd. Nichts erinnert auf seinen Bildern an die Triumphe der frühneuzeitlichen Aufklärung, die die Grenzen des Wissens ins Unermessliche verschoben und die mittelalterlichen Erklärmodelle ersetzt haben. Bei Bruegel stecken Pferde im Matsch, Kinder spielen, Bauern ernten, Menschen werden gehenkt, gerädert, gekreuzigt. Wo man hinschaut, überall diese rätselhafte Undurchsichtigkeit, Unüberschaubarkeit, das Chaos des vielen, das dem noblen einen keine Chance lässt. Und die gerade noch so wunderbar zentralperspektivisch gedachte Welt löst sich in diesem Werk in lauter unverbundene Spielorte und Schauplätze auf. Mehr als simultane Schilderung lässt der Maler nicht zu. Und keines seiner Gemälde zeugt vom entschiedenen Verstandeszugriff auf die erkennbare Welt. Es ist bei Bruegel so viel dunkel Unerkanntes."

Außer in dem von Müller empfohlenen Begleitkatalog von Taschen kann man die Bruegel-Welt sehr gut auch auf der Webseite "Inside Bruegel" des Museums erkunden, meint Anne Kathrin Fessler im Standard: "Hineinzoomend bis zum Pinselstrich, entdeckt man dort Dinge, die man mit bloßem Auge im Museum niemals erkennen könnte." (Mehr zur Ausstellung hier)

Weitere Artikel: Christiane Meixner resümiert im Tagesspiegel die Art Berlin. Kassel hat den Documenta-Obelisken von Olu Oguibe nun doch abgebaut, meldet der Standard.

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Archipelago" des Künstlerinnenprojekts Goldrausch in den Reinbeckhallen in Berlin-Oberschöneweide (Tagesspiegel), die Ausstellung "Ekstase" im Kunstmuseum Stuttgart (Zeit) und die Ausstellung "Rosetsu: Fantastische Bilderwelten aus Japan" im Zürcher Museum Rietberg (SZ).
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Film

Rohe Sinnlichkeit: Szene aus Léa Mysius' "Ava"

Mit ihrem auf klassischem 35mm-Material gedrehten Debüt "Ava" ist der Filmemacherin Léa Mysius ein wunderbarer Farbfilm gelungen, schreibt Esther Buss im Tagesspiegel. Die Materialentscheidung passt zu dem Film sehr gut, denn wie analoges Material und dessen sinnliche Qualitäten aus dem Kino verschwinden, handelt der Film vom fortschreitenden Sehverlust seiner Titelprotagonistin. "Die Farben in 'Ava' sind leuchtend, flächig und haben die Signalhaftigkeit von Kunststoff und Süßigkeiten. ... 'Ava' ist ein Film der Kontraste: Licht und Dunkelheit, Farbe und Schwarz, das letzte und das erste Mal. Avas Initiation, die natürlich auch eine Initiation der Sinne ist, verbindet Mysius mit einem sexuellen Erwachen", was auf den ersten Blick kitschig wirken mag, "doch Mysius' Idee von Sinnlichkeit ist dafür viel zu roh." Auch Filmgazette-Kritiker Wolfgang Nierlin ist hingerissen: "In einer der schönsten Szenen überfallen die beiden, nackt und mit Lehm beschmiert, ahnungslose Nudisten. Mit vorgehaltenem Gewehr rauben und stehlen sie deren spärliche Habe. Dabei strahlt der Himmel in einem betörend tiefen Blau."

Szene aus "Waldheims Walzer"


Der ehemalige österreichische Außenminister, UN-Generalsekretär und Bundespräsident Kurt Waldheim "hat 1986 die erste erfolgreiche antisemitische Wahlkampagne der Nachkriegszeit geführt", schreibt Alan Posener in der Welt. Ruth Beckermann war damals als Aktivistin gegen ihn auf der Straße - für den Dokumentarfilm "Waldheims Walzer" hat sie das damals entstandene Filmmaterial nun neu gesichtet und zusammengestellt. "Rückblickend betrachtet hat die Waldheim-Affäre etwas Gutes gebracht, weil sie dieses Kartenhaus zum Einsturz gebracht hat", sagt die Filmemacherin im taz-Interview im Hinblick darauf, dass Waldheim sich, trotz SA-Mitgliedschaft, als Opfer der Nazis inszenierte: "Dieses Lügen-Kartenhaus der Opferthese. So konnte ich einen Ton finden, der nicht mehr militant oder böse sein musste, sondern in gewisser Weise amüsiert." Und Martina Knoben erklärt in der SZ: "Beckermann rekonstruiert mit Hilfe einer klugen Montage minutiös, wie der Lügner entlarvt wird - und wie er damit umgeht. Immer wieder modifiziert Waldheim die 'Wahrheit', passt die Aussagen über seine Vergangenheit erkennbar unwillig dem Stand der Ermittlungen an. Er verschweigt, verharmlost, rückt gerade so viel über seine Vergangenheit heraus, wie er muss. Und als die Beweislast immer größer wird, geht er zum Angriff über."

Die Wiedervereinigung macht dem Filmregisseur Andreas Dresen und seiner Drehbuchautorin Laila Stieler immer noch zu schaffen. Und auch die Art des Umgangs mit den Ostbiografien. Deshalb haben sie ihre Filmfigur, den Künstler, Arbeiter und Stasispitzel Gundermann, in ihrem gleichnamigen Film auch so schillernd gezeichnet, erklären sie im Zeit-Interview: "Es ging eben nicht um eine Figur, die durch ein tiefes Tal geht, um stellvertretend für uns alle geläutert daraus hervorzugehen. Eine Figur, die einsieht, dass da Fehler gemacht wurden und Abbitte geleistet werden muss. Es geht darum, dass Gundermann unerlöst bleibt. Es gibt keine Absolution, Punkt", sagt Stieler.

Weitere Artikel: Im Rahmen des Zurich Film Festivals spricht Philipp Meier für die NZZ mit Julian Schnabel über dessen Van-Gogh-Biopic "At Eternity's Gate", in dem Willem Dafoe den berühmten Maler spielt. Urs Bühler plaudert für die NZZ mit dem Schauspieler Olivier Gourmet. Michael Pekler erklärt uns im Standard, wie Zombies zum popkulturellen Filmphänomen wurden. Ilja Richter schreibt in der taz einen Nachruf auf Peter Bosse, den früheren UFA-Kinderstar und späteren Radiomacher.

Besprochen werden Ruth Beckermanns Dokumentarfilm "Waldheims Walzer" über die Waldheim-Affäre (SZ, die taz hat mit der Filmemacherin gesprochen), "A Star is Born" mit Lady Gaga (Tagesspiegel, ZeitOnline, NZZ), Florian Henckel von Donnersmacks "Werk ohne Autor" (NZZ), der Dokumentarfilm "Why are you Creative?" (SZ), Asghar Farhadis "Offenes Geheimnis" (Freitag, unsere Kritik hier), der Netflix-Film "Operation Finale" mit Ben Kingsley als Adolf Eichmann (FAZ), Joshua Z. Weinsteins "Menashe" (Standard, Filmgazette), die Comicadaption "Venom" mit Tom Hardy (taz), eine von Amazon produzierte "King Lear"-Adaption mit Anthony Hopkins (SZ), Kristina Grozevas und Petar Valchanovs auf Heimmedien veröffentlichter Film "Slava" (taz) und der von Arte online gestellte Dokumentarfilm "Pre-Crime" (FR).
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Bühne

In der NZZ berichtet Maximilian Pahl kurz über einen kleinen Eklat bei einer Diskussionsveranstaltung zu Brecht am Theater Chur, wo Regisseur Samuel Schwarz den eingeladenen Claus Peymann anbrüllte: Letzterer lieferte "mit dem Brecht-Zitat 'Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht' das Stichwort für Schwarz, der alles offenbar noch unterbieten will: Es folgt der Wechsel zum Du, Gebrüll in Peymanns Ohr, nicht einmal geistreich sind die Beleidigungen, die Schwarz entfahren. Weil sich der 81-jährige Regisseur weigert, über seine angeblich patriarchalen Probegewohnheiten zu sprechen, fordert Schwarz sein irritiertes Ensemble dazu auf, mit der Vorstellung des Stücks 'Das Verhör des Lukullus' sogleich zu beginnen: Peymann, in entspannter Würde, Intendantin Ute Haferburg und die verstörte Hälfte des Publikums verlassen nach knappen zehn Gesprächsminuten das Theater." Schwarz hat jetzt Hausverbot.

Besprochen werden Sandra Strunzs Inszenierung von Lukas Bärfuss' Kohl-Stück "Der Elefantengeist" am Theater Mannheim (taz, in der SZ bescheinigt Jürgen Berger dem neuen Mannheimer Intendanten Christian Holtzhauer insgesamt einen "geglückter Neustart"), Bernard-Marie Koltès' Stück "Kampf des Negers und der Hunde" am Wiener Akademietheater (Standard), Robert Carsens Inszenierung von Korngolds "Tote Stadt" an der Komischen Oper Berlin (FR, Berliner Zeitung, Tagesspiegel, FAZ), Michael Thalheimers Inszenierung von Horváths "Glaube Liebe Hoffnung" am Burgtheater in Wien (FAZ), Arpad Schillings Inszenierung des "Lohengrin" in Stuttgart ("extrem nüchtern und sehr mutig zugleich", applaudiert Mirko Weber in der Zeit), Milo Raus "Lamm Gottes" am Nationaltheater Gent ("Es zeigt uns die Zukunft als eine schlimme Gegend, als eine Richtung, in die kein vernünftiger Mensch freiwillig gehen würde. Aber wir müssen es ja", seufzt Peter Kümmel anerkennend in der Zeit) und Enrico Lübbes Inszenierung des "Faust" am Schauspiel Leipzig (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Hätte die Schwedische Akademie in den vergangenen Monaten nicht hartnäckig das Projekt der Selbsterosion verfolgt, wäre heute der Literaturnobelpreisträger verkündet worden. Die SZ hat zum Ausgleich bei Literaten nachgefragt, welche Autoren sie ohne den Nobelpreis wohl nie gelesen hätten. T.C. Boyle entscheidet sich (unter anderem) für Isaac Bashevis Singer, Terézia Mora bedankt sich bei J. M. Coetzee, bei dem sie erfahren hat, "wo meine persönlichen Grenzen im Ertragen und im Herstellen von Gewalt in einem Text liegen", und Edoardo Albinati freut sich, dass er als erster in Italien Derek Walcott übersetzt hat. Michael Kumpfmüller möchte Joseph Brodskys Erinnerungen an die Sowjetzeit in seinem Lektüre-Kanon nicht missen: "Die Sowjetunion ist zum Glück Geschichte, aber die bohrenden und überraschenden Fragen Brodskys bleiben. Gegen Ende heißt es an einer Stelle: 'Ich möchte behaupten, dass man letzten Endes von seinen Eltern über seine eigene Zukunft, sein eigenes Altern etwas erfahren will; man will von ihnen auch die allerletzte Lektion erfahren: wie man stirbt.' Diese allerletzte Lektion bleibt aus."

In einem ausführlichen Gespräch mit der NZZ begegnet Schriftsteller Daniel Kehlmann der von KI ausgelösten apokalyptischen Stimmung eher gelassen. "Silikonbasierte Intelligenz" löst bei ihm jedenfalls weniger Unbehagen aus als das Internet: "Wann immer ein neues Medium in die Welt kam und wirkungsmächtig wurde, folgte auf die Erfindung eine Periode großer Verwirrung, Wut und Gewalt" und "erst nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten sich die Eckpfeiler jenes Journalismus, den wir als seriös schätzen gelernt haben: die Trennung von Bericht und Kommentar, die Angabe der Informationsquelle, die Unterscheidung zwischen den Interessen der Medienbesitzer und jener der Redaktion. Die sozialen Netzwerke sind ganz neu, die Menschheit hat noch nicht gelernt, mit ihnen verantwortungsvoll umzugehen."

Weitere Artikel: Mariam Lau runzelt in der Zeit die Stirn angesichts der Entscheidung der Frankfurter Buchmesse, den Verlag der Wochenzeitung Junge Freiheit gemeinsam mit zwei anderen rechten Verlagen in einer Sackgasse am Rande der Halle 4.1 unterzubringen, "ein raumgewordener politischer Katzentisch". Die Zeit kommt außerdem diese Woche mit Buchmessenbeilage: Im Aufmacher macht Ursula März bei einem Gang durch mehrere Buchhandlungen wenig ergiebige Erkundungen, welche Bücher heute noch gekauft werden. In der ersten Besprechung feiert Iris Radisch die georgische Schriftstellerin Nana Ekvtimishvili als Entdeckung.

Besprochen werden Richard Powers' "Die Wurzeln des Lebens" (Freitag), Lukas Rietzschels "Mit der Faust in die Welt schlagen" (Freitag), zwei neue Bücher von Patrick Modiano (SZ), Ronald Webers Biografie über Peter Hacks (Freitag), Thomas Hürlimanns "Heimkehr" (ZeitOnline), Alexa Henning von Langes "Kampfsterne" (Tagesspiegel) und Roberto Bolaños Nachlass-Roman "Der Geist der Science-Fiction" (FAZ).
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Musik

Wenn Künstler aus der klassischen Musik sich politisch äußern, ihre Konzerte für Ansprachen unterbrechen und dergleichen, dann ist das für die Kunst nur selten ein Gewinn und für die Politik allenfalls überschaubar, meint Michael Stallknecht in der NZZ. Mit Schopenhauer rät er dazu, die Musik als solche für sich sprechen zu lassen: Sie "versöhnt, nicht indem sie sich für einen jeweils konkreten guten Zweck einsetzt. Aber indem sie atmosphärisch das gesamte Geflecht der Zeittendenzen in sich bündelt, die sich dem Einzelnen in ihrer Undurchschaubarkeit entziehen. Es wäre deshalb gerade in einer polarisierten und erregten, gehetzten und manchmal auch verhetzten Gesellschaft ein Verlust, wenn diese elementare Trostfunktion geschmälert und beschädigt würde durch reflexartige, unterkomplexe politische Stellungnahmen."

Weitere Artikel: Die Sängerin Cat Power träumt im ZeitMagazin. Wolfgang Sandner berichtet in der FAZ vom "Enjoy Jazz"-Festival in Heidelberg. Karl Fluch ruft im Standard eine weitere pophistorische Textreihe aus: Neben "Unknown Pleasures", wo an Veröffentlichungen abseits bekannter Pfade erinnert wird, soll "Remain in Light" künftig an jene Alben und Musiker erinnern, die zwar bekannter sind, aber weiterhin in Erinnerung bleiben sollen. Den Beginn macht das Talking-Heads-Album "Little Creatures".



Besprochen werden Konzerte von Beach House (Tagesspiegel, Berliner Zeitung), Gewalt (Skug), Daniil Trifonov (Tagesspiegel), und Element of Crime (Tagesspiegel), Funny van Dannens neues Album "Alles gut Motherfucker" (FR) und weitere neue CD-Veröffentlichungen, darunter Anne-Sophie Mutters "Hommage à Penderecki" (Standard).

Und das ist doch mal ein Wort: Die Autoren von The Quietus küren anlässlich des zehnjährigen Bestehens ihres Magazins die 100 besten Alben der vergangenen zehn Jahre. Auf der Nummer 1: der mittlerweile kanonisierte Sakral-Krach von Sunn o)).

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