Efeu - Die Kulturrundschau

Pausendurchwehte Sprachfähigkeit

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15.11.2018. Die NZZ hört in der Generalprobe zu György Kurtags erster Oper unerhört dramatisch-dynamische Farbenpracht. In Hu Bos Film "An Elephant Sitting Still" spielt das Licht die Hauptrolle, staunt die taz. Der Western ist zurück, erkennt Zeit online, und betreibt Mythenlese. Die Feuilletons verneigen sich zum Siebzigsten vor dem Solitär Georg Ringsgwandl. Der Unternehmer Magnus Resch und der Dokumentarfilmer Nathaniel Kahn suchen die Qualität in der Kunst.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.11.2018 finden Sie hier

Bühne

In der NZZ annonciert Eleonore Büning die erste Oper des 92-jährigen ungarischen Komponisten György Kurtag, "Fin de partie" nach Beckett, die heute Uraufführung an der Mailänder Scala hat. "Das Erstaunlichste an dieser Musik, soweit man das nach dem ersten Eindruck sagen kann, ist ihre pausendurchwehte Sprachfähigkeit. Und eine unerhört dramatisch-dynamische Farbenpracht. Volksinstrumente wie das Bayan und das Cimbalom und etliche Schlagzeuger mischen ein Orchester von Mahler-Dimensionen auf", schreibt Büning, die bei der Generalprobe dabei sein durfte.

Eingestimmt hat sie sich mit diesem Trailer zu dem Film "L'Héritage artistique chez les Kurtág" der Amsterdamer Videokünstlerin Judit Kurtág über ihre Eltern:



In der FAZ wiederholt Wiebke Hüster ungerührt die von ihr öffentlich gemachten Vorwürfe des Geschäftsführers des Wuppertaler Tanztheaters Dirk Hesse ( der Ende des Jahres seinen Hut nimmt) gegen die bereits entlassene Leiterin des Wuppertaler Tanztheaters Adolphe Binder (ohne mit einem Wort zu erwähnen, dass sich eine ganze Reihe von Künstlern hinter Binder gestellt hatte), annonciert kühl die neue Leiterin für die nächsten zwei Jahre Bettina Wagner-Bergelt ("Die Entscheidung für Wagner-Bergelt als Nachfolgerin ist schwach") und schreibt schließlich gleich das ganze Tanztheater ab: "Vielleicht muss man sich damit abfinden, dass es da nicht läuft, in Wuppertal."

"Man versteht es nicht", schreibt Manuel Brug in der Welt. "Warum musste erst eine reputierliche Tanzmanagerin geopfert werden, bis die in vielerlei Hinsicht hinterweltlerische Stadt Wuppertal begreift, dass eine weltberühmte Institution wie Pina Bauschs Tanztheater eben nicht allein von einem machtgierigen Geschäftsführer regiert werden kann? ... Binder klagt gerade auf Wiedereinstellung. Der gegen sie heftigst intrigierende Geschäftsführer Dirk Hesse, auf den der kulturpolitische Scherbenhaufen maßgeblich zurückgeht, wird das Tanztheater auf eigenen Wunsch Ende des Jahres verlassen. Falls Binder gewinnt, wird es für die klamme Stadt teuer."

Auch für Elisabeth Nehring (dlf) ist die Sache noch nicht ausgestanden: "Natürlich ist dem Tanztheater Wuppertal nach dem Trauma der letzten Monate Ruhe und die von Wagner-Bergelt beschworene 'Freude und Kreativität' zu wünschen. Kulturpolitisch jetzt zum business-as-usual zurückzukehren, erscheint aber angesichts des ganzen dubiosen Vorgangs mitsamt gescheiterten Mediationsversuchen, Durchstechereien von Interna und vor allem einer gewagten Intransparenz mehr als fragwürdig. Für das kulturpolitische, künstlerische und menschliche Klima, vor allem aber angesichts der großen Pläne, die in Wuppertal für das zukünftige Pina-Bausch-Zentrum derzeit entwickelt werden, ist eine konsequente Aufarbeitung dessen, was und warum alles schief gelaufen ist, unumgänglich."

Weiteres: Recht skeptisch nähert sich Esther Slevogt in der nachtkritik der "Erklärung der Vielen", wonach Kulturinstitutionen künftig vereint gegen Rechts auftreten wollen. Besprochen wird Karin Henkels Inszenierung von Tschechows "Drei Schwestern" am Deutschen Theater Berlin - mit drei Männern in den drei weiblichen und männlichen Hauptrollen und Angela Winkler als Irina - gibt's doch noch ein Lob. ("Es sind nicht wirklich Figuren, die hier in knapp zwei Stunden von dem überzeugenden Ensemble gezeichnet werden, sondern eher typisierte Karikaturen, die in der Regie von Karin Henkel allerdings Prägnanz und Farbe, Schlüssigkeit und Struktur haben", lobt Irene Bazinger in der FAZ)
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Literatur

In der NZZ freut sich Rainer Moritz, dass es Timur Vermes und Dörte Hansen mit ihren Zweitwerken (hier, beziehungsweise dort dazu mehr) gelungen ist, die Erwartungen nach ihren Debüts mitunter sogar zu übertreffen. Die taz legt Passagen aus Michelles Obamas und Bettina Wulffs Autobiografien nebeneinander und bescheinigt "verblüffende" Ähnlichkeiten. In der Zeit macht Michael Maar Felix Salten als den Verfasser der pornografischen Memoiren der Josefine Mutzenbacher fest und als Verfasser des kaum weniger pornografischen Romans "Bambi", den man nur als Disneyfilm kennt. Moritz von Uslar porträtiert für die Zeit Marlene Taschen, die seit zwei Jahren den gleichnamigen Verlag leitet.

Besprochen werden unter anderem der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger (FR, FAZ), Antonio Ruiz-Camachos Storyband "Denn sie sterben jung" (Zeit), Bora Ćsićs "Im Zustand stiller Auflösung" (SZ) und A.L. Kennedys "Süßer Ernst" (Welt).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Film

Die Spanne zwischen Abgrund und Weite: Hu Bos "An Elephant Sitting Still"
Von schmerzhaften, zugleich aber "wunderschönen" vier Stunden berichtet Carolin Weidner in der taz, nachdem sie Hu Bos ersten und - freitodbedingt - einzigen Langfilm "An Elephant Sitting Still" gesehen hat. Insbesondere in Fan Chaos "sehr selbstbewusste, freie Kameraführung" und deren Licht hat sie sich verliebt: Es ist "eine, die sich nicht nur vorausschauend und geschmeidig zu bewegen versteht, sondern auch mit Schärfen und Unschärfen umzugehen weiß, und darüber hinaus: auch mit ihnen erzählt. Das eingesetzte Licht macht indes die Spanne zwischen Abgrund und Weite deutlich. Immer wieder verschwinden Menschen in die Dunkelheit hinein, in Treppenhäuser oder Wohnungen, in die kein Licht dringt, weil gleich vor dem Fenster eine Mauer aufsteigt. Aber auch das Licht, das es vor der Tür anzutreffen gilt, ist nicht automatisch gutmütig gesinnt - es stellt aus. Interessanterweise scheint das niemanden zu stören." Einzig bedauerlich findet Weidner, dass Hu Bos dem Vernehmen nach in China gefeierte Belletristik noch nicht in eine näher liegende Sprache übersetzt wurde.

Auch critic-de-Kritiker Nino Klingler findet den Film absolut sehenswert: Hu Bo "erzählt das Coming-of-Age als Geschichte einer Arschlochwerdung. In einer Welt der Arschlöcher gibt es wenig andere Möglichkeiten. Die Jungen hassen die Alten, weil sie betrunkene Loser sind, und die Alten die Jungen, weil sie zu nichts taugen. Leicht lässt sich diese Zeichnung als Kommentar auf die chinesische Ellbogen-Gesellschaft lesen, als Zoom-in auf eine repräsentative Gruppe von Menschen in einer der vielen Retortenstädte des Landes. ... Was 'Elephant Sitting Still' zu einem sehr besonderen, sehr mitreißenden Film macht, ist der Fakt, dass Hu Bo dieses Gesellschaftsbild in erster Linie nicht erzählt, sondern ununterbrochen zeigt."

Der Western ist (mal wieder) da, schreibt Oliver Kaever auf ZeitOnline: In zahlreichen Produktionen höchst unterschiedlichster Budgetierung erlebt das filmhistorische Ur-Genre eine Renaissance. Prominentestes Beispiel: Der Episodenfilm "The Ballad of Buster Scruggs", den die Coen-Brüder für die Online-Videothek Netflix gedreht haben. Handelt es sich dabei bloß um einen filmischen Ausdruck der "Make America Great Again"-Haltung in den USA, "sorgt das Genre mit seinen Geschichten von Heldentum und harten Männern für patriotischen Gemeinsinn? Mitnichten. Gerade die männlichen Figuren sind es, deren Panzer aus Klischees und Stereotypen die modernen Geschichten aus dem Wilden Westen aufbrechen. Von Helden erzählen sie ohnehin kaum, eher von durch Krieg und das Leben in der Wildnis Versehrten. Mythenbildung ist die Sache des modernen Westerns nicht, eher Mythenlese."

Weitere Artikel: Für die taz wirft Katrin Doerksen einen Blick ins Programm des Afrikamera-Festivals im Berliner Kino Arsenal. Daniel Kothenschulte berichtet in der FR von der Duisburger Filmwoche.

Besprochen werden Luca Guadagninos "Suspiria"-Remake (taz), Paolo Sorrentinos Berlusconi-Film "Loro" (SZ, Welt, mehr dazu hier), Mila Turajlićs Polit-Familienfilm "Die andere Seite von allem" (taz), Jesse Peretz' Verfilmung von Nick Hornbys Roman "Juliet, Naked" (SZ), Sandra Nattelbecks "Was uns nicht umbringt" (Tagesspiegel, SZ), Kirill Serebrennikows "Leto" (NZZ), Asghar Farhadis "Offenes Geheimnis" (NZZ), Ari Asters auf DVD veröffentlichter Horrorfilm "Hereditary" (taz) und der zweite Teil der Reihe "Phantastischen Tierwesen" (Standard, FAZ).
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Musik

Die Feuilletons verneigen sich vor dem bayerischen Liedermacher, Vollblut-Anarchisten und Ex-Kardiologen Georg Ringsgwandl, der heute 70 Jahre alt wird und schon "früh Bekanntschaft mit der Räudigkeit des Daseins" machte, wie Christoph Nußbaumeder im Freitag schreibt. Vor der burlesquen Art der frühen Ringsgwandl-Shows kann Nußbaumeder nur auf die Knie gehen: So etwas habe "es in dieser Mischung noch nicht gegeben. Zwar singt er in Mundart, aber er fühlt sich keiner bayrischen Liedermachertradition verpflichtet. Man schaut auch keinem galanten Singer-Songwriter bei der Arbeit zu. Der Zuschauer staunt über eine Kreuzung aus Funkbrother, Rock 'n' Roller und Folk Musician. Ein Solitär, der kantig über die Bühne pirscht und jedem einen saublöden Spruch einschenkt, der ihm dumm oder anbiedernd dazwischenfunkt. Da kam es schon mal vor, dass ihm das Publikum eine Maß voll Bratensoße über den Kopf gekippt hat, bevor es geschlossen den Saal verließ."



Auch Franz Dobler zeigt sich in der taz dankbar für die nachhaltige Verstörung, die Ringsgwandls In-Erscheinung-Treten im bayerischen Kulturleben damals bei ihm ausgelöst hat: "Er war eine hyperventilierende Ein-Mann-Attacke, Deckname 'Der Gurkenkönig aus Mittenwald'. In Taucheranzug, mit grüner Perücke und im Rock der Oma krakeelte und kreischte er und verhaute seine Gitarre. 'Total ausgeflippt' nannte man das damals. Aber auch ein echter Schock im ordentlichen Bayern, in dem sich kaum eine Punkband so aufführte wie dieser Irrenhaus-Kandidat. Wahrscheinlich hat 'Gurkenkönigs Hausfrauen-Show' nicht nur mein Leben zerstört." Für Dlf Kultur hat Susanne Führer mit Ringsgwandl gesprochen, der BR hat ein Filmporträt über ihn online gestellt.

Weitere Artikel: Für den Standard plaudert Ronald Pohl mit Herbert Grönemeyer. Außerdem erinnert sich Pohl im Standard an die Zeiten, als man wilde Jugendliche noch als "Haschbrüder" bezeichnete.

Besprochen werden das neue Album "Merrie Land" von The Good, The Bad & The Queen (Tagesspiegel), das neue Album von Mumford & Sons (ZeitOnline), ein Konzert des Pianisten Grigory Sokolov (FR), ein gemeinsames Konzert von Gautier Capuçon, Lisa Batiashvili und Jean-Yves Thibaudet (NZZ), Mark Knopflers neues Solo-Album (Welt), ein Auftritt von Kylie Minogue (Standard), die Deluxe-Neuausgabe vom Weißen Album der Beatles (SZ) und ein Tschaikowsky-Abend mit den Russischen Nationalphilharmonikern in Frankfurt (FAZ).
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Kunst

Der Unternehmer Magnus Resch, Erfinder einer Kunst-App, die über Preise für Kunstwerke aufklärt, erzählt im Interview mit Monopol, wie die Daten der App ihn gelehrt haben, dass der Kunstmarkt von einem winzigen Netz - meist amerikanischer - Institutionen beherrscht wird: "Das Netzwerk ist undurchlässig - Aufstiegschancen gleich null. Fängt man einmal in der Insel an, bleibt man auch da. Der Kunstmarkt gleicht dem Kastensystem in Indien." Um auch anderen eine Chance zu geben, müssten staatliche Museen auch den Künstlern "Ausstellungen geben, die nicht von den Top-Galerien kommen. Das könnte in einem Äquivalent zu 'Blind Auditions' gemacht werden, so wie in amerikanischen Orchestern nicht selten offene Stellen besetzt werden. Oder durch eine Lotterie." Mit Umverteilung habe das nichts zu tun: "Es gibt keine Qualität in der Kunst. Das hat Duchamp mit seinem Urinal doch schon 1917 bewiesen. Wie kann ein Pissoir qualitativ hochwertige Kunst sein? Das ist doch Blödsinn. Umverteilung ist daher das falsche Wort. Ich nenne es Fairness und Gleichberechtigung".

Der Dokumentarfilmer Nathaniel Kahn, der sich für "The Price of Everything" mit prominenten Künstlern, Kritikern, Sammlern und Kunstverkäufern unterhalten hat, scheint Reschs These zu unterstützen, Angella d'Avignon vom Baffler hat der Film dennoch enttäuscht, zu undurchsichtig findet sie ihn. Auch weiche Kahn schwerwiegenderen Fragen aus: "Was ist in einem boomenden Markt, in dem selbst ein zweitklassiger da Vinci für eine halbe Milliarde Dollar verkaufen werden kann, ein Meisterwerk? Wenn ein Meisterwerk so leicht verwertbar ist, ist es dann noch ein Meisterwerk? Hat speziell für den Verkauf hergestellte Kunst einen inneren Wert, der über den Preis hinausgeht? In Kahns Modell werden Meister durch ihre Bewertung definiert, und ihre Bewertung wird von kulturellen Räuberbaronen bestimmt. Der Film positioniert sich als Lehrmittel, aber er beginnt eher wie eine Propaganda für die schrumpfende Kunstwelt zu funktionieren, die Kahn aufdecken wollte."

Im Perlentaucher-Fotolot schreibt Peter Truschner über ein aufregendes Buchprojekt des Autors Geoff Dyer, der chronologisch über hundert Bilder des großen Street-Fotografen Gary Winogrand nachdenkt. Auch um Wingrands Ethos als Fotograf geht es: "Über ein Foto aus Robert Franks ikonischem 'The Americans' an einer Tankstelle in Santa Fé sagt Winogrand, es sei für ihn eines der wichtigsten Fotos überhaupt, eine Fotografie im Grunde über nichts, ohne jede Handlung oder dramatisches Potenzial. In der Fotografie gehe es nur darum, bereits existierenden Dingen, die sich vor den eigenen Augen abspielen, einen Rahmen zu geben. Winogrand schafft es jedoch, einfachste Gesten - das Hochheben eines Stuhls - mit Bedeutung aufzuladen, was ihn von den weniger dramatischen Bildern von Frank oder Evans deutlich unterscheidet."

Besprochen werden eine Ausstellung mit Zeichnungen der Rembrandtschule im Berliner Kupferstichkabinett (taz), die Louise-Lawler-Ausstellung in der Galerie des Wiener Verbunds (Presse) und Christian Boltanskis Installation "Die Zwangsarbeiter" (sowie die Boltanski-Ausstellung "Erinnerungen, Souvenirs, Memories" in der Völklinger Hütte (FAZ).
Archiv: Kunst