Efeu - Die Kulturrundschau

Größere Freude, bessere Kunst

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09.11.2018. Annekathrin Kohout feiert in ihrem Blog den Female Gaze der Künstlerin Florine Stettheimer. Die taz sucht mit dem Fotografen Michael Ruetz nach Spuren des Frohsinns in den Gesichtern der Zuschauer bei der Pogromnacht 1938. Die SZ lernt von einem Film Barbara Millers, dass Religion da ist, alle #FemalePleasures zu töten. Nico Bleutge wandert für die NZZ auf den Spuren Guillaume Apollinaires durch Rom. Open Culture findet eine Datenbank für Papierflugzeuge.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.11.2018 finden Sie hier

Kunst

Florine Stettheimer, Asbury Park South, 1920


Annekathrin Kohout begegnet beim Gang durchs Metropolitan Museum of Art in New York der "besten Künstlerin des frühen 20. Jahrhunderts", die sie vorher nie zur Kenntnis genommen hatte: Florine Stettheimer (1871-1944) nahm die Pop Art vorweg und war schon in den Zwanzigern "campy", so Kohout, die völlig hingerissen von den Bildern ist, in ihrem Blog. Und eine Feministin war die aus einem Bankiershaushalt stammende Künstlerin auch: "Auch deshalb ist erstaunlich, dass sie posthum so wenig Würdigung gefunden hat. Das muss sich unbedingt ändern, ist doch ihr offenherzig weiblicher Stil durchaus mit dem heutiger feministischer Künstlerinnen vergleichbar! Auch Stettheimers Witz und ihre Haltung, besonders aber ihr Verhältnis zu Weiblichkeit, ist absolut gegenwärtig, wenn man an die Fotografinnen und Netzkünstlerinnen der sogenannten 'Vierten Welle des Feminismus' denkt, auf denen sich Frauen in ähnlich pastelligen Tönen einen eigenen 'Female Gaze' erarbeiten. Stettheimers kunstvolle Kompositionen mit organischen Rundungen, Rokoko-Möbeln und Blumendekorationen haben die gleichen Funktionen wie die Motive netzfeministischer Künstlerinnen (Früchte, Blumen, Vaginen etc.): Sich das, was als 'weiblich' gilt, selbstbewusst anzueignen und mit Macht zu versehen."

Wilfried Weinke stellt in der taz den Band "Pogrom 1938" vor, in dem der Fotograf Michael Ruetz in Hunderten Bildern der Pogromnacht 1938 nach einzelnen Gesichtern sucht: "Ruetz betont in seinem Nachwort, es sei seine Absicht gewesen, 'die Bilder in ihre Elemente zu zerlegen: die Visagen der Täter und der Zuschauer sowie die Gesichter der Opfer herauszuvergrößern und sie zum Hauptgegenstand zu machen'. Auch wenn dieses Vorhaben oftmals an der Qualität der Vorlagen scheiterte, liefert das Buch doch eklatante Beispiele der fröhlichen Teilhabe an öffentlicher Diffamierung und organisiertem Zerstörungswerk."

Weitere Artikel: Was ist eigentlich aus der Post-Internet-Art geworden, fragt sich Anika Meier im Monopol-Blog und macht sich auf die Suche. Lens Culture stellt die Fotografin Rie Yamada vor, die für ihre Serie Familie Werden ein Familienalbum fotografierte, für das sie in jede Rolle schlüpfte. AnOther zeigt einige Bilder aus einem neuen Fotoband von Martin Parr über Tbilissi. Und Tobia Bezzola, neuer Direktor des Museo d'arte della Svizzera italiana in Lugano, erzählt im Interview mit der NZZ von seinen Plänen für das Museum und den Kulturraum Tessin.

Besprochen werden die Ausstellung "Freiheit. Die Kunst der Novembergruppe 1918-1935" in der Berlinischen Galerie (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Der Mond" im Museum Louisiana bei Kopenhagen (SZ).
Archiv: Kunst

Architektur



Für angehende Ingenieure: Open Culture stellt eine Datenbank für Papierflugzeuge vor, mit Videos und Erklärungen: "Obwohl wir die Geschichte der Papierflugzeuge seit 2000 Jahren bis zu den Chinesen und ihren Drachen und bis ins 19. Jahrhundert zu den Franzosen und ihren imaginären Luftschiffen zurückverfolgen können, ist der Ursprung des modernen Papierflugzeugs von einem Geheimnis umgeben. Ein Artikel im San Diego Reader nannte als Geburtsdatum das Jahr 1910. Bereits 1915 quälten die meisten amerikanischen Kinder ihre Lehrer mit Papierfliegern. Und Jack Northrup benutzte Papiermodelle, um in den 1930er Jahren bei Lockheed an der Aerodynamik zu arbeiten. Aber selbst das erklärt nicht viel, warum ein so allgegenwärtiges Objekt weiterhin so bescheiden und gewöhnlich ist und gleichzeitig neuerdings einen solchen Anstieg des Interesses hervorruft. Die Datenbank bei Fold'n'Fly zeigt, wie viel Abwechslung es über den grundlegenden 'Pfeil'-Stil hinaus gibt. Jedes Flugzeug wird mit einer Schritt-für-Schritt-Anleitung, einer druckbaren Musterseite und einem hilfreichen Video geliefert."

Und: In der SZ plädiert Gerd Matzig für Umbau statt Neubau und fürs "Urban Mining & Recycling", also die Nutzung von wiederverwertbarem Müll.
Archiv: Architektur
Stichwörter: Papierflugzeuge, Recycling, 1930er

Film

Die somalisch-britische Psychotherapeutin Leyla Hussein (Bild X-Verleih)

In ihrem Dokumentarfilm "#FemalePleasures" befasst sich Barbara Miller mit der kulturübergreifenden Unterdrückung weiblicher Sexualität. Der Film wird zwar immer dann schwach, wenn er zum Pathos greift, erklärt Juliane Liebert in der SZ. Aber es finden sich auch sehr erhellende Momente darin: Etwa wenn die indische Aktivistin Vithika Yadav "sagt: 'Religion ist einer der schlimmsten Mörder der Welt.' Und tatsächlich ist Religion (...) eines der mächtigsten Werkzeuge, um Frauen kleinzuhalten. Sicher sind die Zustände im hinduistischen Kastenwesen, die massenhafte Verstümmelung von Mädchen (nicht nur) in Afrika und die Widerstände, gegen die Deborah Feldman sich aus der Parallelwelt des orthodoxen Judentums in New York befreien musste, nicht in jeder Hinsicht miteinander vergleichbar. Aber Religion spielt überall eine Rolle."

Sprache als Ballast: "In My Room" von Ulrich Köhler

FR-Kritiker Daniel Kothenschulte freut sich: Der anspruchsvolle Science-Fiction-Film kehrt auf die Leinwand zurück - als Beleg dienen Damien Chazelles "Aufbruch zum Mond" über die erste Mondlandung in den Sechzigern (mehr dazu hier, außerdem auf ZeitOnline, im Standard und in der Berliner Zeitung) und Ulrich Köhlers "In My Room" über einen Mann, der sich mit einem Mal als letzter Mensch auf Erden wähnen muss. Köhler hat mit diesem Film über eine "verspätete Menschwerdung" gewissermaßen "gleich drei Filme in einem gedreht", so Kothenschulte: "Eine Viertelstunde lang präsentiert er einen geistreichen Dialogfilm; dann einen imponierenden stummen Mittelteil, schließlich ein absurdes Beziehungsdrama, bei dem die Sprache bereits zum kulturellen Ballast geworden ist. Was diese so unterschiedlichen Filme gemeinsam haben, ist ihre Absage an die romantischen Versprechen des Abenteurertums. Das Eroberungspathos des Kalten Krieges fand in der Raumfahrt seine Umkehr ins scheinbar unschuldige Entdeckertum. Nun ist beides zurück, eine bemannte Mars-Mission scheint möglich - und zugleich als ultimative Flucht vor ökologischen und politischen Krisen. Kein Wunder, dass sich auch der nachdenkliche Science-Fiction-Film zurückmeldet."

Auch Zeit-Kritikerin Katja Nicodemus fand "In my room" sehr beeindruckend: "Die Offenheit von Ulrich Köhlers Experiment findet sich in jedem Bild des Kameramanns Patrick Orth. Nie weiß das Objektiv mehr als wir. Die Kamera wertet nicht, drängt sich nicht auf - eher gibt sie den Figuren einen Rahmen, den sie in jeder Szene neu betreten, mit Spannung erfüllen können. ... So aberwitzig Köhlers apokalyptische Setzung ist, so genau behält er die Grundlagen seiner filmischen Versuchsanordnung im Blick. Womöglich ist die Sozialisation - hier in einer linksbürgerlichen Familie im Landkreis Lippe - tatsächlich prägender als alle Freiheit, die aus dem Verschwinden der Menschheit erwächst." Für den Tagesspiegel hat sich Christiane Peitz mit Köhler über seinen Film unterhalten.

Weiteres: Sehr zufrieden blickt Standard-Kritiker Dominik Kamalzadeh auf die erste Viennale unter Eva Sangiorgi zurück: "Man hatte von Beginn an das Gefühl, dass ein neuer Ton eingezogen war: gelassen, verbindlich und mit viel Charme ... Sangiorgi hat das größte heimische Filmfestival nur wenig umgestaltet. Die Filmauswahl war umsichtig und fühlte sich nie unsicher an. Wer sich einen Überblick über die wesentlichen Produktionen eines Jahres verschaffen will, ist auf der Viennale nach wie vor hervorragend bedient." Für den Tagesspiegel hat Silvia Hallensleben mit Sangiorgi gesprochen.

Besprochen werden Gil Levanons und Kat Rohrers Dokumentarfilm "Back to the Fatherland" über junge Israelis in Österreich und Deutschland (FR, taz), Jean-Luc Godards "Le Livre d'image" (Standard, mehr dazu hier), Pablo Ben-Yakovs umstrittener Dokumentarfilm "Lord of the Toys" über die Clique rund um Youtuber Max Herzberg, die sich durch unbekümmerten Gebrauch von Nazi-Jargon auszeichnet (Zeit), Thomas Cailleys von Arte online gestellte Krimi-Miniserie "Ad Vitam" (FR, FAZ) und die im Berliner Clubmilieu spielenden Amazon-Serie "Beat" (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Im Interview mit der Berliner Zeitung erklärt Armin Petras, warum er seinen Vertrag als Intendant in Stuttgart vorzeitig beendet hat: "Ich habe mir vorgenommen, gründlich darüber nachzudenken, ob das überhaupt die richtige Form ist, wie man heute die Theater leitet. Als einsame, mächtige und überforderte Nummer Eins. An ein demokratisch entscheidendes Netzwerk von 20 Leuten glaube allerdings erst recht nicht. Aber irgendwas muss es doch noch geben! Dass man die Sache mit mehr Freude angehen kann. Weil: größere Freude, bessere Kunst."

Weitere Artikel: Manuel Legris, Leiter des Wiener Staatsballetts, macht sich im Interview mit dem Standard stark für das klassische Ballett: "Wenn nicht ein paar Leute noch in diese Richtung arbeiten wie ich, wird es komplett verschwinden. Das wäre eine Schande. Wenn wir sagen, dass das klassische Ballett verzichtbar ist, dann können wir auch alle Museen niederbrennen." In der FAZ berichtet Gina Thomas vom Opernfestival im irischen Wexford.

Besprochen werden Smetanas Oper "Dalibor" in Augsburg (nmz) und Dennis Kellys Stück "Girls & Boys" im Vestibül des Burgtheaters (Presse, Standard).
Archiv: Bühne

Literatur

Nico Bleutge schlendert für die NZZ auf den Spuren des Dichters Guillaume Apollinaire durch dessen Geburtsstadt Rom, was sich für den Flaneur als Herausforderung herausstellt: "Nicht ohne Schmerz wird er den Ort seiner Recherchen verlassen, wenn er hofft, Einzelheiten aus der Vergangenheit zu entdecken. Belohnt wird er aber durch atmosphärische Überraschungen. ... Während man den Blick über die Schaufenster mit ihren drapierten Waren, den Bildschirmen und Leuchtreklamen streifen lässt, beginnt man zu ahnen, wie sich der Wunsch, ein Avantgardist zu sein, im Laufe eines Schreiblebens mit dem Drang verschwistern konnte, Vergangenes 'vor dem Vergessen zu bewahren', wie es im Flaneur-Buch heißt. Das Hässliche hat Apollinaire stets mit Skepsis betrachtet - trotzdem holte er es ein ums andere Mal in seine Sätze. Vielleicht weil er spürte, wie sehr sich im eigenen Bewusstsein alle Momente undurchschaubar überlagern."

Weitere Artikel: Peter von Becker ärgert sich im Tagesspiegel darüber, dass alle Welt Volker Kutscher für seine (mit "Babylon Berlin" verfilmte) Berlin-Krimis feiert, wo doch der schottische Autor Philip Kerr bereits seit den 80ern ähnlich konzipierte Romane schreibt.  Die erst Ende 2017 in die Schwedische Akademie berufene Theologin Jayne Svenungsson hat ihren Austritt erklärt, meldet Matthias Hannemann in der FAZ. Im Tagesspiegel bringt Lars von Törne Hintergründe und erste Bilder zu dem geplanten, vom deutschen Zeichner Mawil gestalteten Lucky-Luke-Band. Katrin Schregenberger besucht für die NZZ die Zürcher Poetry-Slam-Meisterschaften. Im BR spricht Hans Magnus Enzensberger ausführlich über und liest ausführlich aus "Eine Handvoll Anekdoten".

Besprochen werden Akwaeke Emezis "Süßwasser" (FR), A. L. Kennedys "Süßer Ernst" (NZZ), Géraldine Schwarz' "Die Gedächtnislosen. Erinnerungen einer Europäerin" (SZ), Fred Vargas' "Der Zorn der Einsiedlerin" (Welt), Andor Endre Gelléris Erzählungsband Stromern" (Tagesspiegel) und Sascha Rehs "Aurora" (online nachgereicht von der FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Musik

Entzückt berichtet Christian Schachinger im Standard vom Durchhören des Albums von Thought Gang, das ursprünglich zwar schon in den Neunzigern in gemeinsamen Sessions von David Lynch und Angelo Badalamenti entstanden ist, aber erst jetzt nach einigen Bearbeitungen und zusätzlichen Aufnahmen an die Öffentlichkeit gelangt. Mit Lynch und Badalamenti arbeiten hier freilich zwei gestandene Erforscher extremer Klangkulturen - dass das Material nun zugänglich ist, hält Schachinger für eine "kleine Sensation", wobei man sich nichts im Stil der "Twin Peaks"-Musik vorstellen sollte, sondern "hier wird angesichts eines allzeit anstehenden Weltenendes sehr zeitgenössischer Krawall von Männern in ihren besten Jahren gemacht ... Die zusätzlichen Einspielungen von Lynch an der ruppigen Bluesgitarre und erstaunlicherweise Badalamenti als wild gewordener Mann auf der Predigtkanzel plus diverse heute leicht auf dem Laptop herstellbare Lärmschlieren erwiesen sich als wahrer Segen dieses durch und durch erstaunlichen Albums. Zwischen Amok laufendem Lounge-Jazz, beherztem Noise, Implosion und Explosion, verwunschenem Blues und flächigem, 16-minütigem Ambient ist auf Thought Gang vieles möglich." Wir hören rein:



Weitere Artikel: In der NZZ spricht Marco Frei mit dem Komponisten David Philip Hefti über dessen neue Oper "Die Schneekönigin". Christiane Tewinkel gratuliert im Tagesspiegel der Deutschen Grammophon zum 120-jährigen Bestehen. 90 Jahre alt wird hingegen Ennio Morricone, dem Sven Ahnert in der NZZ Glückwünsche übermittelt. Eines seiner schönsten Stücke ist dieses aus "Zwei glorreiche Halunken":



Besprochen werden das neue Album "Negative Capability" von Marianne Faithfull (taz), Colin Selfs Album "Siblings" (taz), ein Konzert von Ruban Nielson mit seinem Unknown Mortal Orchestra (FR) und Herbert Grönemeyers Album "Tumult" (NMZ).
Archiv: Musik