Efeu - Die Kulturrundschau

Er haucht und schreit

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.11.2018. Zu Beginn der Vienna Art Week blickt der Standard auf den Kunstbetrieb, der zum Rattenrennen um die Aufmerksamkeit von Publikum, Museen, Sammlern und Kuratoren ausartet. Der Tagesspiegel will wieder über DDR-Kunst reden. Die FR blickt auf Abbas Kiarostamis antikontemplative Naturgedichte. Die SZ erlebt mit Karlheinz Stockhausens Schöpfungsoper "Donnerstag" in Paris den Dreiklang Raum, Klang und Licht. Und die Zeit lauscht verzückt John Grants Universalbeschimpungen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.11.2018 finden Sie hier

Kunst

Der Kunstmarkt hat ein riesigiges Problem, stellt Anne Kathrin Feßler im Standard und mit Verweis auf das Interview mit dem Ökonomen Magnus Resch in Monopol fest, die gigantischen Verkaufspreise konzentrieren sich auf das oberste ein Prozent, die Blue-Chip-Triple-A-Kunst. Der Rest buhlt um Aufmerksamkeit bei Publikum, Kuratoren und Museumsdirektoren. Aber, fragt Feßler zu Beginn der Vienna Art Week, kann die Eventisierung die Lösung sein? "Eventisierung ist nicht generell schlecht. Man betreibt Intensivierung statt Banalisierung." Aber: "Der Kunstbetrieb wird massiv von Aufmerksamkeitsfaktoren wie 'Prominenz' und 'Event' angetrieben. Der Promi als Kurator, wie beispielsweise Wes Anderson im Kunsthistorischen Museum, schafft sogar, beides zu vereinen. Die Kehrseite: Der Erfolg solcher Maßnahmen misst sich in Besucherzahlen. Aber die spröden Ziffern sind für Qualität kein zuverlässiger Indikator. Dennoch wird gezählt, was das Zeug hält."
In einem Interview im Standard befragt Feßler auch Art-Week-Chef Robert Punkenhofer über die Entwicklung der Kunstwoche vom Programm für Opinion-Leader zum Großereignis.

Harald Hakenbeck: Peter im Tierpark, 1960. Bild: Albertinum
Harald Hakenbeck, Rudolf Bergander, Hans Lachnit, Werner Tübke und Wolfgang Mattheuer: Das Dresdner Albertinum hat aus seinen Depots die DDR-Maler rausgeholt. Im Tagesspiegel findet Linda Buchholz, dass wir darüber reden sollten: "Ist die Zeit endlich reif für eine entkrampfte, differenzierte Begegnung mit der Kunst des verschwundenen Landes DDR? Für viele Besucher sind Werke wie der pausbäckige 'Peter im Tierpark' mit seiner blauen Jacke nicht einfach ein Stück Malerei, sei sie gut oder schlecht, und auch nicht bloß Dokumente sozialistischer Kunstpolitik. Es sind persönliche Erinnerungsspeicher, mit Identifikation aufgeladen. Der Junge mit den Kulleraugen gehörte, seit das Bild 1962 erstmals ausgestellt wurde, zu den absoluten Publikumslieblingen. Das Blau leuchtet optimistisch wie einst. Und sonst? Das Gespräch ist eröffnet."

Weiteres: In der taz unterhält sich Sarah Alberti mit der Kuratorin des deutschen Biennale-Pavillons Franciska Zólyom über die Künstlerin Natascha Sadr Haghighian, Marketing und die Reise des Steins zu Bayerns Ankerzentren.

Besprochen werden Andy-Warhol-Werkschau im New Yorker Whitney Museum (SZ), die Schau "As if" mit Zeichnungen Ralf Ziervogels in der Hamburger Sammlung Falckenberg (taz), die Tacita-Dean-Schau im Kunsthaus Bregenz (FAZ)
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Bühne

Stcokhausens "Donnerstag aus Licht" in Paris. Foto: Le Balcon

Das Pariser Musikerkollektiv Le Balcon hat zum ersten Mal einen Part aus Karlheinz Stockhausens Schöpfungsmythos "Licht" in Frankreich aufgeführt, den "Donnerstag". In der SZ ist Michael Stallknecht überwältigt von der Energie, die Dirigent Maxime Pascal entfacht: "Und das am Ende im Himmel gefeierte Messiasmeisterwerk besteht tatsächlich nur aus Licht, aus Laserstrahlen, die in einem Opernhaus des 19. Jahrhunderts tatsächlich noch immer futuristisch wirken. Wie überhaupt die Lichtregie von Christophe Naillet ebenso gleichberechtigt zum Abend beitragen darf wie alle anderen Parameter. Das mythologische Potenzial bei Stockhausen wird also nicht geleugnet, ereignet sich aber in konkreten Artefakten, als noch immer verblüffend innovativ wirkender Dreiklang von Raum, Klang und Licht."

Weiteres: Im Standard berichtet Margarete Affenzeller, dass Milo Rau nicht den dieses Jahr in Petersburg verliehenen Europäischen Theaterpreis entgegennehmen konnten, weil er kein russisches Visum bekam. Im Tagesspiegel kommentiert Rüdiger Schaper insgesamt recht erbost diesen einst feinen Preis, der von der EU-Kommission vergeben wird, aber inzwischen von der Stadt abhängt, die das Preisgeld übernimmt: " Also: Wer heute die Preisverleihung ausrichtet, bestimmt auch den Preisträger. Der Europäische Theaterpreis ist zu einer Propaganda-Schau verkommen." Jürgen Kesting gratuliert der Sopranistin Barbara Hendricks zum Siebzigsten.

Besprochen werden Robert Carsens Neuinszenierung von Engelbert Humperdincks "Hänsel und Gretel" am Opernhaus Zürich (NZZ), der Burkhard Kosminskis Saisonstart in Stuttgart mit Wajdi Mouawads "Vögeln" und Clemens Setz' "Abweichungen" (FAZ) und Saar Magals "Monteverdi Project" in der Berliner Staatsoper (Tagesspiegel).
Archiv: Bühne

Musik

Von allen depressiven Männern im Musikbiz ist John Grant eindeutig Jens Balzers Liebling: Nur Grant vermag es, seinen Menschenhass in die Welt hinaus zu singen, als handle es sich um ein Liebeslied, erklärt der Kritiker in der Zeit. Grants neues Album "Love is Magic" zeigt "Techno als écriture automatique. Schon im Eröffnungsstück 'Metamorphosis' steigert Grant sich in eine flammende Wutrede hinein, eine Thomas-Bernhard-hafte Universalbeschimpfung der Gegenwart, aus Zitaten und Wahrnehmungsfragmenten montiert. Er haucht und schreit, kiekst und brummt, manches klingt wie aus einem alten Monty-Python-Sketch, unter dem ein ebenso alter Rhythmuscomputer in rasendem Leerlauf rotiert. ... In der Popmusik der Gegenwart ist John Grant damit eine singuläre Figur, ein unheimlicher Künstler im Freudschen Sinne des Wortes: unbehaglich fremd und unbehaglich vertraut." Daraus ein Video:



In der SZ-Afropopkolumne erzählt Jonathan Fischer die abenteuerliche Geschichte, wie die Musik der somailischen Dur Dur Band wiederentdeckt wurde: Erst tauchte die Musik in einem MP3-Blog, dort allerdings anonym, da das zugrunde liegende Tape keine Beschriftung aufwies. Dies führte schließlich zu einer Reise nach Somalia, um dort unter Musikern Näheres zu erfahren - was schlussendlich zum Erfolg führte, da im Zuge auch die Mastertapes der Gruppe wieder auftauchten. Jetzt sind die Aufnahmen wieder regulär veröffentlicht: "ein Glücksfall für alle Fans afrikanischer Musik. ... Die Bläsersätze erinnern an Ethio-Jazz, die mit Wah-Wah-Gitarren aufgemotzten somalischen Folk-Hits an die Sorte Ethno-Funk, die heute von Hipstern in Brooklyn und London gefeiert wird. Mal entführt die Dur Dur Band mit polychromatischen Orgeln, Gitarren-Ostinatos und zackigen Bläser-Riffs ins schwitzende Gedränge eines örtlichen Nachtclubs, dann wieder lässt sie das zarte Melisma von Sahra Abukar Dawo über entspannte, Reggae-ähnliche Daantho-Rhythmen fließen." Und auf Bandcamp kann man das Album komplett hören:



Besprochen werden ein Konzert der Einstürzenden Neubauten im Pierre-Boulez-Saal (Tagesspiegel), Chick Coreas Konzert in Wien (Standard), Lisa Bassenges neues Album "Borrowed and Blue" (Tagesspiegel), Salewskis Album "Chansons" (SZ), das neue Album von Ernst Molden & das Frauenorchester (Standard), ein Konzert des Pianisten Andras Schiff (Tagesspiegel), ein Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters unter Robin Ticciati mit dem Violinisten Christian Tetzlaff (Tagesspiegel) und ein Auftritt von Kylie Minogue (FR).
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Film

Abbas Kiarostamis "24 Frames"
Arte zeigt online "24 Frames", einen experimentellen Dokumentarfilm aus dem Nachlass von Abbas Kiarostami. Zu Grunde liegen dem Werk 24 Fotografien des 2016 verstorbenen iranischen Filmemachers, die mit digitalen Mitteln zum Leben erweckt werden. "Wie im Theater - wie ja auch bei einem Bild - bleiben Ausschnitt und Perspektive stets unverändert", erklärt Simon Berninger in der FR. "Was sich ändert, bewegt und somit zur belebten Erinnerung des Fotografen wird, ist der so gerne festgehaltene Wellengang am kaspischen Meer, die Raben im Schnee oder auf der Straße, die durch die Leinwand ziehenden Hirsche in einer Winterlandschaft, über verschneite Felder galoppierende Pferde oder der Vogelzug über Industrielandschaften." Oder kurz: "Viereinhalbminütige visuelle Naturgedichte", wie Oliver Jungen in der FAZ erklärt. Dem Regisseur geht es allerdings "nicht um meditative Versenkung in die Natur, sondern um antikontemplativen Konstruktivismus", was mitunter Erinnerungen an Brueghel wachruft: "Kiarostami erlaubt es sich (und uns), mit kindlicher Phantasie ein Zentralwerk der Renaissance wachzuküssen. Auf verspielte Weise sind wir bei Heidegger gelandet: Was etwas ist, hat auch damit zu tun, zu was es wird. Sein und Zeit."

Weitere Artikel: Thomas Abeltshauser hat für die taz das Filmfestival in Thessaloniki besucht, wo Paola Revenioti mit ihrer Dokumentation "Kaliarda" Erinnerungsarbeit für die schwule Geschichte Griechenlands leistete. In Berlin diskutierten Doris Dörrie, Maryam Zaree, Angelina Maccarone und Verena Lueken über Frauen und Film, berichtet Christiane Peitz im Tagesspiegel. Jenni Zylka porträtiert im Tagesspiegel die Schauspielerin Eva Löbau. Martin Walder schreibt in der NZZ zum Tod des Filmemachers Yves Yersin. Ralf Schenk schreibt in der Berliner Zeitung einen Nachruf auf den DDR-Regisseur Günter Stahnke. Das US-BluRay-Label Criterion macht Wim Wenders' 1987 entstandenen Essay über seinen Film "Der Himmel über Berlin" online zugänglich.

Besprochen werden Hu Bos "An Elephant Sitting Still" (Tagesspiegel, unsere Kritik hier), Sam Levinsons Satire "Assassination Nation" (SZ) und das Serien-Remake von "Das Boot" (Welt).
Archiv: Film

Literatur

Christian Metz ärgert sich in der FAZ sehr über eine Passage in Martin Walsers Notate-Buch "Spätdienst", über die auch Helmut Böttiger in seiner Besprechung beim Dlf Kultur zumindest kurz stolpert. So heißt es bei Walser:

"Ostern, schönes Feuilleton / Aus Blut und Blüte / du, das feiern wir! / Statt Golgatha, Verdun und Auschwitz / lassen wir diesmal holzschnitthaft Hué / herkommen / und sagen keinem hierzulande nach, / dass er diesen Krieg andauernd billigt, / sagen das nicht der CDU nach, / die diesen Krieg andauernd billigt, / sagen das nicht der SPD nach, / die diesen Krieg andauernd billigt."

Woraufhin Metz donnert: "Auschwitz ist kein Phänomen, das man in eine Anadiplose einreihen kann. Es ist kein historisches Ereignis, das man auf Knopfdruck herkommen lässt oder wieder abbestellt, wenn es einem gerade nicht passt. ... Dass Walser die Schoa dann auch noch ausgerechnet unter dem Überbegriff eines zu 'feiernden Osterns' abhandelt, fügt der dumpfen Geschichtsrevision noch eine traurige Pointe hinzu: Der Massenmord an Juden soll eine ebensolche Engführung von Blut und Blüte sein, wie es die Ostererzählung des Christentums sei? Aufbruch und Vergehen in einem?"

Weitere Artikel: Die Schwedische Akademie wird den Literaturnobelpreisträger 2019 gemeinsam mit einem externen Gremium auswählen, meldet Thomas Steinfeld in der SZ. Julia Wasenmüller berichtet in der taz vom Open Mike Wettbewerb in Berlin.

Besprochen werden unter anderem Patrick Modianos "Schlafende Erinnerungen" (ZeitOnline), Eugen Gomringers "Poema. Gedichte und Essays" (Standard), eine Ausgabe von Hergés "Stups und Steppke" (Tagesspiegel), Matias Faldbakkens "The Hills" (NZZ) und Kaouther Adimis "Was uns kostbar ist" (SZ).
Archiv: Literatur