Efeu - Die Kulturrundschau

Die Gestaltung der schönen Widersprüchlichkeit

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.10.2018. Die NZZ lernt in Mailands Bibliothek der Bäume gesellschaftliche Auswüchse zu vermissen. Die Berliner Zeitung verehrt die sanfte Malerei Otto Müllers. Die Zeit folgt Annie Ernaux auf dem Weg zur Versöhnung mit sich selbst. Außerdem versucht das Musikfeuilleton die Meldung zu verkraften, dass die Spex, Zentralorgan der kritischen Pop-Theorie, zum Ende des Jahres dichtmacht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.10.2018 finden Sie hier

Architektur

Giardini di Porta Nuova. Rendering: Inside Outside


Ganz und gar hingerissen ist NZZ-Kritikerin Antje Stahl von der Bibliothek der Bäume, die die Amsterdamer Architektin Petra Blaisse mit ihrem Büro Inside Outside für Mailand entworfen hat: "Zu Füßen des vertikalen Walds wurden junge Himalayabirken, Silberpappeln und Chinesische Wildbirnen so in die Giardini di Porta Nuova gesetzt, dass sie viele schöne und mitunter konzentrische Kreise bilden. Dazwischen gibt es Holzbänke, Liegestühle und Spielplätze." Aber Stahl erfährt von der Architektin auch, dass Parks für Behörden ein Sicherheitsrisiko darstellen: "Die sicherheitsverliebte und durchbürokratisierte Gegenwart verlangte von Petra Blaisse und ihren Partnern, wie sie erzählt, dass die Bäume einen Mindestabstand von neun Metern haben und die Gräser, aus denen bereits hübsche bunte Blumen herausragen, nicht höher als fünfzig Zentimeter in die Höhe spriessen. Solche Auflagen sind der Albtraum für jeden Designer und verdeutlichen vielleicht zum ersten Mal, wie die furchtbare Metapher der 'gesellschaftlichen Auswüchse' eigentlich entstehen kann: Je undurchsichtiger ein Park werde, desto größer würden die Verstecke für Roma, Geflüchtete, Drogendealer, gibt Blaisse in Zürich zu verstehen."

Archiv: Architektur

Literatur

Das hiesige Feuilleton entdeckt die französische Schriftstellerin Annie Ernaux. Vor kurzem reiste SZ-Kritiker Alex Rühle zu ihr nach Cergy (unser Resümee), wo auch Iris Radisch im Auftrag der Zeit an der Türe ihrer Wohnung klingelte. Jetzt hat die Zeit den Text online nachgereicht: Ähnlich wie Didier Eribon ist auch Ernauxs Biografie eine Geschichte des sozialen Aufstiegs, erfahren wir: In Frankreich, wo Literatur einer Sache der höheren Bevölkerungsschichten ist, mitunter eine Provokation. "Die Schule und das Studium haben sie von ihren Eltern und ihrer Herkunft weiter und weiter entfernt. Mit jedem neuen Buch versucht sie, in ihre Ursprungswelt wieder einzutauchen" - ein schwieriges Unterfangen, da ihr Bildungsstand sie von ihrem früheren Selbst mittlerweile sehr entfernt hat. "In ihrem neuen Buch versucht Annie Ernaux dennoch genau das: den beschwerlichen Weg der Versöhnung mit sich selbst zurückzulegen. Sie versetzt sich in das 18-jährige Mädchen zurück, das sie im Jahr 1958 gewesen ist, als sie in einer Ferienkolonie ihre ersten sexuellen Erfahrungen machte. Der Gedanke, sie könnte sterben, ohne über dieses fremde Mädchen, das sie selbst war, geschrieben zu haben, ließ ihr keine Ruhe. Dieses Mädchen wiederzufinden bedeutete, den ranzigen Geschmack der Fünfzigerjahre noch einmal zu kosten."

Was wissen wir über Ungarn, fragt sich in der NZZ die Schriftstellerin und Übersetzerin Christina Viragh, auf dem Gellért-Hügel in Buda stehend: "Jetzt erinnere ich mich, ich hatte es jahrzehntelang vergessen, dass mir als Kind an solchen strahlenden Herbsttagen die Dinge von weit weg zu kommen schienen, die Töne, das Licht, die scharf gezeichneten Schatten. Es waren Signale aus einem nicht auszulotenden, vielleicht irgendwo in die Schwärze des Weltalls übergehenden Raum, wie ich jetzt auf dem Gellért-Hügel stehend wieder fühle, als hinter mir eine deutsche Touristin sagt, der Blick wäre ja schön, wenn man nicht an den Rest denken würde. Der Rest, ja, wir wissen es. Die Frage ist nur, was wir wissen."

In einem epischen Rückblick in der FR erinnert der Schriftsteller Artur Becker an die polnische dissidente Exil-Zeitschrift Kultura, deren Geschichte Bernard Wiaderny in einer großen Studie (hier eine große Leseprobe als pdf) aufgeschrieben hat: Die in Paris erstellten Hefte "mussten über die Grenze geschmuggelt werden, und die Buch- und Magazinausgaben in der Samisdat-Form waren so klein wie Taschenkalender, sodass man die eng bedruckten Seiten nur mit einer Lupe lesen konnte."

Weitere Artikel: Für den Freitag porträtiert Angelique Chrisafis die französische Schriftstellerin Virginie Despentes. Cornelia Geißler gratuliert in der Berliner Zeitung dem Dichter Gerhard Wolf zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden Elena Ferrantes in neuer Übersetzung vorliegender Debütroman "Lästige Liebe" (NZZ), Bücher von Gabriela Adamesteanu (NZZ), Kapka Kassabovas "Die letzte Grenze Am Rande Europas, in der Mitte der Welt" (Berliner Zeitung), Nino Haratischwilis "Die Katze und der General" (Tagesspiegel), eine Neuauflage von Hans Ostwalds "Vagabunden" (Berliner Zeitung), eine Ausstellung im Badischen Kunstverein in Karlsruhe über die Literatrin Kathy Acker (taz), Richard Powers' "Die Wurzeln des Lebens" (Welt), Thomas Hürlimanns "Heimkehr" (online nachgereicht von der FAZ), Christian Lorenz Müllers "Ziegelbrennen" (Standard), Mick Herrons "Slow Horses" (Standard) und Marjana Gaponenkos "Der Dorfgescheite" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Otto Müller: Zwei Mädchen, 1925 (Ausschnitt). Bild: Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Jörg P. Anders  

Sehr instruktiv findet Ingeborg Ruthe, wie der Hamburger Bahnhof mit der Ausstellung "Maler, Mentor, Magier" die Zeit des Brücke-Malers Otto Müller an der Breslauer Akademie nachzeichnet. Dass Müller Frauen und jüdisches Leben in den Zeichensaal holte, imponiert Ruthe, und auf den Maler lässt sie eh nichts kommen: "Vor allem Mädchen und junge Frauen waren seine bevorzugten Modelle. Er malte und zeichnete sie gleichsam als Beschwörungen einer paradiesischen, von den Verwerfungen der Moderne unberührten - also idealisierten - Welt. So ganz außerhalb der kaputten und selbstzerstörerischen Zivilisation. In Muellers Bildern gibt es nichts Schroffes, Hässliches, Abstoßendes, auch nichts Starres.". Tagesspiegel-Kritikerin Nicola Kuhn beschwert sich allerdings über die Unübersichtlichkeit.

Weiteres: Sehr harsch geht Zachary Small auf Hyperallergic mit der Schau "Everything Is Connected: Art and Conspiracy" im New Yorker Met Breuer ins Gericht, die das selektive Denken noch eine Windung weiterdrehe, ganz so als wären Verschwörungstheorien nur ein ästhetisch-visuelles Motiv.

Besprochen werden die spektakuläre Foto-Sammlung der Royal Photographic Society, die das Londoner Victoria and Albert Museum vor zwei Jahren vom Science Museum übernommen hat (FAZ), die Otto-Müller-Ausstellung "Maler. Mentor. Magier." im Hamburger Bahnhof in Berlin , Berliner Zeitung), die große Bruegel-Schau in Wiens Kunsthistorischem Museum (NZZ) und die Ausstellung "Medeas Liebe" im Frankfurter Liebighaus, bei der auch Georgiens Goldschatz zu sehen ist (SZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Besprochen werden Debussys Vertonung von Edgar Allen Poes "Der Untergang des Hauses Usher" an der Berliner Staatsoper (Tagesspiegel), David McVicars Inszenierung von Berlioz' "Les Troyens" an der Wiener Staatsoper (die Ljubisa Tosic im Standard als "Modenschau szenischer Konventionen" geißelt), Johann Kresniks "Macbeth" in Linz (Standard), Ted Huffmans Kölner Inszenierung von Strauss' "Salome" an der Oper Köln (FAZ) Sebastian Nüblings Bühnenadaption von Sasha Marianna Salzmanns Roman "Außer sich" am Berliner Gorki-Theater (taz), Thomas Guglielmettis Dramatisierung von von Stefan Zweigs Novelle "Brief einer Unbekannten" am Theater Winterthur (NZZ).
Archiv: Bühne

Film

Besprochen werden Hüseyin Tabaks Dokumentarfilm "Die Legende vom hässlichen König" über den kurdisch-türkischen Regisseur Yilmaz Güney (Tagesspiegel, mehr dazu hier) und Bernadett Tuza-Ritters Dokumentarfilm "Eine gefangene Frau" über eine Haussklavin (Jungle World, mehr dazu hier).
Archiv: Film

Musik

Das Popfeuilleton in Schockstarre: Die Spex wird Ende des Jahres eingestellt, wie Chefredakteur Daniel Gerhardt gestern in einem Editorial mitteilte. Die Gründe? "Der Anzeigenmarkt befindet sich seit Jahren im Sinkflug. Immer mehr Unternehmen ziehen sich vollständig aus dem Printgeschäft zurück und investieren ihre Marketinggelder stattdessen vermehrt in Social-Media-Werbung - ein Trend, der sich 2018 nochmals verschärft hat." Auf ZeitOnline zeigt sich Georg Seeßlen, selbst Spex-Autor, sehr betrübt darüber: Mit der Spex gehe gerade wegen der Bindung ziwschen Medium und Lesepublikum etwas sehr Besonderes verloren. "Die Spex war das ideale Medium für das, was den 'Essay' im Innersten ausmacht: offen, persönlich, neugierig und wagemutig. Klar, war das auch schon der nächste Spagat: Popleitmedium zu sein und Experimentierstation, vom literarischen Anspruch und Design her Avantgarde zu sein und gleichzeitig im Pop geerdet. Da wurde im Prinzip jede Entscheidung, jeder neue Impuls zur Gestaltung der schönen Widersprüchlichkeit, in der man zu arbeiten hatte."

"Man musste Spex nicht immer verstehen, die Zeitschrift zu lesen war eine Frage der Haltung, und der Sound des Magazins schien mehrspurig aus neuester Musikproduktion und Theorie gemixt zu sein", schreibt Harry Nutt in der Berliner Zeitung und macht eine traurige Beobachtung in einer aktuellen Ausgabe, wo Jens Friebe in einem Gespräch sagt: "'Vermutlich ist es heute schwieriger, über Pop zu schreiben, als selbst Pop zu machen.' Das klingt nun wie ein sentimentalischer Abschiedsakkord."

Ist das Internet schuld am Untergang der Musikmagazine Spex und Groove? Schuld hat vor allem der Wegfall der Werbeanzeigen, so Jan Kedves in der SZ. Der Niedergang der Popmagazine liege aber vor allem auch daran, "dass der Informationsvorsprung, aus dem Magazinredaktionen lange einen Großteil ihrer Autorität zogen, zunehmend schwand. Über ein neues Album weiß seit dem digitalen Wandel die ganze Welt zeitgleich Bescheid. Im Falle von Spex ließe sich sogar sagen, dass der legendäre Status des 1980 gegründeten Magazins noch komplett in analogen Zeiten gründet." Dass die Spex seit Jahren allerdings die Originalität der Gründergeneration vermissen lässt, erwähnt Kedves auch.

Und die taz hat Stimmen aus dem Betrieb gesammelt.

Weitere Artikel: Ann-Kathrin Mittelstraß blickt in der SZ zurück auf das Schaffen der Pet Shop Boys, die gerade ihre Alben von 1985 bis 2012 wiederveröffentlicht haben. Für die taz plaudert Andreas Rüttenauer mit dem linken bayerischen Liedermacher Hans Söllner. Der Freitag bringt ein A-Z über Nico.

Besprochen werden das neue Album von Planningtorock (Spex), das Comeback-Album von Elvis Costello (Welt), der Auftakt des Berliner Festivals "100 Jahre Copyright" mit einem Konzert des Duos Den Sorte Skole (Tagesspiegel) und das neue Album "Selva Oscura" von Wiliam Basinski und Lawrence English (Pitchfork).
Archiv: Musik