Efeu - Die Kulturrundschau

Und das Gedicht/ mit Fingernägeln in die Wand

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18.10.2018. Der Schriftsteller Tom Schulz besucht für die NZZ die griechische Insel Leros, auf der die deutschen Besatzer fast dreißigtausend Partisanen sterben ließ oder selbst töteten. Der Tagesspiegel feiert den magischen Realismus in der italienischen Malerei. Der New Yorker ist hin und weg von Hilma af Klint. Die taz fragt anlässlich von Lukas Dhonts Debütfilm "Girl" ernsthaft, ob nicht-transgender Filmleute einen Film über eine Transgender-Person machen dürfen. Die SZ trauert mit dem 76-jährigen Soulsänger Swamp Dogg um dessen verlorene Virilität.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.10.2018 finden Sie hier

Literatur

In der NZZ berichtet der Schriftsteller Tom Schulz von seiner Reise auf die griechische Insel Leros im Ägaischen Meer, die früher als Straflager gedient hat. Der Dichter Jannis Ritsos etwa war hier interniert. "Von dreißigtausend inhaftierten kommunistischen Partisanen, die gegen die deutschen Besatzer gekämpft hatten, überlebten damals nur wenige Folter, Zwangsarbeit, Hunger und Krankheiten. Ritsos Gedichte, die in der Gefangenschaft entstanden, bezeugen auf eindrückliche Weise das Bekenntnis zum Leben und die tiefe Verbundenheit mit dem griechischen Volk. Er war einer der Überlebenden. Aber was heißt das, mit dem Leben davonzukommen: 'Wir schwiegen, jahrelang schwiegen wir/ wieder Schweigen, wieder alles zu?/ Und das Gedicht/ mit Fingernägeln in die Wand.'"

Weitere Artikel: In der Welt deutet Wieland Freund den Man-Booker-Preis für Anna Burns vor dem Hintergrund des Brexits und der Situation Nordirlands.

Besprochen werden Vladimir Sorokins Comic "Das weiße Quadrat" (SZ), Philippe Sands' "Rückkehr nach Lemberg" (NZZ), Wolf Wondratscheks "Selbstbild mit russischem Klavier" (Standard), Eduard von Keyserlings gesammelte Erzählungen (Berliner Zeitung) und Hans Magnus Enzensbergers "Eine Handvoll Anekdoten" (FAZ).
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Kunst


Carlo Carrà, Vasi sul davonzale, 1923, Privatsammlung, courtesy Galleria dello Scudo, Verona


Viel zu entdecken gibt es in einer Ausstellung mit Werken des magischen Realismus aus dem Italien der zwanziger Jahre im Folkwang Museum Essen, verspricht Bernhard Schulz im Tagesspiegel. Die Künstler sind hierzulande kaum bekannt: "Diese Gemälde sind unpolitisch, sie enthalten nichts, was der Sphäre der Politik zuzuordnen wäre. Die Melancholie, die sie verströmen, kommt aus den Dingen selbst, zumal die Maler den menschlichen Körper selbst als Ding behandeln, als eine abgeschlossene Wesenheit. Dabei spielt das Porträt eine große Rolle; anders als in der deutschen Neuen Sachlichkeit, die sich bewusst auf Objekte zumal technischer Herkunft kapriziert. Doch wenn Baccio Maria Bacci einen 'Nachmittag in Fiesole' malt, dann gruppieren sich vier Personen schweigend um einen Tisch, der die Spuren einer Mahlzeit trägt, also auf Vergangenes deutet. Dieses Gefühl des unwiederbringlich Vergangenen auch und gerade dort, wo es eben noch Gegenwart war, lässt sich in den Bildnissen etwa der 'Silvana Cenni' von Felica Casorati oder der 'Fremden' von Bortolo Sacchi erspüren, und selten ist eine Darstellung so lebhaft wie die der Schauspieler in den 'Masken' von Gian Emilio Malerba."

Hilma af Klint, Group IV, No. 3, The Ten Largest, Youth, 1907. Bild: Royal Academy, London
Das Werk von Hilma af Klint ist erschreckend esoterisch, aber gleichzeitig auch nur solange gut, wie sie esoterisch war, lernt ein begeisterter Peter Schjeldahl, Kunstredakteur des New Yorker, in einer Klint-Ausstellung im Guggenheim Museum in New York. Klint, 1862 bei Stockholm geboren, erfand die abstrakte Malerei gewissermaßen im Alleingang, nachdem sie mit einer Gruppe Frauen bekannt wurde, die regelmäßig Seancen abhielt. "Das Gemälde, das anfangs meine Aufmerksamkeit erregte - und mich, wie ich später feststellen sollte, irreführte -, trägt den Titel 'Nr. 3, Jugend'. Es beeindruckte mich als eine K.o.-Aktion der abstrakten Kunst, unabhängig von ihrer Motivation. ... Bei meinem zweiten Besuch der Ausstellung veränderte sich etwas. Der Rest der Reihe behauptete allmählich eine prinzipielle Vorstellung, die dem ästhetischen Vergleich - und sogar der Kunst - gleichgültig gegenüber stand, weil sie etwas Wichtigerem unterworfen ist. Jedes Bild, und sogar jedes Detail eines jeden Bildes, bedeutet etwas. (Zum Beispiel kann af Klints Zuweisung von 'ave maria' an die Jugend auf den Katholizismus als unausgereifte Phase des spirituellen Wachstums hinweisen.) Keine konstituierende Arbeit funktioniert außerhalb des Ganzen. Af Klint übte keinen Stil aus, trotz des außergewöhnlichen Eklats von 'No. 3, Youth' und mehrerer anderer Werke in der Ausstellung. Sie kanalisierte Visionen, die sie von einer Geisterwelt erhielt. Ob es eine solche Sphäre gibt oder nicht, hängt wohl davon ab, was Sie mit 'Existenz' meinen. Wäre sie für af Klint nicht wirklich gewesen, würden wir jetzt nicht über sie reden."

Weiteres: Jonathan Meese und seine Mutter sprechen im Interview mit Zeit online über Nazi-Symbole, Ahrensburg, Realität und Kunst.

Besprochen werden außerdem die Bruegel-Ausstellung im Kunsthistorischen Museum Wien (taz), die Immendorff-Retrospektive im Haus der Kunst in München (FAZ), eine Ausstellung des amerikanischen Fotografen Nicholas Nixon im c/o Berlin (FAZ) und die Ausstellung "Florenz und seine Maler. Von Giotto bis Leonardo da Vinci" in der Alten Pinakothek in München ("Ausstellungen zur Florentiner Kunst hat es schon viele gegeben. Verführerisch an dieser ist ihre Einladung zur Versenkung und zum Vergleich", lobt Kia Vahland in der SZ).
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Film

Das Wahrnehmbare und die Schaulust: Victor Polsterer in Lukas Dhonts "Girl"
Ein großartiges Kinoerlebnis ist Lukas Dhonts Debütfilm "Girl", in dem Victor Polster ein transsexuelles Mädchen vor ihrer Geschlechtsangleichung spielt, erklärt Nina Jerzy in der NZZ: "Zärtlich und unerbittlich erkundet der junge Belgier das emotionale Schlachtfeld der Jugend. ... Dhont ist mit der Besetzung von Victor Polster ein außergewöhnlicher Glücksgriff gelungen. Es ist kaum zu fassen, dass der 2002 in Brüssel geborene Balletttänzer mit 'Girl' ebenfalls sein Kinodebüt gibt. Er verkörpert Lara mit aufwühlender Selbstverständlichkeit. Alle Dramatik wird verinnerlicht, an die Oberfläche dringt nur selten etwas." Auch Carolin Weidner feiert in der taz die darstellerischen Leistungen, hält aber auch die laut gewordenen Kritik an dem Film, dass keine transsexuelle Person die Hauptrolle spielt und auch Regisseur und Drehbuchautor keine Transgender-Personen sind, für beachtenswert. Lässt sich mit diesem Hintergrund "eine Geschichte wie die von Lara wirklich glaubhaft erzählen? Und tatsächlich bedient sich 'Girl' zahlreicher voyeuristischer Perspektiven: Laras Obsession für ihr Genital scheint auch der Kamera zu eigen, die sich immerzu auf die Suche nach der verräterischen Beule macht. Oder ist es die eigene Schaulust, die da über Wahrnehmbares richtet?"

Weitere Artikel: Barbara Wurm empfiehlt in der taz eine Reihe zum georgischen Film im Berliner Kino Arsenal. Urs Bühler plaudert in der NZZ mit Ethan Hawke. Besprochen werden Matteo Garrones vor Kulisse einer heruntergekommenen italienischen Küstenstadt spielendes Gangster-Drama "Dogman", das laut den Kritiken zwischen Genrefilm und Neorealismus changiert (taz, Tagesspiegel, FAZ, SZ, NZZ), Wojciech Smarzowskis kirchenkritischer Film "Kler" (Tagesspiegel), Jean-Claude Brisseaus auf DVD veröffentlichter "Teuflische Versuchung" (taz), Sönke Wortmanns "Der Vorname" (Tagesspiegel), der dritte "Johnny English"-Film mit Rowan Atkinson (SZ) und William H. Macys "Krystal" (FAZ).
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Bühne

Die Komponistin und Performerin Julia Mihály denkt im Gespräch mit der neuen musikzeitung über neue Musik, Ökonomie und Kunst nach. Doris Meierhenrich berichtet in der Berliner Zeitung vom Festival "War on Peace" im Berliner Gorki-Theater.

Besprochen werden Jochen Biganzolis Inszenierung von Webers "Freischütz" in Lübeck (nmz), Verena Stoibers Inszenierung des "Freischütz" in Karlsruhe (FR) und Berlioz' Oper "Les Troyens" in Wien (FAZ).
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Architektur

Bernd Dörries besucht für die SZ Asmara in Eritrea, "die wahrscheinlich schönste Hauptstadt des Kontinents und auch die seltsamste, es sieht eher nach Italien 1930 aus als nach Afrika 2018 ... Während sich die Nazis in Deutschland eher am Klassizismus orientierten, erbauten die Italiener Asmara in allen Stilen der modernen Architektur, junge Architekten wurden nach Afrika geschickt und durften sich hier austoben. Mit dem Ergebnis, dass man nirgends auf der Welt Futurismus, Art déco, Novecento, Bauhaus, Rationalismus und Monumentalismus so gut studieren kann wie hier."

Außerdem: Die Missachtung weiblicher Architekten ist einfach skandalös, schäumt Oliver Wainwright im Guardian.
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Musik

Dylan Jones' David-Bowie-Biografie bietet viel anregenden Stoff, doch etwas vermisst Zeit-Kritiker Jens Balzer: "Was fehlt, ist zum Beispiel der Umstand, dass Bowie zeitlebens ein begeisterter Anhänger des selbsternannten satanistischen Hohepriesters und Hitler-Verehrers Aleister Crowley war. Man erfährt davon an einer einzigen Stelle, weil Bowie jene Leidenschaft mit dem Led-Zeppelin-Gitarristen Jimmy Page teilt. Als Bowie 1976 nach längerem Aufenthalt in den USA nach London zurückkommt, posiert er an der Victoria Station im Schwarzhemd der British Union of Fascists und begrüßt seine Fans mit nach oben gerecktem Arm; eine Geste, die in Jones' Biografie als 'missverständlich' abgehakt wird. Dass Bowie in zahlreichen Interviews Adolf Hitler als sein großes Vorbild benennt und dass er sich schon 1969 als Anhänger des Rassisten Enoch Powell bekannt hat, das alles bleibt unerwähnt oder unbewertet."

Dass der 76-jährige Soulsänger Swamp Dogg auf seinem neuen, passend "'Love, Loss, and Auto-Tune" betitelten Album seine Stimme im Autotune-Exzess badet, daran muss man aich auch erstmal gewöhnen, meint Klaus Walter in der SZ. Die Platte macht mit dem Klassiker "Answer Me, My Love" auf, doch "selten war die Rede von der Dekonstruktion so angebracht wie bei diesem Album-Auftakt, selten war ein Song gleichzeitig so deprimierend und so euphorisierend. ... 'Love, Loss, and Autotune' dreht sich allerdings auch um schwindende Männlichkeit. Was bedeutet es, wenn die gebrechliche Stimme des einst so virilen Sängers verfremdet wird? Schämt er sich? Versteckt er sich?" Zu beobachten etwa im Video zum Stück "I'll Pretend":



In Berlin wurde erstmals der Opus Klassik verliehen, der Nachfolgepreis des ramponierten Echo. Ein zweifelhaftes Vergnügen, meint Christine Lemke-Matwey in der Zeit, die sich angesichts des von Thomas Gottschalk moderierten, in Kitsch und Zoten ersäuften Abends in ihrem Sessel ziemlich gewunden hat: "Die Behauptung, nicht der Kommerz bestimme den neuen Preis, sondern die nackte, quasi demokratisch ermittelte künstlerische Qualität, ist, wenn nicht dreist, so doch sehr kühn. ... Wie fördert man die klassische Musik? So nicht. So möchte man sie ganz einfach nur einpacken, wegtragen und vor einem Markt in Schutz nehmen, der nichts als Abziehbilder produziert. Und nahezu alles verrät, was mit der Utopie der Klänge jemals gemeint gewesen sein könnte."

Weitere Artikel: Die Spex hat sich gewissermaßen zu Tode gesiegt, schreibt Gerrit Bartels im Tagesspiegel: War das Magazin in den 80ern noch einsame Speerspitze des Popdiskurses, diffundierten deren Autoren und Redakteure ab den 90ern zusehends in die Feuilletons. Iso Camartin befasst sich in der NZZ mit der Geschichte des "Volkstons", in dem im 19. Jahrhundert zahlreiche Komponisten Lieder zu leichten Mitsingen komponieren. Simon Rayss porträtiert im Tagesspiegel die in Berlin residierende australische Band Parcels. Für die Welt plaudert Josef Engels mit Schauspieler Seth Goldblum über dessen Debüt als Jazzpianist.

Besprochen werden ein Konzert des Operntenors Juan Diego Flórez (Standard), ein Auftritt von Kim Wilde (FR) und neue Alben der Baritone Andrè Schuen, Christoph Prégardien und Holger Falk (FR).
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