Efeu - Die Kulturrundschau

Was haben die Leguane hier zu suchen?

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.11.2018. Art Space betrachtet Madelon Vriesendorps Vision des Empire State Building und des Chrysler Building, post coitus. Die taz träumt von einem goldenen orientalischen Krummdolch - entworfen von Gianfranco Ferré für Christian Dior. Lens Culture stellt den Fotografen Ronghui Chen vor. In der SZ erzählt der italienische Autor Edoardo Albinati wie man als Mann im  Italien der Siebziger aufwuchs. Der Freitag hört David Hollanders "Unusual Sounds".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.11.2018 finden Sie hier

Kunst

Aus der Serie "Freezing Land". Foto © Ronghui Chen
Fotografien aus den chinesischen Megastädten gibt es en masse. In Lens Culture stellt Cat Lachowskyj den Fotografen Ronghui Chen vor, der sich mehr für die Leute in den Kleinstädten im kalten, einst wohlhabenden, jetzt wirtschaftlich eher abgehängten Nordosten Chinas interessiert, und hier besonders für die jüngere Generation: "'Die Jugendlichen, die ich traf, hatten ein Gefühl der Unsicherheit', erklärt Chen. 'Sie standen vor der Wahl, sich den Herausforderungen in größeren Städten zu stellen oder zurückzubleiben und ihr Schicksal anzunehmen. Ihre Stimmen sind in chinesischen Medien oder anderen Medien kaum dokumentiert, so dass nur sehr wenige Menschen von ihren Geschichten wussten.' Eines der markantesten Bilder der Serie zeigt einen Jungen, der einsam in einem hell gefärbten Raum sitzt und eine Perücke auf dem Schoß hält, während er auf den Boden starrt. 'Der Junge auf diesem Foto ist 14 Jahre alt', erklärt Chen. 'Er ist ein Live-Streamer, oder was manche Leute einen Broadcast Jockey nennen. Live-Streaming ist seine direkte Einnahmequelle. Wenn ein Fan ihn mag, erhält er digitale Belohnungen über In-App-Währungen, die mit echtem Geld gekauft werden. Er hat viele Fans online, mit denen er interagieren kann, und er verdient sogar Geld mit ihnen. Aber er hat im wirklichen Leben nicht viele Freunde. Sein Leben wirkt bunt, ist aber sehr einsam.'"

Weitere Artikel: Kerstin Stremmel besichtigt für die NZZ das museale Rahmenprogramm zur Turiner Kunstmesse Artissima. Minh An Szabo de Bucsv porträtiert in der NZZ die Schweizerin Kunstsammlerin Monique Burger.

Besprochen werden die Ausstellung "Wildnis" in der Frankfurter Schirn (FR), die Ausstellung "NSU kontextualisieren - Installationen von Forensic Architecture und spot the silence" im Münchner Haus der Kunst (taz) und eine Ausstellung der Architekturfotografin Sigrid Neubert im Lechner Museum Ingolstadt und im Papierhaus des Lechner Skulpturenparks in Obereichstätt (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

In seinem Roman "Die katholische Schule" meditiert Edoardo Albinati anhand eines Gewaltverbrechens über Männlichkeit im Italien der Siebziger und dies insbesondere im Erziehungskontext. Maike Albath hat ihn für die SZ zum Gespräch getroffen, in dem er genauer darlegt, was ihn umtreibt: "Man durfte seine Unsicherheit nicht zeigen. Es gab das Ideal des perfekten, gesunden, unversehrten Körpers und keine Möglichkeit der Angleichung an das, was wir waren. Wir waren dauerfrustriert: Du wirst nie Steve McQueen sein. Niemand.  ... Wer sich überzeugendere Modelle von Männlichkeit anschaut, stellt fest, dass sie voller Brüche sind. Wenn ich den Faschismus grob definieren müsste, würde ich sagen, Faschismus ist das, was alle Brüche tilgt und sie verleugnet, was die totale Gesundheit feiert. Aber genau dieses Gebrochene ist für die männliche Natur entscheidend. Ich zitiere nicht zufällig Augustinus: Gott hat das Geschlecht des Mannes selbst zu etwas Fragilem gemacht. Der Phallus als Inbegriff von Männlichkeit ist mit einem Fragezeichen versehen, was einen immer ein bisschen auf der Hut sein lässt. Ich bin ein Mann, ich bin potent und stark, ach ja? Man wird sehen, ob es beim nächsten Mal klappt."

Weiteres: Im Feature für den Dlf Kultur erinnert Stefan Berkholz an die deutsche Veröffentlichung von Vasilis Vasilikos' Roman "Z" vor 50 Jahren. Besprochen werden unter anderem der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger (NZZ), Natascha Wodins "Irgendwo in diesem Dunkel" (taz), Karen Duves "Fräulein Nettes kurzer Sommer" (FR), Lion Feuchtwangers "Ein möglichst intensives Leben" (Welt), Elias Canettis Briefe "Ich erwarte von Ihnen viel" (Zeit), Péter Nadás' Essaysammlung "Leni weint" (Berliner Zeitung), Bücher von Iwan Turgenjew (taz), Gerhard Jägers' "All die Nacht über uns" (Standard), Dawit Kldiaschwilis "Samanischwilis Stiefmutter" (SZ) und Johanna Maxls Debüt "Unser großes Album elektrischer Tage" (Welt).
Archiv: Literatur

Architektur

Madelon Vriesendorp, Flagrant Délit, 1975. Image courtesy of Collection Frac Centre-Val de Loire, Photographer: Olivier Martin-Gambier © Madelon Vriesendorp

Art Space hat den bei Phaidon herausgegebenen Band "Drawing Architecture" durchgeblättert und sieben grundlegende Architekturzeichnungen herausgegriffen. Zum Beispiel die hier abgebildete: "'Flagrant Délit' ist ein Gemälde aus einer 'Manhattan' betitelten Bilderserie der Künstlerin Madelon Vriesendorp, Gründungsmitglied des niederländischen Büros für Metropolitan Architecture. Dieses Bild war das Cover von Rem Koolhaas' 1978 erschienenem Buch 'Delirious New York: A Retroactive Manifesto for Manhattan'. Es zeigt zwei anthropomorphisierte Wolkenkratzer, das Empire State Building und das Chrysler Gebäude, post coitus. Weitere Wahrzeichen New Yorks sind die Freiheitsstatue, die armlos und zusammen mit einer riesigen Menge ernst dreinblickender Zuschauer durch das Gitter des Fensters schaut: ihre Fackel ist die Nachttischlampe. Unter dem Bett ist das Stromnetz Manhattans als Teppich ausgelegt, und ein Goodyear Blimp imitiert in seiner Rolle als weggeworfenes Kondom eine Salvador Dalí-Uhr. Das Rockefeller-Gebäude starrt von der Tür aus hinein, sein suchender Lichtstrahl, der über das Bett schwenkt, spiegelt sich im Leuchtturm und den Scheinwerfer auf dem Gemälde an der Wand wider. Das Bild zeigt eine Kritik an Manhattan als Inbegriff der Stadt des 20. Jahrhunderts in Form eines surrealistischen Traums."
Archiv: Architektur

Design

Collier mit grünen Blüten, Coco Chanel, 1960er Jahre, Privatsammlung Gisela Wiegert © Hartmut Springer, Gronau


Gar nicht erst viel schreiben, sondern bloß staunen würde tazlerin Brigitte Werneburg am liebsten, wenn es um die Ausstellung "Bijoux! Bijoux! Modeschmuck von Chanel bis Dior" im Berliner Kunstgewerbemuseum geht: "All die Information ist nichts, sehen ist alles", schreibt sie. Und: "Wer ernsthaft wissen will, was Fantasie bedeutet, muss in diese Ausstellung gehen" und etwa "die Brosche anschauen, die Gianfranco Ferré 1990 für Christian Dior entworfen hat. Sie stellt einen orientalischen Krummdolch dar, und wurde der Knauf noch ganz einfach mit Strasssteinen besetzt, dann erweist sich die ebenfalls aus Kristallsteinen gearbeitete Klinge als ein aberwitziges Über- und Aneinander von Sternen, Mondsicheln, Blütenformen und einer Schleife an der Spitze."
Archiv: Design

Film

Der Kinostart von Panos Cosmatos' psychedelischem Horror-Trip "Mandy" (mehr dazu hier) bietet Arne Koltermann im Filmdienst die Möglichkeit, eingehender auf das Phänomen Nicolas Cage einzugehen: Dass der mal ein angesehener Schauspieler war, wissen heute nur noch wenige - schließlich dreht er seit rund 15 Jahren zwar am laufenden Meter, aber fast nur noch Material für die unteren Videothekenregale. In diesem Segment aber kann er sich nach Herzenslust austoben, schreibt Koltermann: "Noch die alltäglichsten Handlungen - einen Kühlschrank öffnen, auf einem Sessel Platz nehmen, einen Drink bestellen - spiegeln sich in seinem Gesicht als Epochenbrüche wider. Cages Helden sind, im besten Falle, sehr begeisterungsfähig." Für Koltermann ist Cage damit eine Kreuzung des klassischen Hollywoodstars, der auf ein festes Image spezialisier ist, mit dem späteren Typus Method Actor: "In 'Bad Lieutenant' fragt er zugedröhnt, auf einen Schreibtisch weisend: 'Was haben die Leguane hier zu suchen?' Cage selbst ist ein Chamäleon - dem doch bei jedem Farbwechsel noch eine Dosis Wahnsinn in den Hornschuppen liegt." Wir erinnern uns mit Freude:



Weitere Artikel: Gedreht hat diesen "Bad Lieutenant"-Film ein gewisser Werner Herzog, der gerade in Leipzig seinen neuen Dokumentarfilm vorgestellt hat und deshalb Thomas Willmann von Artechock in geradezu epischem Ausmaß Rede und Antwort steht: Mit seinem neuen Film "Gorbatschow - eine Begegnung" wollte er nicht nur dem Menschen Gorbatschow, sondern auch Russland "wenigstens in leisen Anklängen in die Seele schauen". In der taz empfiehlt Carolin Weidner die Eugène Green gewidmete Filmreihe im Berliner Kino Arsenal. Ulrich Kriest liefert im Filmdienst Notizen von den Hofer Filmtagen. Im Filmdienst würdigt Franz Everschor den Filmproduzenten Jason Blum, der dem US-Horrorfilm mit seiner Firma Blumhouse eine neue Blüte verschafft hat. Michael Ranze spricht im Filmdienst mit Regisseur Nikolaus Leytner über dessen Verfilmung von Robert Seethalers Roman "Der Trafikant" (hier ein Pro & Contra zum Film bei Artechock). Marcus Stiglegger deutet in epdFilm den Superheldenfilm als hybrides Genre. Tim Lindemann durchstreift für epdFilm das aktuelle queere Kino. In der Welt spricht Elmar Krekeler mit dem Drehbuchautor André Georgi über dessen zweiteiligen ZDF-Thriller "Der Mordanschlag". Für die Welt hat sich Martin Scholz mit Margarethe von Trotta zum Gespräch getroffen. Im Standard gratuliert Christian Schachinger Micky Maus zum 90. Geburtstag. Der Guardian meldet den Tod des Hongkonger Filmproduzenten Raymond Chow, der Bruce Lee und Jackie Chan zu Stars gemacht hat.

Besprochen werden das "A Star is Born"-Remake mit Lady Gaga, dem Lukas Foerster im Filmdienst-Blog poptheoretisch auf den Grund geht, Ofir Raul Graizers "The Cakemaker" (Tagesspiegel), Ziad Doueiris "Der Affront" (Freitag), Julian Pörksens "Whatever Happens Next" (taz) und Lasse Hallströms und Joe Johnstons "Der Nussknacker und die vier Reiche" (FR).
Archiv: Film

Bühne

In der nachtkritik trauern die Theaterkritiker Nikolaus Merck, Esther Slevogt und Christian Rakow um ihren Kollegen Dirk Pilz, der mit 46 Jahren an Krebs gestorben ist. In der Berliner Zeitung schreibt Ulrich Seidler den Nachruf.

Weiteres: Im Interview mit der NZZ plädiert der Zürcher Opernhaus-Intendant Andreas Homoki - der gerade den in Moskau im Hausarrest sitzenden Kirill Serebrennikows Mozarts "Così fan tutte" hat inszenieren lassen - dafür, auch an der Oper politisch (nicht tagespolitisch) zu denken. Besprochen werden Johan Simons' Adaption des Feuchtwanger-Romans "Die Jüdin von Toledo" am Bochumer Schauspielhaus (nachtkritik), Kai Voges' "Das 1. Evangelium" am Schauspiel Stuttgart (nachtkritik), Matthias Hartmanns Inszenierung der Urfassung von Modest Mussorgskis Oper "Boris Godunow" in Genf (üppig, schnörkellos und keinen Moment langweilig, lobt Jürg Altwegg in der FAZ), Jette Steckels "Medea und Jason" am Hamburger Thalia-Theater (taz) und Frank Castorfs Inszenierung "Ein grüner Junge" nach Dostojewski am Kölner Schauspielhaus (FAZ-Kritiker Patrick Bahners geht voll mit bei dem epischen Vortrag des Helden über seine Geschäftsidee, nachtkritik.)
Archiv: Bühne

Musik

Große Freude hat Freitag-Kritiker Jürgen Ziemer an David Hollanders von einer Compilation begleitendem Buch "Unusual Sounds" über die Geschichte der Library Music, also auf Vorrat und oft anonym produzierte Stimmungsmusik für TV, Film, Radio und Werbung. Es öffnet sich "ein faszinierender Blick in eine musikalische Welt, die nie authentisch klingt, sondern oft auf unterkühlte Weise elegant, manchmal auch ziemlich bizarr. Der Komponist Janko Nilovic kombiniert für 'Xenos Cosmos' in atemberaubenden Arrangements den Retro-Futurismus eines Peter-Thomas-Soundtracks, mit dem bombastischen Prog-Rock-Gewittern der Band Magma und den intergalaktischen Improvisationen des Sun Ra Arkestra." Das macht neugierig:



Auch die Jungle World leistet Ausgrabungsarbeit in Sachen verschütteter Klangkulturen: Till Schmidt hat sich mit dem DJ Brian Shimkovitz über dessen früheres MP3-Blog und heutiges Plattenlabel Awesome Tapes from Africa unterhalten, das ursprünglich auf Kassette veröffentlichte Alben aus afrikanischen Ländern auf Vinyl wiederveröffentlichte. Die Musik ist mitunter enorm hybride, erfahren wir: Etwa die Musik von Ata Kak, die im Ghanaischen fußt, aber darüber hinaus reicht, oder "Aby Ngana Diop, einer senegalesische Tassou-Sängerin. Tassou ist ein Genre, das fast schon wie Rap klingenden Gesang mit aggressiven Drums verbindet und im Senegal sehr verbreitet ist. Aby Ngana Diop war eine der ersten, die Tassou kommerziell aufgenommen hat - und in jedem Fall die erste Frau. ...  Auf 'Liital' startet Aby mit einer Art Drum'n'Bass-Stück, den Rest würde ich aber eher als traditionell bezeichnen. Alle meine Künstler sind für sich einzigartig und komplex." Und das klingt dann so:



Weitere Artikel: In den USA sind Glenn Goulds (ziemlich beeindruckend bearbeitete) Notenblätter seiner Aufnahmen der Goldberg-Variationen im Jahr 1981 aufgetaucht, meldet die New York Times. Berührend findet es SZ-Kritiker Thomas Bärnthaler, wie Marianne Faithfull auf ihrem neuen Album nochmal "As Tears Go By" singt (für die Jungle World setzt sich Dierk Saathoff mit dem Album auseinander). In einer Langen Nacht des Dlf Kultur befasst sich Michael Groth mit dem Blues.

Besprochen werden Julia Holters "Aviary" (FAZ), Aphex Twins Auftritt in Berlin (Tagesspiegel), eine Jubiläumsausgabe von Metallicas Klassiker "And Justice for All" (Pitchfork) sowie der Auftakt des Jazzfests Berlin mit Rob Mazurek und seinem Exploding Star Orchestra (taz) und Nicole Mitchell und dem Black Earth Ensemble (Tagesspiegel).
Archiv: Musik