Efeu - Die Kulturrundschau

Zwischen den Zeiten

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10.11.2018. In der FAZ kann sich Steven Uhly die Bolsonaro-Wahl in Brasilien nur mit mangelnder Solidarität innerhalb der Gesellschaft erklären. Überwältigt kommt die New York Times aus der großen Andy-Warhol-Retrospektive im Whitney Museum: Nur den Künstler-Unternehmer hätte sie auch gern gesehen. Auf ZeitOnline erzählt Ennio Morricone, wie Stanley Kubrick seine Zusammenarbeit mit Sergio Leone vereitelte. Und die taz erinnert an das einstige Zentrum für jüdische Modehändler am Berliner Hausvogteiplatz.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.11.2018 finden Sie hier

Literatur

Der Schriftsteller Steven Uhly nimmt im literarischen Wochenendessay der FAZ eine sehr persönliche Perspektive zu der Frage ein, warum in Brasilien mit Jair Bolsonaro ein rechtsextremes Ekelpaket Präsident werden konnte: Bei seinen langjährigen Aufenthalten ist Uhly nämlich aufgegangen, dass es dem Land insbesondere an einer gesellschaftlichen Ressource mangelt: Solidarität im Innern. Er glaubt sogar, dass Lula da Silvas erfolgreiche Wahl im Jahr 2002 etwas in Gang gesetzt wurde, was mit Bolsonaro einen Höhepunkt erreichte: "Das große Problem der Brasilianer liegt nämlich nicht in der allgegenwärtigen Korruption der Reichen und Mächtigen, und es liegt auch nicht in der Spaltung der Gesellschaft in Arme und Reiche. Das eigentliche Problem ist ein viel tieferes: Es gibt kein Vertrauen unter Fremden. Kapitalismus funktioniert aber nur unter dieser Voraussetzung. Insofern ist Brasilien kein kapitalistisches, sondern ein feudalistisches Land. Die Hierarchien werden zwar aus Höflichkeit geleugnet, sind aber sehr steil. Die Mehrheit der Bevölkerung ist nicht elend genug, um sich aus purer Verzweiflung zusammenzurotten, wie zu Zeiten der Französischen Revolution. Stattdessen herrscht eine aus kolonialer Zeit stammende Hoffnung auf Aufstieg und Weißwerdung - ja, Weißwerdung -, die jede Solidarität und jedes Vertrauen untergräbt."

Janika Gelinek, Leiterin des Literaturhauses Berlin, erzählt in der Literarischen Welt, wie ihr in Rom ihre in einem Umzugswagen deponierten Bücher über Nacht geklaut wurden: "Wer macht so was, frage ich mich. Wer schleppt mitten in der Nacht mitten in Rom 30 Bücherkartons mit deutscher Belletristik durch die Gegend. ... Wer klaut Bücher? Und wenn man nicht ausgerechnet Bücher klauen will: Würde man bei 30 Kartons nicht wenigstens einmal hineinschauen, was man da unter doch nicht unwesentlicher Gefahr wegschleppt? Ich versuche, mir die Gesichter, die Bewegungen derer vorzustellen, die meine Bücher an sich genommen haben, ob sie einen geheimen Absatzmarkt dafür kennen oder ob sie sie alle irgendwo in der nächsten illegalen Müllkippe entsorgt haben."

Weitere Artikel: Regisseur Til Obladen schreibt in der Literarischen Welt über seine Safari in entlegenen indonesischen Gebieten. Wilhelm von Sternburg (FR), Kerstin Holm (FAZ) und Ulrich M. Schmid (NZZ) erinnern an Iwan Turgenjew, der vor 200 Jahren geboren wurde. Außerdem bringt die Literarische Welt Auszüge aus Samuel Becketts Briefeband "Was bleibt, wenn die Schreie enden?", der demnächst bei Suhrkamp erscheint.

Besprochen werden Laksmi Pamuntjaks "Herbstkind" (taz), Judith Schalanskys "Verzeichnis einiger Verluste" (SZ, Welt), Roberto Bolaños Nachlass-Roman "Der Geist der Science-Fiction" (taz), Bodo Kirchhoffs "Dämmer und Aufruhr. Roman der frühen Jahre" (taz), Pieter Steinz' Kolumnensammlung "Der Sinn des Lesens" (Standard) und der Auftakt der Werkausgabe Ernst Sommer mit dem 1935 erschienenen Roman "Die Templer" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Es gab auch Teilnehmer, die jede Kommunikation verweigerten. Marilyn Stafford, Ready to Wear, Passerelle des Arts, 1960 © Marilyn Stafford

Angefangen hat sie als Laiin mit einem Schnappschuss von Albert Einstein, später durfte sie als Fotoassistentin die Nadeln vom Studioboden aufsammeln, die aus den zusammengesteckten Kleidern der Models ploppten: Die Fotojournalistin Marilyn Stafford, die Belle Hutton in AnOther vorstellt. Bevor sie in die Welt hinauszog, den Algerienkrieg oder Indira Ghandi fotografierte, blieb Stafford bei der Mode: "'Ich habe wirklich ganz unten angefangen und eine Menge über die Studioarbeit gelernt, aber ich habe auch gelernt, dass ich auf die Straße gehen und Fotos von Menschen machen wollte, die ein anderes Leben führten.' Und das tat sie, zunächst im Bereich der Modefotografie: Stafford fotografierte auf den Pariser Straßen der Nachkriegszeit für Haute Couture Häuser (einschließlich Chanel und Christian Dior) wie auch für die aufstrebende Konfektionsindustrie. Diese Bilder profitieren von den zusätzlichen Charakteren auf den Pariser Straßen - oft Kinder -, die mit den Models und Fotografen interagierten. Diese Missachtung der Norm - denn damals wurden Modefotografien in der Regel in Studios gemacht - wurde ein Markenzeichen von Staffords Karriere."

Andy Warhol, Mao, 1972. The Art Institute of Chicago © The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / Artists Rights Society (ARS), New York
New-York-Times-Kritiker Holland Cotter kommt völlig überwältigt aus der großen Andy-Warhol-Retrospektive (der ersten seit 31 Jahren) im Whitney Museum. Brillant, nobel, transzendent, erhaben sind seine bevorzugten Adjektive. Aber seine Beschreibung der Schau weckt doch Zweifel, ob sie über eine Hagiografie hinausgeht: "Die Whitney-Show zeigt ihn lebhaft und eindrucksvoll in seiner Gänze und unterstreicht seine Bedeutung für eine neue Generation - aber auf eine sorgfältig gestaltete und bearbeitete Weise. Trotz der monumentalen Größe der Ausstellung - rund 350 Werke im ganzen Museum und eine Off-Site-Ausstellung des riesigen mehrteiligen Gemäldes 'Schatten' von Dia - ist es ein Warhol im menschlichen Maßstab. Weitgehend abwesend ist der Künstler-Unternehmer, der als Prophet (bösartig oder nicht) unserer marktverwirrten Gegenwart angesehen wird: der Schöpfer und Förderer von Business Art, einem Unternehmenskonzeptualismus, der Warhol in den 1980er Jahren in den Orbit von Donald Trump brachte, der freudig Warhols Bad-Ass-Credo zitierte: 'Geld verdienen ist Kunst und Arbeiten ist Kunst und ein gutes Geschäft ist die beste Kunst.'"

Angesichts der großartigen spiritistischen und abstrakten Werke von Hilma af Klint, Georgiana Houghton und Emma Kunz, die derzeit im Münchner Lenbachhaus ausgestellt werden, erscheint Catrin Lorch in der SZ die Frage, ob die Werke der Künstlerinnen abstrakt gemeint waren, die "Erfindung der Abstraktion" demnach der 1862 geborenen Klint zugeschrieben werde müsse, unwichtig. Ohnehin bilde die verdienstvolle Ausstellung vor allem den "fast wissenschaftlichen Anspruch dieser Künstlerinnen ab, die nicht etwa auf der Reise ins Jenseits waren, sondern sich als Instrumente verstanden, um unsichtbare, aber durchaus reale Erscheinungen wahrzunehmen."

Weitere Artikel: In der FAZ erinnert Andreas Platthaus an den Kustos Stefano Serafin, dessen Fotos von zerbrochenen Canova-Skulpturen in der im Ersten Weltkrieg zerstörten Galeria die Gipsoteca di Possagno, die einen Großteil der Skulpturen des italienischen Bildhauers beherbergte, zum Symbol für die "Schändung durch die Feinde der Zivilisation" wurden. In der Weltkunst hat sich Alexander Gonzalez auf die Spuren der Italophilie in Münchens Architektur, Kultur- und Kunstszene begeben. In der NZZ porträtiert Philipp Meier das Künstlerduo Aparna Rao und Søren Pors, die in ihren Arbeiten auf moderne Robotertechnik setzen. Ebenfalls in der NZZ versucht der Kunstanwalt Herbert Pfortmüller das Phänomen Banksy zu ergründen. Der Dlf-Kultur widmet seine lange Nacht der Kunst im Ersten Weltkrieg. Besprochen werden die Fotomesse Paris Photo (NZZ) und die Ausstellung "Der Elefant im Raum" im Hamburger Bahnhof (Berliner Zeitung).
Archiv: Kunst

Musik

Wenn Ennio Morricone spricht, ist es immer so, als wäre die große europäische Filmgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch immer ganz gegenwärtig. Jetzt wird der Maestro 90 - Viktor Rotthaler (NMZ) und Andreas Kilb (FAZ) gratulieren - und Marc Hairapetian hat sich für ZeitOnline zum großen Gespräch mit ihm getroffen. Es geht um Morricones Abschied von der Filmmusik, um sein Verhältnis zu seinen Kollegen, die er allesamt überlebt hat, und um sein Bedauern, nie mit Kubrick gearbeitet zu haben, was damals ausgerechnet Sergio Leone vereitelt hat. Morricone hätte für 'Uhrwerk Orange' ein Stück aus einem anderen Film nachkomponieren sollen: "Sogar die Gage war schon klar. Und dann lehnte Kubrick aus einer Art Höflichkeit plötzlich ab. Er hatte Sergio Leone angerufen und gefragt: 'Meinst Du, Morricone wird gut mit mir zurechtkommen?' Ich verstand nicht, warum er gerade ihn anrufen musste. Und Sergio sagte auch noch wahrheitsgemäß: 'Natürlich, obwohl er ziemlich überlastet ist, da er momentan an der Musik zu meinem neuen Film Todesmelodie schreibt.' Das war das Ende meiner Zusammenarbeit mit Kubrick, bevor sie eigentlich richtig begonnen hatte. Und nach all den Jahrzehnten ist dies immer noch ein großer Kummer für mich." Hier ein Stück aus der "Todesmelodie":



Weitere Artikel: Ljubiša Tošić hat sich für den Standard mit der Komponistin Olga Neuwirth zum Gespräch getroffen. Doris Akrap (taz) sowie Martin Benninghoff und Oliver Georgi (FAZ) plaudern mit Herbert Grönemeyer. In der Jungle World gratuliert Vojin Saša Vukadinović der feministischen Punk-Aktivistin Kathleen Hanna zum 50. Geburtstag, die mit ihrer Musik und ihren Texten immer auch das subversive Potenzial weiblicher Lust unterstrichen hat:



Besprochen werden Makaya McCravens Jazzalbum "Universal Beings" (FAZ.net, mehr dazu hier), ein Konzert von Igor Levit (Standard), Crooked Mans Dance-Album "Crooked House" (taz) und eine "Götterdämmerung" mit Franz Welser-Möst und den Wiener Philharmonikern (Standard).
Archiv: Musik