Efeu - Die Kulturrundschau

Leuchtende Zerbrechlichkeit

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27.10.2018. Die Welt ärgert sich über die Frauenfiguren in der Serie "4 Blocks": Hat mit der Realität von Frauen in Neuköllner Clans wenig zu tun, meint sie. Der Guardian porträtiert die japanische Fotografin Rinko Kawauchi. In der SZ spricht Barbara Mundel über ihre Pläne für die Münchner Kammerspiele. In der Literarischen Welt versichert Peter Sprengel: Mit "Weltpuff Berlin" lernen wir Rudolf Borchardt nochmal neu kennen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.10.2018 finden Sie hier

Film


Die deutsche, im Neuköllner Clan-Milieu angesiedelte Serie "4 Blocks" wird landauf, landab für ihren Realismus gepriesen. Doch gerade bei den Frauenfiguren teilen sich Realität und Fiktion, ärgert sich Jennifer Wilton in der Welt. Der Grund: Während bei den Recherchen die Gangster sehr offen mit den Autoren zusammenarbeiten, war an die Frauen kaum ein Rankommen. In Frauenvereinen bekamen die Autoren dann äußerst bedrückende Geschichten zu hören, "eine Realität, von der die Schauspielerinnen ziemlich weit entfernt sind. Anders als die der männlichen Schauspieler: Es sind dabei einige, die für die Serie zum ersten Mal vor der Kamera stehen, Rapper, deren Freunde, Leute, die sich in Neukölln auskennen. In den Lebensläufen der Schauspielerinnen stehen renommierte Schauspielschulen, sie haben in einigen Filmen mitgespielt, sie wissen, was sie da machen. Und sie können es, auch deswegen sind ihre Figuren stark. Sie sind nicht in Deutschland geboren, was im Grunde nur deshalb von Bedeutung ist, weil natürlich nach ihrer Biografie gefragt wird und damit auch danach, ob sie für ihre Rollen aus dem eigenen Leben schöpfen können. Die Antwort fasst die Schauspielerin Maryam Zaree gut zusammen: Null. Bildungsbürgertum statt Getto."

Weitere Artikel: Margarete Wach porträtiert im Filmdienst den Dokumentarfilmemacher Frederick Wiseman, dessen "Ex Libris" die Kritiker derzeit in Verzückung versetzt. Bei Artechock freut sich Rüdiger Suchsland auf die Viennale unter der neuen Leiterin Eva Sangiorgi. Im Filmdienst spricht Margret Köhler mit Ziad Doueiri über dessen libanesisches (hier besprochenes) Politdrama "Der Affront". Besprochen werden die Serie "You" (FR) und die Serie "The Romanoffs" mit Isabelle Huppert (SZ).
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Literatur

Die FAZ bringt Auszüge aus dem im November erscheinenden Briefwechsel zwischen Arno Schmidt und Hans Wollschläger, in dem Letzterer nicht nur über gesundheitliche Probleme klagt, sondern von sich abzeichnenden Großereignissen kündet: "Ich verhielt mich, wie Sie's wollten; nahm den ULYSSESAuftrag an; unfroh freilich dabei : denn daß sich Joyce nun mit mir begnügen muß, wo er doch, unter etwas variierten Bedingungen, vor wenigen Jahren noch Sie hätte haben können, ist eine Fügung des Zufalls, der die Mit und Nachwelt kaum ganz unvermischten Gefühles dankbar sein wird . . . Unseld selbst war von unerwarteter Vernünftigkeit, vor allem auch die Finanzierung betreffend: er zahlt mir ab 1. Januar 68 auf vier Jahre monatlich 1250.- DM..."

Die Präsentation von Rudolf Borchardts pornografischem Nachlassroman "Weltpuff Berlin" auf der Frankfurter Buchmesse geriet, der Berichterstattung zufolge, zum schmierigen Ereignis. Doch was ist wirklich dran an dem Buch? Für die Literarische Welt hat Katharina Teutsch beim Borchardt-Experten Peter Sprengel nachgefragt. Der ist der Ansicht, dass die Welt sich sicher auch ohne diesen Text weitergedreht hätte. Borchardt-Fans aber können sich darauf freuen, "den großen Vertreter der 'schöpferischen Restauration' von einer neuen Seite kennenzulernen. ... Der Roman ist egomanisch auf ein sexuell aktives Ich bezogen. Ein gewisser Rudolf Borchardt reist hastig mit dem Taxi von einem Termin zum anderen, arbeitet gewissermaßen eine Dame nach der anderen ab und kommt vor lauter Stress gar nicht dazu, Berlin als soziales Gebilde zu sehen." Allerdings komme auch das geistige Wohl nicht zu kurz, denn auch "Bildung spielt in diesem Porno eine große Rolle. Insofern ein echter Borchardt!"

Weitere Artikel: Für den Dlf Kultur hat sich Dorothea Westphal ausführlich mit Büchner-Preisträgerin Terézia Mora unterhalten. Luisa Willman spricht in der taz mit Schriftstellerin Katharina Hacker. Dirk Knipphals freut sich in der taz, dass der Nachlass der Rutschkys von der Berliner Akademie erworben wurde und wissenschaftlich ausgewertet werden soll. "Das schönste Blaugrün ist jenes, das sich im Himmel über St. Petersburg ab Herbstbeginn zeigt",  schreibt die Schriftstellerin Julya Rabinowich in ihrer Standard-Kolumne. Maximilian Kalkhoff porträtiert für SpiegelOnline den chinesischen SF-Autor Liu Cixin. Und im Logbuch Suhrkamp liest Albert Ostermaier das Gedicht "Auswege".

Besprochen werden unter anderem Teresa Präauers Essay "Tier werden" (NZZ), Adolf Muschgs "Rückkehr nach Fukushima" (taz), Tijan Silas "Die Fahne der Wünsche" (taz), Goran Vojnovis "Unter dem Feigenbaum" (NZZ), László Krasznahorkais "Baron Wenckheims Rückkehr" (Zeit), Marilynne Robinsons "Zuhause" (Welt), Michael Krügers "Vorübergehende" (SZ), David Sedaris' Geschichtensammlung "Calypso" (SZ) und Kenzaburo Oes "Der nasse Tod" (FAZ).
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Musik

Christian Wildhagen berichtet in der NZZ von seiner Reize mit Riccardo Chailliy und dem Lucerne Festival Orchester nach Shanghai. Der Musikwissenschaftler Erich Singer erzählt in der NZZ die Geschichte, wie der tschechische, 1959 im Schweizer Exil verstorbene Komponist Bohuslav Martin im August 1979 nach langem Hin und Her doch noch in seine Heimat umgebettet wurde - was fast daran zu scheitern drohte, dass die tschechische Delegation für den einbalsamierten Leichnam einen zu kurzen Sarg mitgebracht hatte. Julia Lorenz porträtiert in der taz Nadin Deventer, die als erste Frau das Jazzfest Berlin leiten wird. Sven Sakowitz stellt in der taz die Hamburger Hiphop-Band Neonschwarz vor, die am 6. November gemeinsam mit Feine Sahne Fischfilet in Dessau auftreten wird. Für die taz hat sich Simone Schmollack mit dem dissidenten DDR-Liedermacher Stephan Krawczyk getroffen, der unter dem Titel "Audiographie" gerade eine Werkschau veröffentlicht hat. Elena Witzeck berichtet in einem online nachgereichten FAZ-Artikel von ihrem Treffen mit dem Franko-Elektro-Popper Flavien Berger. In der FAZ gratuliert Jürgen Kesting der Sopranistin Edda Moser zum 80. Geburtstag. Außerdem bringt ZeitOnline eine hübsche Strecke mit Bildern aus einem Fotoband aus Bruce W. Talamons Soul-Fundus.

Besprochen werden ein Konzert von MusicAeterna mit Philippe Hersants unter Teodor Currentzis (Tagesspiegel), das neue Album von Robyn (SZ), eine neue EP von Boygenious (Pitchfork), Klaus Johann Grobes "Du bist so symmetrisch" (Spex), Heather Leighs Album "Throne" (Spex) und diverse neue Metal-Alben (The Quietus).
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Kunst

Jake Verzosa, The Last Tattooed Women of Kalinga, 2016

In der Ausstellung "Grey is the new Pink" im Frankfurter Weltkulturen Museum lernt FR-Kritikerin Judith von Sternburg nicht nur, wie sehr sich Muster und Haltungen rund um das Thema Altern in in unterschiedlichen Gesellschaften ähneln, sondern sie macht auch erstaunliche Entdeckungen: "Während man über die aufwendigen Tätowierungen der schönen Greisinnen von Kalinga (Philippinen) staunt, über eine Antifaltencreme aus Sumatra, deren Bestandteile Sie nicht genau kennen wollen, über afrikanische 'Prestigeobjekte' für alte Kämpen oder südamerikanische Federn, die der alternde Träger nicht mehr zum Schutz benötigte und darum den Jungen (noch Verletzbaren) überließ, zeigt sich in der interessanten Einzelheit doch permanent das System des Lebens."

Rinko Kawauchi. Aus der Serie AILA
Für den Guardian porträtiert Sean O'Hagan die japanische Fotografin Rinko Kawauchi, deren Arbeiten anlässlich des Taylor Wessing Preises für fotografische Porträts aktuell in der Londoner National Portrait Gallery zu sehen sind. Kawauchis Aufnahmen von Natur und Familien sind von "leuchtender Zerbrechlichkeit", meint O'Hagan: "Ihr Ansatz ist geduldig, zutiefst aufmerksam, ähnlich einer Art erhöhter Meditation. 'Es geht darum, einen bestimmten Geistesraum zu finden, wenn das Sinn ergibt. Wenn ich ein Foto mache, folge ich meiner Intuition, ohne nachzudenken. Zu viel zu denken ist langweilig, nicht gut. Es verhindert, dass das Überraschende durchkommt. Wenn ein Bild entsteht, sage ich einfach 'Danke' und mache weiter. Erst danach werde ich Redakteurin und verleihe dem Werk die Bedeutung.'"

Weitere Artikel: Im New Yorker Auktionshaus Christie's ist mit "Portrait Edmond de Belamy" am Donnerstag zum ersten Mal ein von einer Künstlichen Intelligenz gemaltes Bild versteigert worden - zum Rekordpreis von 432 500 Dollar. Nur ein "weitere Schritt zur Eventisierung des Kunstmarkts", winkt Regina Wank im Tagesspiegel ab. In der SZ kommt Andrian Kreye zu einem ähnlichen Schluss. Fasziniert hat sich Stefan Trinks in der FAZ in der Bremer Kunsthalle Scherenschnitte von Hans Christian Andersen angesehen, die ihm tiefe Einblicke in Andersens Unbewusstes gewähren: "Vielleicht ihm selbst gar nicht immer bewusst, treten aus dem Sumpf seiner Seele verdrängte Ängste sowie gesehene und erlebte Demütigungen wie visuelles Faulgas nach oben."

Besprochen werden die Ausstellungen "Odyssey: Jack Whitten Sculpture" im New Yorker Met Breuer (FAZ) und die James-Bridle-Ausstellung "Agency" in der Berliner Nome Gallery (taz).
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Bühne

Im SZ-Interview mit Christine Dössel spricht die designierte Intendantin der Münchner Kammerspiele, Barbara Mundel, über ihre Pläne mit dem Haus, patriarchale Strukturen am Theater und den Moment, der sie als Dramaturgin der Volksbühne dazu brachte, als Frau eine Führungsposition anzustreben: "Das war ein Jungsclub um Frank Castorf und Matthias Lilienthal. Die Volksbühne war gerade mal wieder in der Krise, und wir in der Dramaturgie haben viele Ideen entwickelt, wie wir da rauskommen könne. Die hat Castorf dann einfach über den Haufen geworfen. Es wurden an dem Haus auch zu viele Regisseure und Künstler geschlachtet. Da wusste ich, entweder werde ich Teil des Systems oder ich muss da raus."

Weitere Artikel: In der NZZ geht Bernd Noack der eigenwilligen Faszination der Passionsspiele in Oberammergau auf den Grund. Besprochen werden Felix Hafners Inszenierung von Dostojewskijs "Dämonen" am Münchner Volkstheater (nachtkritik) und Helge Schmidts Inszenierung "Cum-Ex Papers" am Hamburger Lichthof-Theater (nachtkritik).
Archiv: Bühne