Efeu - Die Kulturrundschau

So könntet ihr auch leben

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29.10.2018. Am Samstag hat die Schriftstellerin Terézia Mora den Büchnerpreis erhalten. Und zwar als freier Mensch, nicht als Ausländerin und Frau, wie sie in ihrer Dankesrede anklingen lässt.  Die FAS fragt, wann eigentlich die große Bauhaus-Aktion zum Wohnen der Zukunft kommt. Die FR feiert die im MMk gezeigte amerikanische Bildhauerin Cady Noland als messerscharfe Analytikerin der Moderne. Die Nachtkritik erlebt Wahnwitz und Not in Yael Ronens Münchner Suche nach dem Ursprung "Genesis/A Starting Point".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.10.2018 finden Sie hier

Literatur

Am Samstag wurde der Büchnerpreis an die Schriftstellerin Terézia Mora verliehen. In ihrer in Briefform gehaltenen Dankesrede (hier nachzuhören beim Dlf) sprach Mora auch Zeitungsartikel zur Bekanntgabe ihrer Auszeichnung an, die ein Signal darin sahen, dass sie, Mora, "Ausländerin und Frau" ist: "Ich dachte, das sei öffentliche Anerkennung jedes Mal. Natürlich verstehe ich, warum das mit den Ausländern und den Frauen gesagt werden muss, dass die, die es sagen, Gutes damit wollen, aber Tatsache ist auch, dass dadurch ein spezielles (um nicht zu sagen: seltsames) Licht auf den schönen, freien Menschen fällt. Er sieht anders geworden darin aus, und das ist im eigentlichen Sinne des Wortes: merkwürdig."

Auch in anderer Hinsicht war diese Rede politisch, stellt Mara Delius in der Welt fest: Und zwar "weniger in der Poetologie der Autorin als in ihren Statements: Innerhalb kürzester Zeit habe sich 'die öffentliche wie die private Rede' in Deutschland radikalisiert - was ja eigentlich eine gute Sache sei, führte Mora aus: 'Dass die Realität irritiert, während du Fiktion herstellst, heißt, dass ihr beide euren Job macht'." Doch "früher konnte ich sagen: Hetzerisches Reden findet in Deutschland wenigstens nicht auf Regierungsebene statt. Das kann ich so nicht mehr. Der Fisch stinkt vom Kopf her, aber, machen wir uns nichts vor, auch überall anderswo", zitiert Christoph Schröder Mora in der SZ. Die SZ druckt außerdem die Laudatio Daniela Strigls auf Mora, von A bis Z gewissermaßen. Jan Wiele berichtet in der FAZ von einer Diskussion über die Rolle und Geltung von Kritik auf der Tagung der Akademie für Sprache und Dichtung.

Pieter Bruegel der Ältere, Landschaft mit dem Sturz des Ikarus. Foto: manosuelta.files.wordpress.com, Gemeinfrei


Jean-Philippe Toussaint arbeitet auf Korsika an seinem neuen Buch. Wenn er aus dem Fenster aufs Meer sieht, hat er einen Blick, der ihn an Brueghels Gemälde "Landschaft mit dem Sturz des Ikarus" erinnert, schreibt er im Standard: "Der Sturz des Ikarus geschieht in aller Stille. Er ist vom Himmel gefallen und ohne ein Geräusch im Meer untergegangen. Keiner hat etwas gehört, niemand seinen Sturz bemerkt. Keine der Personen wendet den Kopf hin zu der Stelle, an der Ikarus ein letztes Mal vor dem Untergehen mit den Beinen aufs Meer schlägt. Ikarus stirbt in aller Stille, in der Gleichgültigkeit der Allgemeinheit, wie so viele andere Flüchtlinge, die heute im zeitlosen Mittelmeer ertrinken, das ich vor meinen Augen habe."

Die Popkultur ist beherrscht von Dystopien, ist NZZ-Kritiker Michael Streitberg beim Streifzug durch aktuelle Comics, Romane und Science-Fiction-Produktionen aus der Serienwelt aufgefallen. Vielleicht liegt gerade darin ein Problem, wie der Science-Fiction-Autor Tom Hillenbrand in einem in der Berliner Zeitung veröffentlichten Auszug aus seinem Buch "Hologrammatica" darlegt: "Die 'Culture'-Romane von Iain Banks beispielsweise beschreiben eine Zukunft, in der die Menschheit ihre Probleme - Krankheit, Armut, Krieg, Umweltverschmutzung - gelöst hat. Das ist Science Fiction zum Staunen, große Weltenentwürfe die nicht weniger Spaß machen als ein Bladerunner-Szenario."

Besprochen werden unter anderem Laura Wiesböcks "In besserer Gesellschaft. Der selbstgerechte Blick auf die Anderen" (Freitag), Rudolf Borchardts Nachlassroman "Weltpuff Berlin" (Standard), Philipp Weiss' "Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen" (Zeit), Heinz Helles "Die Überwindung der Schwerkraft" (online nachgereicht von der FAZ), Florian Wackers "Stromland" (ZeitOnline) und Jürgen Beckers Textsammlung "Gelegenheiten" (FR).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Ralph Dutli über Paul Flemings "An Chrysillen":

"Gold ist dein treflichs Haar, Gold deiner Augen Licht,
Gold dein gemalter Mund, Gold deine schöne Wangen,
..."
Archiv: Literatur

Architektur

Nicht nur mit der ängstlichen Absage des Konzerts von Feine Sahne Fischfilet zeigt die Bauhaus-Stiftung, dass sie keine Idee mehr hat, wofür das Bauhaus eigentlich heute steht, erkennt Niklas Maak in der FAS: Für eine internationale, politisch engagierte Kunstschule, mechanistisch und kalt, wild und optimistisch, oder für ein schützenswertes Baudenkmal wie Schlösser und Gärten? "Im Bauhaus 2018 wird nur das gesagt, worauf sich alle einigen können... Sich zum Feiern in seine weißen Kartons zurückzuziehen und immersiv über Technik und Mensch nachzudenken ist vielleicht ein bisschen zu wenig in einer Zeit, in der Zigtausende gegen steigende Mieten und für andere Städte demonstrieren und für oder auch gegen neue Lebensentwürfe auf die Straße gehen. Bauhaus hieß um 1928 auch: Plakate, Aktionen, Lautstärke, sichtbar werden, provozieren, die Welt mit Kampagnen und Ideen überziehen, die Politik beeinflussen, die Leute aufwecken: So könntet ihr auch leben. Wo ist die politische Debatte um die Bodenfrage? Wo ist die große Bauhaus-Aktion zum Wohnen der Zukunft?"
Archiv: Architektur
Stichwörter: Bauhaus, Wohnen der Zukunft

Kunst

Cady Noland: Mutated Pipe. Foto: Axel Schneider / MMK, Frankfurt


Als großen Wurf feiert Sandra Danicke in der FR die Ausstellung der Bildhauerin Cady Noland im Frankfurter Museum für Moderne Kunst, die so messerscharf die amerikanische Moderne analysiere: "Das genau ist die große Kunst der US-amerikanischen Bildhauerin, dass ihre Arbeiten Räume aufladen, formal und inhaltlich. Dass man immer etwas wiedererkennt und weiterdenkt und dass man zugleich ein abstraktes Arrangement vor sich hat, das eine auratische Spannung erzeugt. Dabei sind es - von einigen Prangern abgesehen - meist ganz banale Dinge, die Noland (geboren 1956) uns vor Augen führt. Fußmatten, US-Flaggen, Bierdosen, Drahtkörbe, Kartoffelchips, Zäune, Absperrungen - Gegenstände, die im gesamten Gebäude des MMK so beiläufig und zugleich präzise angeordnet sind, dass man manchmal schon vorbeilaufen möchte und dann doch jedes Mal sehr genau schaut."

Dass Christie's gerade das erste von künstlicher Intelligenz gemalte Bild für 432.500 Dollar versteigert, beeindruckt Michael Moorstedt in der SZ nur mäßig: "In der kleinen, aber feinen Szene, die sich schon seit Jahren mit künstlicher Intelligenz und Kreativität beschäftigt, sorgte die PR-Aktion aber für ziemlichen Ärger. Nicht nur, weil es nicht das erste derartige Bild war, nicht nur wegen der Zweifel an der handwerklichen Qualität, sondern auch, weil das französische Kunstkollektiv Obvious, aus dessen Rechner das Bild kam, einen fremden Code benutzte, um es zu malen - oder besser: malen zu lassen. Die Frage, wer hier eigentlich der wahre Künstler ist, dürfte so manchem Urheberrechtler Kopfzerbrechen bereiten." Auch im Tagesspiegel sieht Regina Wank in der Auktion weniger einen Meilenstein in der Menschwerdung der Maschinen als einen in der Eventisierung des Kunstmarkts.

Besprochen werden die bereits vielfach gefeierte Lotte-Laserstein-Schau im Frankfurter Städel Museum (Standard) und eine Schau des Malers und Theaterliebhabers Johann Heinrich Füssli im Kunstmuseum Basel (FAZ).

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Film

Die Serie "House of Cards" hat "Filmgeschichte geschrieben", würdigt Viola Schenz die Netflix-Produktion, die mit der neuen Staffel an ihr Ende gelangt. Standard-Kritiker Dominik Kamalzadeh vergnügt sich auf der Viennale in der B-Film-Retrospektive. Christine Dankbar berichtet in der Berliner Zeitung von den Hofer Filmtagen. Für die Welt hat sich Elmar Krekeler mit Iris Berben zum Gespräch über ihre ZDF-Serie "Die Protokollantin" getroffen.

Besprochen werden David Gordon Greens neuer "Halloween"-Film (Jungle World, unsere Kritik hier), Frederick Wisemans Doku "Ex Libris" (Welt), die Wiederveröffentlichung von Tinto Brass' Skandalfilm "Caligula" (SZ) und Christoph Honorés "Sorry Angel" (SZ).
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Bühne

Bühnenbild von Wolfgang Menardi zu Yael Ronens "Genesis". Foto: David Baltzer / Münchner Kammerspiele


Yael Ronens "Genesis/A Starting Point" an den Münchner Kammerspielen hat Nachtkritikerin Shirin Sojitrawalla vor allem dank des Bühnenbilds von Wolfgang Menardi "gravierende Hingucker" beschert, "betörende Bilder, die Kraft aussenden und stolzes Pathos". Zum Abend insgesamt, den sie als Suche nach den eigenen und den göttlichen Ursprüngen beschreibt, ist ihr Urteil eher gespalten: "Die Sehnsucht nach Heiligkeit und traumatisch abwesende Väter sind (ge)wichtige Themen, die der Abend umkreist. Oft aber gehen sie in einem aufgekratzten Palaver unter, das ablenkt von den Wesentlichkeiten der überlieferten Geschichten. Wann immer aber es der Inszenierung gelingt, von den Grundfesten menschlicher Existenz, von Einsamkeit, Wahnwitz und Not zu erzählen, ist der Glaube ans Theater groß."

Weiteres: Christoph Forsthoff berichtet in der NZZ von den Proben zu einer "Carmen"-Aufführung in Havanna. Heike Huperts gratuliert in der FAZ dem Schauspieler Thomas Thieme zum Siebzigsten, in der Berliner Zeitung schreibt Doris Meierhenrich.

Besprochen werden das Stück "Das Dorf" des Wiener Performancekollektivs Nesterval (Standard), Webers "Freischütz" im Anhaltischen Theater Dessau (nmz), Pierangelo Valtenonis Kinderoper "Der Zauberer von Oz" an der Komischen Oper Berlin (nmz), das Fußballstück "Effzeh! Effzeh!" des Liedermachers Rainald Grebe am Schauspiel Köln (in dem FAZ-Kritiker Patrick Bahners eine "kölsche Trilogie der Leidenschaft" erkennt), Vicente Martín y Solers einst populäre Oper "Una cosa rara" in einer gekonnten Inszenierung von Ruth Groß in Regensburg (Dlf Kultur, Bayerischer Rundfunk, FAZ), Nuran David Calis' Inszenierung von Shakespeares "Othello" (bei der die hochgelobte "Basler Dramaturgie" dem NZZ-Kritiker Tobias Gerosa zufolge nicht wirklich glückt) und George Balanchines auf Hochglanz polierte "Jewels" von 1967 am Bayerischen Staatsballett in München (Dlf, SZ).

Archiv: Bühne

Musik

Bei einer Aufführung von John Cages "4:33" durch das Wiener Publikum in Anwesenheit der Wiener Philharmoniker entfuhr einem Mitwirkenden im Saal nach etwa halber Aufführdauer "ein empathisch-verzweifeltes 'Halleluja!'", berichtet Ljubisa Tosic im Standard. Für die Zeit plaudert Christoph Dallach mit Neneh Cherry. Frederik Hanssen freut sich im Tagesspiegel darüber, dass ein Berliner Festival die Erinnerung an den russischen Komponisten Nikolaj Medtner wachhalten will. In der Austropop-Reihe des Standard erinnert Karl Fluch an Wilfried. Bei Pitchfork legt Jenn Pelly Lucinda Williams' Album "Car Wheels on Gravel Road" von 1998 wieder auf den Plattenteller. In der FR schreibt Frank Junghänel zum Tod des Musikers Tony Joe White.

Besprochen werden Robyns neues Album "Honey", das den Kritikerinnen so gut gefällt, dass sie hauptsächlich über Robyns Werdegang schreiben (Freitag, Tagesspiegel, auf Pitchfork spricht Robyn über ihr Album), ein Bernstein- und Mahler-Konzert der Berliner Philharmoniker unter Gustavo Dudamel (Tagesspiegel, hier nachzuhören bei Dlf Kultur), die Auftritte von Tingvall Trio und GoGo Penguin beim Festival Jazznojazz (NZZ), ein Konzert von Bon Iver (Tagesspiegel), Thom Yorkes Soundtrack zu Luca Guadagninos "Suspiria"-Remake (Pitchfork) und neue Schallplatten, darunter das neue Album des Britpoppers Richard Ashcroft (FAZ).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Asal Dardan über, oh weh, "Landslide" von Fleetwood Mac:


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