Efeu - Die Kulturrundschau

Was so abgeht in den Köpfen

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03.12.2018. Die SZ lernt in der Ausstellung "Megalopolis" im Leipziger Grassi-Museum, dass Kunst aus dem Kongo eigentlich immer noch in europäischen Museen endet. Außerdem erahnt sie das prohetische Potenzial von Ezra Pound. Die FAZ meint: Die Bibliothek der Zukunft steht in der Wüste von Katar. Politik als Rhetorik beobachten taz und Tagesspiegel in Marie Wilkes Dokumentarfilm "Aggregat". Die NZZ will nur eine Diva verehren, die ihr ernsthaft mit Liebesentzug drohen kann.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.12.2018 finden Sie hier

Kunst

Azgard Itambo, Fotoserie Code K.I.N., 2018


Das Leipziger Grassi-Museum zeigt in seiner Ausstellung "Megalopolis" aufregende Künstler aus dem Kongo. Tolle Idee, findet Burkhard Müller in der SZ, auch die Kunst sei wirklich aufregend. Schade nur, dass kaum einer der Künstler nach Deutschland einreisen beziehungsweise aus dem Kongo ausreisen konnte. Und noch etwas ist und bleibt ungut: "Es spiegelt sich in dieser Kunst eine Gesellschaft der Bricolage, die Skulpturen und auch die Installationen wirken überwiegend wie Improvisationen über das Material, das der Alltag anspült. Die Künstler setzen, wie man hört, große Hoffnungen in ihren europäischen Auftritt. Im Kongo gibt es so gut wie keinen Kunstmarkt, keine Galerien, keine Öffentlichkeit als Trägerin einer entsprechenden Szene. Sie möchten in Europa entdeckt und gehandelt werden. Und so bestünde der größte Erfolg für die Ausstellenden darin, dass sich mit ihrem Werk das Schicksal der Nagelfetische aus der Zeit vor hundert Jahren wiederholt: dass die afrikanischen Kunstobjekte in die Sammlungen Europas wandern."

Im Tagesspiegel sieht Christiane Peitz sehr grundsätzliche Fragen aufgeworfen durch den Rechtsstreit um Nathalie Brau Barends' Werk "Hhole" in der Kunsthalle Mannheim, das aus einer Installation am Museumsbau selbst besteht und den Umbauten zum Opfer gefallen ist: "Hier wurde nicht aus Versehen oder Ignoranz ein Kunstwerk beseitigt, sondern weil die Umgebung, die Architektur sich verändert hat. Hat die Künstlerin ein Recht darauf, dass ihre situative Arbeit am neuen Ort wieder errichtet wird?"

Weiteres: Boris Pofalla empfiehlt in der Welt die Schau mit David Lynchs Malerei im Maastrichter Bonnefanten Museum. Jonathan Fischer berichtet von der Biennale in Casablanca.
Archiv: Kunst

Bühne


Maria Callas als Hologramm

Künftig werden uns wohl zahlreiche Untote der Musikgeschichte auf der Bühne beehren, prophezeit Michael Stallknecht, der für die NZZ ein Konzert der 1977 verstorbenen, im aufwändigen Hologramm-Verfahren wiederbelebten Maria Callas besucht hat: Möglich machen es Schauspieler, die Callas' Bewegungen einstudiert haben und auf deren Performance dann das Gesicht der Künstlerin digital aufgesetzt wird. Freilich geht es - noch - gespenstisch zu, erklärt Stallknecht: So "verbeugt sich die Callas manchmal noch ausgiebig, während sich im Saal längst keine Hand zum Beifall mehr rührt." Sicher wird man dies künftig per Simultansteuerung in den Griff kriegen, überzeugender wird es damit für ihn nicht: "Tonaufnahmen überwinden die Sterblichkeit der Stimme partiell, weil sie die aktive Imagination des Hörers einfordern. Dem Hologramm gegenüber bleibt der Zuschauer passiv, weil es selbst nicht aktiv mit ihm spielt. Es droht den Liebesentzug an, ohne ihn vollziehen zu können, was die Gesten, das überbordende Pathos der Stimme zur Lächerlichkeit verdammt."

Besprochen werden Barbara Freys Inszenierung von Alan Ayckbourns Weihnachtskomödie "Schöne Bescherungen" am Wiener Burgtheater (Standard, NZZ, FAZ), Horváths "Glaube Liebe Hoffnung" als patriarchales Horrorstück am Münchner Volkstheater (SZ), Luk Percevals Meditation "Mut und Gnade" am Frankfurter Schauspiel (die Judith von Sternburg in der FR recht lakonisch die "begrenzten Bewegungsspielräumen von Menschen im flachen Wasser" erkennen lässt, Nachtkritik, FAZ), Tracy Letts' "Wheeler" am Berliner Ensemble (Nachtkritik), das Mapa Teatro aus Bogotá mit seinem Stück "La Despedida (Der Abschied)" im Frankfurter Mousonturm (FR), Werner Schwabs Stück "Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos" am Wiener Akademietheater (taz), Michael Thalheimers Inszenierung von Heiner Müllers Shakespeare-"Macbeth" im Berliner Ensemble (Tagesspiegel), "Hoffmanns Erzählungen" an der Deutschen Oper Berlin (Tagesspiegel, Berliner Zeitung, taz), Ersan Mondtags wilde Beabreitung von Thomaspeter Goergens "Salome" am Maxim Gorki Theater Berlin (Nachtkritik), Rameaus Barockoper "Hippolyte et Aricie" mit Simon Rattle und dem Freiburger Barockorchester in Berlin (die Reinhard Brembeck in der SZ "magisch" fand).
Archiv: Bühne

Film



Überaus sehenswert finden die Filmkritiker Marie Wilkes Dokumentarfilm "Aggregat", der dem medialen Alltagsgeschäft politischer Rhetorik nachgeht, also dem "Sprachhandeln", wie Matthias Dell im Tagesspiegel schreibt: "Die Kamera von Alexander Gheorghiu schaut mit gewissem Abstand auf die unspektakulären Szenen. So wird deutlich, woraus Politik besteht, aus Rhetorik. Es geht darum, eine Sprache zu entwickeln, die die Lage beschreibt, die Handlungen vorausgeht, Macht erkennen lässt. In 'Aggregat' kann man dem Denken und Meinen zuschauen, dem Akt des Formulierens. Man kann sehen, wo die Sprache Wirklichkeit nicht abbildet, sondern sie selbst entwirft. ... 'Aggregat' führt vor, wie viel man mit Abstand erkennen und verstehen kann - wenn man einmal nicht der Faszination des Draufhaltens aus der ersten Reihe erliegt."

Einen Dokumentarfilm jener Sorte, "die alles anders macht als etwa Michael Moore, aber das mit Sorgfalt, Bedacht und großer Inspiration", sah taz-lerin Barbara Schweizerhof. "Die unterkühlte äußere Form mag darüber hinwegtäuschen, wie stark das Engagement der Filmemacherin, ihres Kameramanns Alexander Gheorghiu und ihres Co-Cutters Jan Soldat tatsächlich ist: Ihnen gelingt mit 'Aggregat' eine präzise wie erhellende Bestandsaufnahme des gegenwärtigen politischen Diskurses in der Bundesrepublik, dessen, 'was so abgeht in den Köpfen'." Weitere Besprechungen im Freitag und im Perlentaucher.

Weitere Artikel: In Artforum gibt John Waters seine Filme des Jahres bekannt. Besprochen werden Erik Lemkes Dokumentarfilm "Berlin Excelsior" (SZ) und neue Heimmedien, darunter eine DVD zu Wolf-Eckart Bühlers Porträtfilm "Leuchtturm des Chaos" über den Hollywood-Schauspieler Sterling Hayden (SZ, mehr zum Film hier).
Archiv: Film

Musik

In der SZ rückt Diedrich Diederichsen, ehemalige Chefredakteur der Spex, einige Missverständnisse gerade, die in den Nachrufen auf die einst tonangebende Musikzeitschrift laut wurden: Den Befund, dass in Zeiten des Internets der obsessive Musiknerd seine Funktion als Gatekeeper verloren habe, findet er nicht wirklich schlagend. Niemand habe die Spex gekauft, um sich über die Neuerscheinungen zu informieren: Vielmehr "wurde in Spex gelebt, intensiver als anderswo, dass ein Kunstgespräch (und damit der Kern von Rezeption und die Keimzelle jedes Kulturlebens) aus Urteilen besteht, wohl abgewogenen und kühn hingeworfenen, verantwortungslos präpotenten und geduldig begründeten - und natürlich sind all diese Urteile auf die Dauer haltlos. Das Gespräch aber, das sie ermöglichen, ist - mindestens - der Sinn des Lebens."

Weitere Artikel: Manuel Brug hat sich für die Welt mit Cecilia Bartoli getroffen, die mit umfangreichen Veröffentlichungen eine Art Rückschau auf ihr Werk hält. In der Jungle World berichtet Robert Henschel vom Überjazz-Festival, wo unter anderem Pharoah Sanders aufgetreten ist. Für die Spex spricht Franziska Kreuzpaintner mit Colin Self. Florentin Schumacher porträtiert in der FAS den Rapper Kelvyn Colt. In der Austropop-Reihe des Standard erinnert Karl Fluch an Peter Cornelius. Für Pitchfork holt Larry Fitzmaurice Daft Punks Debütalbum "Homework" wieder aus dem Schrank. Jörg Wunder gratuliert im Tagesspiegel Ozzy Osbourne zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Julia Holters Berliner Konzert (Tagesspiegel), Gérald Totos Album "Sway" (taz), Neil Youngs "Songs for Judy" mit Aufnahmen von 1976 (Pitchfork), eine Neuauflage von Bauhaus' "The Bela Sessions" (Pitchfork), ein konzertanter Opernabend mit dem hr-Sinfonieorchester (FR) und Paul McCartneys Auftritt in Kopenhagen (taz).
Archiv: Musik

Literatur

Für die SZ besucht Thomas Steinfeld die Brunnenburg in Tirol, wo Ezra Pound die letzten seiner 120 Cantos geschrieben hat. Dieser Dichter, der wegen seiner Sympathie für den Faschismus lange geächtet war, erscheint heute fast prophetisch, in seinem Widerstand gegen eine destruktive Moderne, im Durcheinander von linken und rechten Ideen: "Ezra Pound hielt den Faschismus für eine Widerstandsorganisation gegen das Kapital, eine Agentur der ehrlichen Arbeit. Und er war damit bei weitem nicht allein: Sympathien für den Faschismus, vor allem für dessen italienische Variante, hatten noch in den Dreißigern viele Intellektuelle gehegt, Sigmund Freud und Winston Churchill, Emil Ludwig und Hermann Graf Keyserling, um von Wyndham Lewis und dessen Bewunderung für Adolf Hitler gar nicht anzufangen. Dem faschistischen Staat wurde zugetraut, das (internationale) Kapital zu bändigen, das vielfach, so auch von Ezra Pound, für den Ersten Weltkrieg verantwortlich gemacht wurde. Dieser Staat, hoffte man, würde durch ein verlässliches Grundeinkommen für jeden Bürger sorgen und einen sozialen Zusammenhalt schaffen, im Rückgriff auf Altes und Ältestes, das wiederhergestellt werden sollte, eines darin irgendwie enthaltenen utopischen Glücksversprechens wegen."

Im Standard freut sich Elias-Canetti-Übersetzer Kristian Wachinger über das Privileg, von den Nachkommen des Schriftstellers Zugang zum persönlichen Dokumentfundus erhalten zu haben: "Es liegen mehr als 10.000 Computerseiten vor, und wo man reinschaut, liest man sich fest. Außer wichtigen Seitenstücken zu den einzelnen Werken gibt es Komplexe, die noch gar nicht gedruckt sind, so etwa kleine Prosa und Gedichte, aber auch ein Opernlibretto, und vor allem das riesige Aufzeichnungen-Werk, das es an Bedeutung mit Lichtenbergs 'Sudelbüchern' aufnehmen kann."

Weitere Artikel: Zum Auftakt der neuen Georges-Simenon-Ausgabe würdigt jetzt auch Claudia Mäder den Schriftsteller als emphatischen Autor, der das Menschsein wie kaum ein zweiter konsequent durchdrungen hat.  Anlässlich des Kinostarts von Pernille Christensens Biopic "Astrid" erzählt Hanna Herbst im Standard, unter welchen Umständen Kinderbuchautorin Astrid Lindgren aufgewachsen ist. Julia Encke spricht in der FAS mit den Macherinnen und Macherinnen der Literatur- und Musikzeitschrift Das Wetter, die ihr fünfjähriges Bestehen feiern kann. Der Kurier plaudert mit Benjamin von Stuckrad-Barre. Gerrit Bartels (Tagesspiegel) und Jan Wiele (FAZ) gratulieren Schriftsteller T.C. Boyle zum 70. Geburtstag, den dieser gestern feiern konnte.

Besprochen werden unter anderem A.L. Kennedys "Süßer Ernst" (Tagesspiegel), Liv Strömquits Comic "Der Ursprung der Liebe" (Standard) und Delphine de Vigans "Loyalitäten" (Freitag),

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans Christoph Buch über Du Fus "An den Dichter Pi Su Yao":

"Wir haben Talent. Man nennt uns die
führenden Dichter der Gegenwart. Schade,
..."
Archiv: Literatur

Architektur

Die Nationalbibliothek von Katar. Foto: OMA 

FAZ
-Kritiker Stefan Trinks erlebt in Katar die Bibliothek der Zukunft als "multisensuelles Eindruckstheater". Rem Koolhaas hat sie mit seinem OMA-Büro gebaut, ein weißes Marmormeer kühlt den Boden wie in der große Moschee von Damaskus, und es gibt fast so viele E-Books zum Ausleihen wie gedruckte Bücher: "Der eigentliche Geniestreich aber ist in den Boden eingetieft und nach oben offen: Es öffnet sich damit ein Geschichtsarchiv, das 'Heritage Area' genannt wird. Zwischen Wänden aus edlem iranischem Travertin, der als geschichtetes Sedimentgestein bereits auf den ersten Blick 'Geschichte' anzeigt, sind in Vitrinen die Anfänge der arabischen Schrift mit auf Purpurblau geschriebenen Koranhandschriften, frühen Büchern auf Papier aus dem zwölften Jahrhundert und anderen bibliophilen Kostbarkeiten der arabischen Halbinsel ausgestellt, kombiniert mit ebenfalls mit Schrift überzogenen seltenen Schalen oder wissenschaftlichen Instrumenten."
Archiv: Architektur