Efeu - Die Kulturrundschau

Mr. Raffinesse

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.11.2018. Die Filmkritiker entwickeln steile Thesen, um Lars von Triers Künstler-Killer-Film "The House that Jack Built" verreißen und gleichzeitig gut finden zu können. Die SZ spaziert begeistert durch eine Psychiatrieruine im belgischen Melle und lernt: So geht neue Architektur. Die nachtkritik erkundet, was in Ostdeutschland aus der Theater-Initiative #RefugeesWelcome wurde. In der FAS versichert Jean-Michel Jarre: Computer sind nicht seelenlos, die können Musik.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.11.2018 finden Sie hier

Film

Félix Maritaud in "Sauvage"

Insbesondere Hauptdarsteller Félix Maritaud macht Camille Vidal-Naquets exzellent recherchiertes, einfühlsam erzähltes, sein Publikum aber auch nicht schonendes Stricher-Drama "Sauvage" zur Sensation, schreibt Ekkehard Knörer in der taz: "Maritaud überlässt sich dieser Figur mit Haut und Haar, nackter als nur bis auf die Haut, ein Schauspieler, der nicht viele Worte braucht, der ganz körperlich spielt, aber mit einer sanften, entschiedenen Körperlichkeit, zärtlich oder sachlich beim Sex, ekstatisch im Tanz, einsam in der Nacht, die trotz dieser Einsamkeit oft in sehr warmen Farben gefilmt ist. (Andere Szenen sind dann sehr kühl, es ist ein Film der Temperaturen und Atmosphären.)"

"Von Trier zeigt uns den Mittelfinger" mit seinem neuen Film, der Serienkiller-Farce "The House that Jack Built", schreibt Cosima Lutz in der Welt (mehr zum Film bereits im gestrigen Efeu). Aber immerhin kann man dabei Spaß haben - insbesondere wenn die Filmkritik-Kollegen dem Film auf den Leim gehen, wenn sie der lancierten PR vom "hochintelligenten" Mörder als Künstler hinterherschreiben: "Überzeugt von der eigenen Grandiosität, nennt er sich 'Mr. Raffinesse'. Doch Jacks Anspruch und das Ergebnis seiner Taten stehen, anders als bei Lars von Trier, so kreischend im Widerspruch, dass 'The House That Jack Built' der vielleicht lustigste Film des Regisseurs geworden ist, eine bis zum expressiven Ende große Meditation über das Lächerliche, an dem alle Anteil haben, die die gefährlichsten Arschlöcher der Weltgeschichte nicht verstehen, aber bewundern und gewähren lassen, immer wieder aufs Neue."

Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche macht in von Triers drastischen Bildern "eine wohlkalkulierte Hybris" aus - hält das Gesamtprodukt aber dennoch für ein "hochgradig reflektiertes Referenzgeflecht." Zwar "strapazieren die steilen Thesen Jacks die Toleranz des Publikums erheblich, paradoxerweise hat man dennoch (...) nicht den Eindruck, dass es von Trier darum geht, um jeden Preis zu verstören. Er leidet bloß - zugespitzt formuliert - an seiner eigenen Genialität, und er lässt das Publikum an seinen inneren Zerwürfnissen teilhaben." Für taz-Kritikerin Barbara Schweizerhof ist Lars von Trier im Grunde genommen nur noch ein Troll. Und im Perlentaucher findet es Janis El-Bira "wirklich verstörend, dass Lars von Trier mit diesem Film vorerst seinen Platz unter jenen jammerlappigen männlichen Künstlerbiografien einnimmt, die ihr Verhältnis zur untergangsgeweihten Welt nur noch im Sinne einer hyperästhetisierten Uneigentlichkeit begreifen wollen. Edelfäule ist der entsprechende Aggregatszustand. Der Film widmet ihr inmitten des Mordens einen vielsagenden Exkurs entlang der unterschiedlichen Qualitäten von Dessertweinen. Eine Dekadenzmetapher aus dem alteuropäischen Herrenzimmer."

Weitere Artikel: In neuen Filmen von Alfonso Cuarón ("Roma") und Pawel Pawlikowski ("Cold War") sieht NZZ-Kritikerin Susanne Ostwald eine Renaissance des selbstbewussten Schwarzweißkinos heraufdämmern, das in seinem Farbverzicht nicht mehr alleine nur auf die Anmutung vergangener Medienepochen abzielt. Ekkehard Knörer wirft für die taz einen Blick ins Programm Berliner Filmreihe "Neues französisches Kino - Dokumentarfilme" , wo man unbedingt Jean-Luc Godards "Le Livre d'Image" sehen sollte. Besprochen werden Marcelo Martinessis "Die Erbinnen" (taz), die Serien-Neuverfilmung von "Das Boot" (FR), ein Dokumentarfilm über den Modedesigner Alexander McQueen (SZ) und die von Arte online gestellte Serie "Die Wege des Herrn" (FAZ).
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Bühne

Sophie Diesselhorst erkundet für die nachtkritik, was in Ostdeutschland aus der Theater-Initiative #RefugeesWelcome wurde. Bei einigen Theatern hat ein Umdenken stattgefunden, Konfrontation ist nicht mehr so angesagt, lernt sie: "Auch am Europäischen Zentrum der Künste Hellerau gibt es ein neues Willkommens-Plakat, auch hier ist es etwas neutraler formuliert als 2015. So wie in Cottbus das provozierend einladende 'Verweile doch' weggefallen ist, kommt in Hellerau das Reizwort 'Refugees' nicht mehr vor; es heißt jetzt nur noch 'Willkommen', in 23 Sprachen. 'Die Situation jetzt ist eine andere als 2015 und wir hören von Geflüchteten und Migrant*innen, dass sie den ewigen Stempel der Geflüchteten so nicht mehr tragen möchten', schreibt Carena Schlewitt, die Hellerau seit dieser Spielzeit künstlerisch leitet. Man wolle jetzt 'neue Formen der Begegnung schaffen': 'Uns interessieren generell verschiedene Bevölkerungsgruppen, auch die Frage, wie 'alte' Migrationsgruppen und neue Migrant*innen in der Stadtgesellschaft zusammenkommen können.'"

Besprochen werden Hans Eschers Inszenierung von Esteve Solers Stück "Gegen die Freiheit" (Contra la llibertat) beim europaweiten Dramenaustausch am Werk X in Wien (nachtkritik), Mozarts "Bastien und Bastienne" sowie Zemlinskys "Florentinische Tragödie" an der Oper Halle (nmz), Wagners Ring an der Oper am Rhein (FR), Barockmusik von Rameau in der Berliner Staatsoper (FAZ), Oliver Frljićs Stuttgarter Inszenierung von "Romeo und Julia" (SZ) und Marie-Theres Arnboms Buch "'Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt'. Aus der Volksoper vertrieben - Künstlerschicksale 1938" (Standard).
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Architektur

Blick in den Eingang der Psychiatrie von Melle. Mehr Bilder bei Domus
Laura Weißmüller spaziert für die SZ begeistert durch eine neue Psychiatrie im belgischen Melle: Das Dach ist nur ein abgedecktes Gerüst, Rahmen fehlen in Fenster und Türen, nirgends Putz, dafür ein offener Kamin mit Feuerholz und im Erdgeschoss wachsen ein Baum und eine Straßenlaterne aus dem Schotter. Was ist das, eine Ruine? Ja, aber eine mit wenig Geld umgenutzte, die auf Standards pfeift: "'So, wie Sie das Gebäude jetzt erleben, haben wir es vorgefunden', sagt Jan de Vylder mit Blick durch das offene Dach. Der belgische Architekt hat mit seinem Büro De Vylder Vinck Tailieu (DVVT) in Melle bei Gent den 'Josef' - wie hier alle den Backsteinbau nur nennen -, ja, was? Saniert trifft es nicht und umgebaut auch nicht. 'Wir wollten das Skelett des Gebäudes erhalten, damit es später vielleicht ganz anders genutzt werden kann. ... Wir müssen neu darüber nachdenken, wie wir die Dinge nutzen können, die wir haben.'" Die Ärzte jedenfalls sind von dem neuen Gebäude sehr angetan, meint Weißmüller, die diese alle Regeln sprengende Architektur befreiend findet.
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Kunst

Im Standard stellt Anne Katrin Fessler die Künstlerin Anna Witt vor, die in diesem Jahr mit dem Otto-Mauer-Preis ausgezeichnet wurde. Kerstin Holm besucht für die FAZ das vom Oligarchen Abramowitsch gegründete, heute über eine Privatstiftung finanzierte Museum Garage in Moskau, wo derzeit eine Retrospektive Marcel Broodthaers' stattfindet.

Besprochen werden eine Retrospektive Ernst Caramelles im Wiener Mumok (Presse) und die Ausstellung "Syria Matters" im Museum für Islamische Kunst in der katarischen Hauptstadt Doha (Tagesspiegel).
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Literatur

Besprochen werden Edoardo Albinatis "Die katholische Schule" (online nachgereicht von der Zeit), die Ausstellung "Thomas Mann in Amerika" im Literaturmuseum der Moderne in Marbach (online nachgereicht von der FAZ), Catherine Meurisses Comic "Olympia in Love" (Tagesspiegel), Wladimir Kaminers "Die Kreuzfahrer" (Tagesspiegel), Natasha Staggs Debüt "Erhebungen" (SZ) und Linn Ullmanns "Die Unruhigen" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Musik

Die FAS hat das Gespräch zwischen dem jungen französischen Synthie-Popper Flavien Berger und dem Altmeister der Synthesizer-Musik Jean-Michel Jarre online nachgereicht. Jarre verbreitet darin unbekümmerten Optimismus: Auf seinem neuen Album "Equinoxe Infinity", eine Fortsetzung seines vor genau 40 Jahren erschienenen Albums "Equinoxe", geht es ihm "um eine ganz grundsätzliche Auseinandersetzung mit künstlicher Intelligenz, die wir in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren bewältigen müssen. Ich bin überzeugt, dass Algorithmen echte Musik, echte Drehbücher und Romane schreiben können. Die Leute haben Angst davor und sagen, das passiert niemals, weil der Computer seelenlos sei. Das ist Bullshit. Neulich ist bei Christie's ein komplett computergeneriertes Bild für 432000 Dollar versteigert worden. Ich habe auch versucht, mit einem Algorithmus zu arbeiten, das klingt aber noch wie eine Kopie eines Songs von Michael Jackson. Aber in ein paar Monaten wird es klappen. Und das ist großartig. Davor muss man keine Angst haben. Das wollte ich auch ausdrücken. Alle Generationen denken, dass die Vergangenheit besser war und die Zukunft schlimmer wird. Aber wenn du zurückblickst, war es immer umgekehrt." Diese Auseinandersetzung klingt denn schlussendlich so:



Weitere Artikel: In der NZZ stellt Angela Schader die Arbeit der Luthiers Sans Frontières vor, die unter anderem in Haiti und anderen Regionen der globalen Peripherie Kompetenzen in Sachen Geigenbau und -reparatur vermittelt - wobei für letzteres, wie Schader und damit der Leser staunend erfährt, insbesondere getrocknete Mangoblätter ganz besonders gut geeignet sind. Besprochen werden das neue Album von Soap & Skin (taz), ein Schubert-Konzert der Pianistin Mitsuko Uchida (Tagesspiegel), ein Konzert des Pianisten Louis Schwizgebel (NZZ), ein Bildband über 20 Jahre West-Eastern Divan Orchestra (Tagesspiegel) und ein Auftritt von The Prodigy (Tagesspiegel).
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